Die Unaussprechliche. Wolf Awert
„Nichts zu entschuldigen.“
„Nun sag schon. Wen?“
„Dich.“
Noch nie hatte ein einzelnes Wort sie und die Welt um sich herum so auf den Kopf gestellt. Sie merkte, wie die Schwäche zurückkam, tastete nach Halt und fand ihn an einem Felsblock. Wie wohl dieses eine Wort tat, und wie viel Schrecken es mit sich brachte. Sie konnte doch nicht … Und außerdem … Die Reihenfolge stimmte doch gar nicht. Sollte man sich nicht erst ineinander verlieben? Schauen, ob es mehr war als ein Rausch? Dann eine gemeinsame Zukunft … Jedenfalls wenn man ein Gefühl für Verantwortung hatte. Es gab ja auch andere Leute. Leichtsinnige Traumtänzer, denen der nächste Tag egal war. Es gab sogar … Tama rief sich zur Ordnung.
„Noch nie hat mir jemand ein schöneres Kompliment gemacht als du. Ständest du jetzt nicht ausgerechnet in der Gestalt eines Drachen vor mir, würde ich dir um den Hals fallen. Aber ich kann doch nicht die Frau eines Drachen …“ Tama stockte die Stimme.
„Ich bin auch ein Mensch.“
„Ja, ich weiß. Ich kenne Dorman.“
„Du magst ihn nicht. Stimmt doch. Oder?“
Tama nickte. „Er ist mir zu alt, zu bestimmend. So ähnlich habe ich mir mal meinen Vater vorgestellt, aber ganz bestimmt nicht den Mann meiner Träume.“
„Ich weiß. Er war eine schlechte Wahl. Aber ich habe ihn ja auch nicht für dich erschaffen, sondern für Lufthauch, weil der jemanden brauchte, der ihm Respekt einflößte. Wenn du mir den Mann deiner Träume beschreibst, kann ich ihn für dich erschaffen. Ich kann das.“
Tama verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. Als sie Pando wieder anschaute, glänzte es feucht. „Du verstehst nicht“, flüsterte sie. „Wie soll ein Mädchen einen Jungen lieben, der heute so und morgen so aussieht. Da sind mir deine Tiergestalten ja schon lieber. Der nette, tröstende und verständige Bär, die energische Raubkatze und der alberne Ledervogel. Merkst du was? Sogar deine Tiere waren ganz unterschiedliche Gestalten. Pando, wenn du gerade kein Drache bist, was für ein Wesen bist du dann überhaupt?“
Tamas Frage hing in der Luft wie ein großes Spinnennetz zwischen den Ästen verschiedener Büsche. Sie bewegte sich mit dem Wind, doch sie trieb nicht davon. Sie veränderte die Form und blieb doch gleich, zitterte, verbog sich, dehnte sich aus und zog sich wieder zusammen, begann sich …
Pando versuchte es noch einmal, und das Spinnennetz zerriss. „Ich kann leicht eine andere Person erschaffen, die mit Dorman nichts gemeinsam hat. Vielleicht würde er dir zunächst wie ein Fremder erscheinen, aber der wäre genau so echt oder unecht wie alle anderen. Du könntest alle deine Träume in mich hineinstecken und mich so machen, wie du mich haben möchtest. Ich kann dir das erfüllen. Ich bin einer der besten Gestaltwandler, habe nur von einem Halbdrachen gehört, der noch besser sein soll ich.“
„Pando, Liebster“, sagte Tama zu dem weißen Drachen und kuschelte sich an ihn. „Wo hast du nur deinen Kopf. Ich kann mir dich doch nicht zusammenwünschen. Ich will, dass du so aussiehst, wie du bist. Aber du weißt nicht, wie du bist, und ich weiß es erst recht nicht. Manchmal bist du mir ganz vertraut und dann wieder unvermutet fremd. Ich möchte in dir dein Ich erkennen. Im Pando sehe ich es, egal ob Bär oder Katze. Aber wer ist deine menschliche Seite?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich suche noch. Ich muss meinen menschlichen Teil erst noch finden.“
„Dann helfe ich dir dabei.“
„Es wird vielleicht sehr lange dauern.“
„Ich kann warten.“
„Dein Leben könnte zu kurz dafür sein.“
„Gar nicht zu wissen, wer man ist, noch nicht einmal zu wissen, wie man aussieht, ist beinahe so, als würde man gar nicht existieren.“ Tama schluckte. Wie sollte sie Pando, ohne ihm weh zu tun, sagen, dass seine Drachenform für sie ein Tier war? Und dass mit einem Tier nie mehr möglich war als eine tiefe Freundschaft? Sie nahm all ihren Mut zusammen und versuchte es mit vorsichtigen Worten. „Um meine Liebe brauchst du nicht zu kämpfen. Ich liebe dich schon lange. Aber es ist die falsche Art von Liebe. Es ist nicht die, die du brauchst und haben möchtest. Verstehst du?“
