Der Arzt vom Tegernsee Staffel 4 – Arztroman. Laura Martens
wartete sie jedoch darauf, daß Gero anrief. Aber das Telefon schwieg. An das Versprechen, das sie Frau Katharina gegeben hatte, dachte sie nicht mehr.
Was sollte sie aber sonst tun? Sie war verzweifelt, und ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Das Gejammer und Streiten der Kinder zerrte an ihren Nerven, doch sie war nicht fähig zu reagieren. So herrschte im sonst so sauberen und freundlichen Haus der Familie Ebert das Chaos. Frauke erledigte nur die allernötigste Hausarbeit. Es war fast ein Wunder, daß ihr überhaupt auffiel, daß ihre Tochter bei jedem Bissen, den sie zu sich nahm, würgte. Genervt schrie sie diese an:
»Hör mit diesem Theater auf! Ich falle nicht länger darauf herein. Diesmal bleibst du sitzen, bis du alles aufgegessen hast.«
»Ich kann nicht!« Meike schossen die Tränen in die Augen.
»Iß!« Frauke schob den noch immer vollen Teller weiter unter die Nase ihrer Tochter.
Meike versuchte, nicht auf den Teller zu sehen. Doch dieses Mal war die Mutter unerbittlich.
»Los! Wenn du jetzt nicht ißt, dann stopfe ich dir jeden Bissen selbst in den Mund.«
Meike wollte die Mutter nicht ärgern. Sie griff zur Gabel, aber als sie ein Stücken der Pommes frites aufspießte, kam ihr bereits alles wieder hoch. Schnell preßte sie die Lippen aufeinander.
»Was soll das? Mach endlich deinen Mund auf!« Frauke nahm die Hand ihrer Tochter und führte diese mit dem Kartoffelstückchen zum Mund. Da konnte Meike nicht mehr anders, sie übergab sich.
Entsetzt sprang Frauke auf, ihr Zorn legte sich schlagartig. Ihre Tochter würgte und würgte, aus ihrem Mund kam nur eine grünliche, schleimige Flüssigkeit. Ihr wurde bewußt, daß Meike in den letzten Tagen kaum etwas gegessen hatte. Sie hatte versagt, auch als Mutter hatte sie versagt. Sie nahm Meike in die Arme, die jetzt von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Auch sie zitterte, trotzdem versuchte sie jetzt, ihre Tochter zu beruhigen.
»Ich kann nicht, Mami! Ich kann wirklich nichts essen.« Erneut begann Meike zu würgen. Aber da ihr Magen leer war, kam nichts mehr heraus.
Frauke, die sich selbst kaum noch auf den Beinen halten konnte, führte ihre Tochter ins Badezimmer und begann dort, ihr das Gesicht zu waschen. Auch das beschmutzte T-Shirt zog sie ihr aus. Wie blaß und durchscheinend Meikes Gesichtchen war! Eigentlich waren da nur die großen
dunklen Augen, die jetzt überliefen. Zum ersten Mal bemerkte Frauke auch die hervorstehenden Rippen. Ihre Tochter war wirklich nur noch Haut und Knochen. Was hatte Frau Katharina gesagt? Dr. Baumann wollte ihre Kinder untersuchen? Natürlich! Ihm war aufgefallen, wie schlecht Meike aussah. Wie hatte es nur soweit kommen können! Ihre Kinder waren doch immer ihr ein und alles gewesen. Sie zog Meike noch enger an sich, und nun weinte auch sie.
»Mami, Mami!« Florian begann zu schreien. Zuerst hörte Frauke ihn gar nicht, doch dann ertönte ein lautes Klirren, und als sie mit ihrer Tochter ins Eßzimmer kam, sah sie, daß Florian einen Teller und eine Tasse zu Boden geworfen hatte.
»Aber Florian, was soll denn das?« Verzweifelt rang Frauke die Hände. Was war nur aus diesem lieben Kind geworden?
»Ich will auf den Flugplatz!« Florian stampfte mit dem Fuß auf. »Ich will zu Papa!« Erneut stampfte er auf. »Ich will zum Onkel Doktor, ich will Franzl besuchen!«
Dr. Baumann! Ja, sie mußte die Kinder in seine Praxis bringen. Fraukes Hände fuhren an die Schläfen. Sie preßte die Fingerspitzen dagegen, denn hinter ihrer Stirn pochte und dröhnte es.
»Wir gehen zu Dr. Baumann«, sagte sie, ihre Hände sanken wieder herab. »Meike, würdest du dir bitte ein frisches T-Shirt anziehen?«
Meike fuhr sich über die Augen, doch dann gehorchte sie und ging hinüber ins Kinderzimmer. Frauke sah auf die Scherben, und erneut stieg Panik in ihr hoch. Dann fiel ihr Blick aber auf Florian, der jetzt mit gesenktem Kopf dastand. Sie ging zu ihm und nahm ihn auf den Arm. »Das war nicht lieb von dir«, sagte sie, doch zu mehr fehlte ihr die Kraft.
