Gegenkulturelle Tendenzen im postdramatischen Theater. Koku G. Nonoa
von Kultur laden z.B. zu entsprechenden Produktions- und Rezeptionsformen im Theater ein. Dabei geht es um die „Umgestaltung bestehender Denk- und Handlungsformen“1 in der Theaterforschung und -praxis, welche im postdramatischen Theater die Widerspiegelung der gegenwärtigen Kulturinterferenzen nicht nur als „Kultur-im-Zwischen“,2 sondern auch über das „Denken-wie-üblich“3 hinaus als „Projekt“ und konsequenterweise als „Prozess“4 analysiert. Einige Merkmale postdramatischen Theaters, die für diese Arbeit relevant sind, bauen auf Voraussetzungen von Prozess, Dazwischen, Unbestimmbarkeit und Unentscheidbarkeit auf. Aufgrund der performativen Infragestellung sowie Dekonstruktion binärer Denkmuster5 als eine künstlerische Strategie lässt sich zudem beobachten, dass sich tradierte Wahrnehmungskategorien nicht mehr eignen, um Kunst von Nichtkunst zu unterscheiden. In dieser Hinsicht überzeugt die Annahme im Kontext postdramatischer Ästhetik, dass der Autonomisierung bzw. der Freiheit der Kunst zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden. Insofern wird die nicht mehr eindeutige Bestimmbarkeit sowie Entscheidbarkeit, ob es sich bei einem inszenierten Ereignis um Kunst handelt oder nicht, geradezu zu einem Kriterium für Kunst.6 Viele künstlerische Schauplätze der nicht a priori distraktionsorientierten Gegenwartskunst „scheinen sich nämlich […] dem Vergleich mit der Kunst der Vergangenheit zu entziehen, weil sie sich […] nicht mehr eindeutig vor den Hintergrund je einer Tradition (der Musik, der Malerei, der Bildhauerei, der Literatur usw.) lesen und beurteilen lassen.“7 Folglich ist es in der Auseinandersetzung mit solchen künstlerischen Entwürfen aufschlussreich, sich von dominanten Wahrnehmungsgewohnheiten und Urteilskriterien zu emanzipieren. Durch ihre unklaren Grenzen zur nichtästhetischen Lebenswelt bzw. durch die Unklarheit darüber, welche Elemente überhaupt noch zur Inszenierung zu zählen sind,8 sind unter anderem Nitschs Orgien-Mysterien-Theater und Schlingensiefs Aktion 18, „tötet Politik!“ prägnante Beispiele von gegenkulturellen Tendenzen postdramatischer Gestaltungsformen. Im nächsten Schritt wird auf theoretische Überlegungen und Begriffserklärungen, an die sich die Analyse in dieser Arbeit stark anlehnt, eingegangen: cultural performance und cultural celebration, Institution Kunst/Theater, Institutionskritik, Kultur als Institution, Kult- und Ausstellungswert von Kunst.
1.5.1. Theater als Kunst und Ästhetik des kulturellen Zelebrierens
In dieser Arbeit wird Theater als künstlerischer Funktionsmodus bzw. als ästhetischer Bereich des kulturellen Zelebrierens und des Synkretismus definiert. Zugleich ist Theater als eine Widerspiegelung von und Reflexion über Kultur zu verstehen. Um diese Sachlage zu veranschaulichen, wird auf das Konzept von Performance rekurriert.