„Ich verstehe nur, dass mein Vorschlag zu früh kam.“ Pando wurde jetzt energisch. „Deshalb ziehe ich ihn wieder zurück. Ich habe die Schwierigkeiten als zu gering eingeschätzt. Deshalb vergiss meinen Vorschlag einfach. Aber ich will nicht, dass du glaubst, Pando wäre nur ein Name für eine beliebige Gestalt oder für meine Drachen- oder Gestaltwandlerseite. Das wäre so falsch wie Mondstaub auf der Sonne. Ich will, dass du mich wenigstens einmal so siehst, wie ich bin, wie ich mich fühle, wenn ich nicht die Gestalt eines Drachen angenommen habe. Und du wirst Bär, Katze und Ledervogel in mir wiedererkennen, obwohl ich ein Mensch bin. Gehen wir ein paar Schritte zusammen?“
Tama fühlte sich immer noch schwach auf den Beinen. Aber sie mochte Pando seinen Wunsch nicht abschlagen. „Wo möchtest du denn hin?“
„Egal, nur weg von hier. Dieser Ort ist ein Versteck. Ich möchte mich mit dir irgendwo hinsetzen, wo wir das Land sehen können.“
„Es ist dein Land, das du mir zeigen möchtest, nicht wahr? Das Drachenland.“
Pando ging vor Tama her und führte sie zu einer Stelle, wo Boden und Gestein zu ihren Füßen weggebrochen waren und keine Büsche mehr den Blick beeinträchtigen konnten. Die Aussicht an diesem Ort, konnte jedem, der sich die Zeit nahm zu schauen, den Atem rauben. Die Sonne sank und veränderte ihr Licht dabei, entnahm ihm das kalte Blau, ersetzte es durch Gelb und Rot und vergoldete damit die Berghänge um sie herum.
„Setz dich hin und warte hier auf mich. Ich komme bald wieder.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schlug sich der weiße Drache in die Büsche. Tama fröstelte in dem Bergwind unter der tief stehenden Sonne. Sie hatte sich noch nie so allein und verlassen gefühlt.
Lufthauch
Lufthauch war nicht nach NA-R zurückgekehrt. Noch nicht. Er lag flach auf dem Bauch, spähte durch Astgewirr und Blätterflattern und hatte alles mit angesehen: die Ankunft des weißen Drachen, wie Kriecher Tama etwas gab, das er nicht erkennen konnte, wie sie lange miteinander redeten, ohne dass sein Ohr auch nur einen einzigen Laut ausmachte, wie Kriecher endlich wieder verschwand, und Tama allein mit dem weißen Drachen zurückblieb. Sein Schmerz, nicht dabei sein zu dürfen, wollte nicht weichen und die Zeit zog sich wie eine Bogensehne bei langem, sorgfältigem Zielen, als er mit ansehen musste, wie Tama die Arme in einer Geste von Freude und Willkommen ausbreitete, zwei unbeholfene Schritte hin zu dem weißen Drachen machte, stolperte und zusammenbrach. Sein Herz tat noch einen harten Doppelschlag, der seinen Kopf vibrieren ließ, und stellte dann seine Arbeit ein. Es schlug erst wieder, als sie mit den Knien auf der Erde aufkam und mit dem Kopf auf dem Drachen landete. Alles in ihm schrie auf, und er wollte losrennen, um zu helfen. Doch das war ihm verboten. Auf keinen Fall aber würde er sich auch nur einen Schritt weiter weg bewegen, bevor nicht mit absoluter Sicherheit feststand, dass es Tama gut ging.
Was war los mit ihr? Lag es an dem, was Kriecher ihr gegeben hatte? Drachen besaßen nichts und hatten deshalb auch nichts zu verschenken. Was also konnte es sein? Er würde mit Tama darüber reden müssen. Nachdem sie wieder aufgewacht war. Wenn sie überhaupt aufwachte. Und Sumpfwasser ging das alles nichts an. Zumindest im Augenblick nicht. Später? Vielleicht. Wahrscheinlich dann aber auch nicht.
Lufthauch verfluchte sich, weil er in diesen bangen Momenten nichts tun konnte, und so drehten sich seine Gedanken im Kreis, jagten einander, spielten Fangen mit blutigem Ernst. Nur der weiße Drache schenkte ihm Trost. So wie der sich um Tama kümmerte, steckte unter dem Schuppenkleid Pando. Es musste Pando sein. Und damit würde Tama in jedem Fall sicher nach NA-R gelangen, wenn nicht etwas wirklich Schlimmes passiert war.
Neben Tamas Wohlbefinden