Irgendwie gelang es ihr dann doch, die Kinder ins Auto zu setzen und zum Doktorhaus zu fahren. Zum Glück dauerte die Fahrt nicht lange, denn Florian begann schon wieder zu quengeln. Sie fand auch eine Parklücke, und es gelang ihr einzuparken, doch dann konnte sie nicht mehr. Ihre Stirn sank gegen das Lenkrad.
»Mami!« Meike begann zu weinen. »Mami, ist dir auch schlecht? Bist du krank?«
»Nein, nein! Ich bin nur so müde.« Langsam hob Frauke wieder den Kopf und drehte sich nach ihren Kindern um. »Wir werden jetzt in die Praxis gehen. Bitte, seid lieb!«
»Ich gehe zu Franzl!« verkündete Florian und zerrte an seinem Gurt.
Auch Meike versuchte, den Gurt zu öffnen, ihr gelang es selbst. Sie öffnete auch die Autotür und schlüpfte hinaus.
»Ich will auch, ich will auch!« kreischte Florian.
Frauke öffnete den Mund, sie wollte schreien, doch noch einmal riß sie sich zusammen. Sie stieg aus und hob ihren Sohn aus seinem Kindersitz. Er strampelte und drehte sich heftig in ihren Armen, und schließlich riß er sich los und eilte zum Gartenzaun.
»Franzl, Franzl, wo bist du? Ich darf dich anfassen, der Onkel Doktor hat es erlaubt.« Er versuchte, auf den Zaun zu klettern. Hilflos, mit hängenden Armen, stand Frauke neben ihrem Auto.
Katharina hängte gerade hinter dem Haus Wäsche auf. Sie stutzte, denn da kam Franzl angesprungen und raste an ihr vorbei.
»Franzl!« rief Katharina. Sie wischte sich die nassen Hände an der Schürze ab und folgte dem Hund. Sie mußte doch nachsehen, was hier los war. Dann öffnete sie auch sofort die Gartentür und trat auf die Straße hinaus, als sie Frau Ebert und ihre Kinder erkannte.
»Das ist eine Überraschung!« Sie lächelte, obwohl sie sofort bemerkte, daß hier einiges nicht stimmte. Am liebsten hätte sie alle drei gleichzeitig in die Arme genommen und gedrückt. Sie griff jedoch als erstes nach Florian. »Wenn du nicht so laut schreist, darfst du hereinkommen. Siehst du, Franzl wartet schon auf dich. Sitz!« befahl sie dann dem Hund, der sich aus dem Garten hinaus auf die Straße drängen wollte.
Sie schob Florian in den Garten. »Du kannst hier mit ihm spielen.«
»Toll!« Jetzt leuchteten die Augen des Kleinen. Sofort hockte er sich vor den Hund hin. »Ich weiß schon, daß du ein ganz lieber Hund bist.«
Katharina schmunzelte, dann wandte sie sich an Frauke, die sich noch immer nicht gerührt hatte. »Ich nehme an, daß Sie den Doktor aufsuchen wollen. Gehen Sie nur hinein in die Praxis. Ich werde mich solange um Meike und Florian kümmern. Sagen Sie aber bitte bei der Anmeldung, daß Sie die Kinder mitgebracht haben.«
Frauke ging auf Katharina zu, und diese merkte nun, daß sich die junge Frau wie eine Marionette bewegte. »Ich komme wegen Meike her. Es geht ihr schlecht. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Auch ihre Worte kamen stockend von ihren Lippen.
»Was ist mit Meike?« Katharina sah auf das Kind, das sich an den Zaun gelehnt hatte. Die Tränenspuren auf den Wangen waren nicht zu übersehen.
»Ich weiß nicht! Ich kann auch nicht…« Im Zeitlupentempo fuhr sie sich durch das Haar, dann ging ihr Blick ins Leere, sie schwankte.
Katharina griff zu und legte der Frau ihren Arm um die Schultern. Sie spürte, wie diese zitterte. Die Frau war völlig fertig, und es sah ganz nach einem Nervenzusammenbruch aus.
»Es ist richtig, daß Sie gekommen sind. Jetzt wird alles wieder gut.« Liebevoll sprach Katharina auf die Verzweifelte ein. Frauke lehnte den Kopf an ihre Schulter, doch gleich darauf schreckte sie wieder hoch.
»Wo sind meine Kinder? Ich habe nur noch meine Kinder!«
Katharina gelang es mit ihrer ruhigen, freundlichen, aber resoluten Art, den Kindern die Angst zu nehmen. Sie durften mit dem Hund im Garten bleiben, während sie Frauke gleich zu Eric brachte. Sie bekam noch mit, wie Frauke, als diese dem Arzt gegenüberstand, in einen Weinkrampf ausbrach.
»Ich behalte Frauke und die Kinder im Doktorhaus«,