Das Konzept der Performance geht, wie Erika Fischer-Lichte bemerkt, auf den Oxforder Linguisten John L. Austin zurück, der 1955 an der Harvard University mit seinen Vorlesungen How to Do Things with Words / Zur Theorie der Sprechakte (1961/62 veröffentlicht) das Paradigma der Performance einführte.1 Im Sinne von Austin bezieht sich das Paradigma der Performance auf den Bereich sprachlicher Äußerungen bzw. auf den ‚performativen Sprechakt‘. Das sind solche Sprechakte, mittels derer durch bestimmte (teilweise formelhafte) Verben/Ausdrücke Handlungen (wie Taufe, Eheschließung) unter konventionellen Voraussetzungen vollzogen werden.2 Die so vollzogenen Handlungen sind „selbstreferenziell“ und „wirklichkeitskonstituierend“.3 Mit Sybille Krämer wird festgehalten,
dass in der sprachtheoretischen Spezifizierung des Performativen drei Gradierungen unterscheidbar werden: (1) das ‚schwache Performanzkonzept‘ bezieht sich auf die Handlungs- und Gebrauchsdimension aller Rede, insofern diese als propositional-performative Doppelstruktur gefasst wird. (2) Das ‚starke Performanzkonzept‘ artikuliert die Konstitutionsleistung symbolischer Handlungen, insofern diese das, was sie bezeichnen, zugleich auch tun. (3) Das ‚radikale Performanzkonzept‘ ist operativ-strategisch zu verstehen: Indem das Performative als die eine Seite eines binären Schemas auftaucht, kann es zur Destabilisierung und Dekonstruktion eben dieses klassifikatorischen Schemas verwendet werden und – als subversive Kraft – auf die Grenzen von dichotomischen Begriffsbildungen verweisen.4
An dieser Stelle ist es nötig, wichtige Grundannahmen in Bezug auf das Performanzkonzept, das für diese Arbeit von Bedeutung ist, festzuhalten:
1) Performanz als Vollzug bzw. Konstruktion von Wirklichkeit, die auf sich selbst verweist: Unter diesem wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferenziellen Merkmal ist auch bezüglich der Sprechakte die performative Erfindungs- bzw. Konstruktionsfähigkeit von Sprache (in allen ihren Varianten) oder Diskursen einzuschließen. Das veranschaulicht Fischer-Lichte, wenn sie formuliert, dass der Begriff des Performativen bestimmte Handlungen bezeichne, „die nicht etwas Vorgegebenes ausdrücken oder repräsentieren, sondern diejenige Wirklichkeit, auf die sie verweisen, erst hervorbringen. Sie entsteht, indem die Handlung vollzogen wird. Ein performativer Akt ist ausschließlich als ein verkörperter zu denken.“5
2) Performanz gilt als operativ-strategische Methode, die theoretisch und praktisch konventionelle Grenzen überschreitet. Barbara Kirshenblatt-Gimblett unterstreicht diesen methodischen Aspekt von Performanz in Bezug auf die Performance Studies:
The field of Performance Studies takes performance as an organizing concept for the study of a wide range of behaviour. A postdiscipline of inclusions, Performance Studies sets no limit on what can be studied in terms of medium and culture. Nor does it limit the range of approaches that can be taken […]. Performance Studies starts from the premise that its objects of study are not to be divided up and parcelled out, medium by medium, to various other disciplines – music, dance, dramatic literature, art history. The prevaluating division of arts by medium is arbitrary, as is the creation of fields and departments devoted to each.6
Dieses Zitat, das vieles über die operativ strategische Methode von Performanz aussagt, lässt sich auf diese Arbeit übertragen, die sich fachübergreifend und transkulturell mit grenzüberschreitenden Theaterformen auseinandersetzt.
Die folgenden beiden letzten Anhaltspunkte des Performanzkonzepts betreffen den sozialen und ästhetischen Auf- und Ausführungscharakter von Kultur in allen ihren Variationen.
3) Performanz im Dienst der Ästhetik des kulturellen Zelebrierens: Die verschiedenen Konzeptualisierungen von Kultur (Interkulturalität, Multikulturalität, Transkulturalität etc.) sind diskursive und abstrakte Perspektivierungen unterschiedlicher kultureller Auffassungen, die zuerst über Auf- sowie Ausführungen konstruiert und dann beobachtbar bzw. erfahrbar werden. Das jeweilige internalisierte Verständnis von Kultur, Inter-, Trans- oder Multikulturalität wird erst im Zeitverlauf individuell und/oder kollektiv in der Gesellschaft performativ vorgeführt bzw. weiter übertragen. Ohne die Träger kultureller Aus- und Aufführung sind keine beobachtbaren und erfahrbaren kulturellen Praktiken möglich. Der amerikanische Kulturanthropologe Milton Singer spricht in diesem Zusammenhang von cultural performance in Bezug auf die kulturellen Eigenschaften der indischen Brahmanen:
Whenever Madrasi Brahmans (and non-Brahmans, too, for that matter) wished to exhibit to me some feature of Hinduism, they always referred to, or invited me to see, a particular rite or ceremony in the life cycle, in a temple festival, or in the general sphere of religious and cultural performances […]. I found that the more abstract generalizations about Hinduism (my own as well as those I heard) could generally be checked, directly or indirectly, against these observable performances. The idea then occurred to me that these performances could be regarded as the most concrete observable units of Indian culture, the analysis of which might lead to more abstract structures within a comprehensive cultural system.7
Mit dem Begriff cultural performance beschreibt Singer in den ausgehenden 1950er-Jahren „the most concrete observable units of culture“ und „particular instances of cultural organization, e. g. weddings, temple festival, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“8 Es ist in dieser Studie festzuhalten, dass die cultural performance unabdingbar ist, damit eine Kultur dynamisch und beschreibbar wird. Die Idee der cultural performance ähnelt einem Theaterereignis, das nicht ohne performative Aufführung unter gleichzeitiger Anwesenheit von Schauspieler_innen und Zuschauer_innen am selben Ort auskommt. Aus diesem performativen Blickwinkel ist Fischer-Lichte zuzustimmen, dass die cultural performance ein dynamischer Prozess ist, der die Wirklichkeit,