Die Unaussprechliche. Wolf Awert
Polstern, in dem sich die Familie immer zusammenfand. Jetzt war sie allein hier und die Dunkelheit der Nacht ihr einziger Begleiter. Sie musste nicht lange suchen, bis ihr tastender Fuß etwas Weiches gefunden hatte, auf dem sie sitzen konnte. Sie ließ sich nieder und wartete, bis das Klopfen ihres Herzens sich der Ruhe der Nacht angepasst hatte.
„Komm her zu mir“, rief sie mit leiser, aber klarer Gedankenstimme in das Dunkel und lauschte.
Sie musste nicht lange warten, bis das rhythmische Stampfen alter Füße erklang. Mutters Schildkröte hatte sich in Bewegung gesetzt. Je näher das Tier kam, desto lauter dröhnten seine Schritte. Der langsame Schlag einer Trommel. Tief mit etwas Hall und sanften Vibrationen, die ihr durch den ganzen Körper gingen. Jetzt erst merkte Tama, dass sich die Trommel in ihrem Kopf befand und sie der Klang der Schritte nicht durch die Ohren erreicht hatte. Die Schritte kamen direkt auf sie zu, bis das Tier vor ihr stehen blieb, aber die Trommel dröhnte in der Stille der Unbeweglichkeit genau so laut vor sich hin wie das Stampfen der Schritte. Nur hatte sich der Rhythmus verändert, war noch langsamer geworden.
„Verstehst du mich?“
Das Dröhnen schwoll an, ebbte ab, schwoll wieder an. Die Schildkröte verstand nicht, oder die Frage war falsch. Tama tastete um sich, fand das Tier aber nicht.
„Bleib hier“, flüsterte sie, dabei war sie sich noch nicht einmal sicher, ob sich das Tier nicht schon wieder entfernte.
„Mutter, hör mir zu.“
Sie hörte in ihrer eigenen Stimme die aufsteigende Panik und ärgerte sich darüber.
„Mutter! Wie ist der Plan? Ich traue mich kaum, einen Schritt zu tun aus Angst, in die falsche Richtung zu gehen. Wie soll ich etwas richtig machen, wenn ich nicht weiß, wie der Plan aussieht? Hörst du? Ich brauche dich.“
Die Antwort schien aus weiter Ferne zu kommen. „Kein Plan. Warte nicht. Ich komme. Keine Zeit. Finde dich.“
Tama war sich nicht sicher, ob das die Antwort der Schildkröte war oder nur ihre Einbildung. Sie konnte noch nicht einmal sagen, ob es überhaupt einzelne Worte waren oder eine einzige Botschaft, die erst in ihrem Kopf in einzelne Worte zerfiel. Laute, Worte, Botschaft, Verstehen. Wieso kein Plan? Pandos Mutter hatte von einem Plan gesprochen. Da war sie sich sicher. Aber was wusste Pandos Mutter schon? Nichts, hatte Pando behauptet. Es wäre gut, endlich mal zu erfahren, wer denn überhaupt etwas in diesem Durcheinander aus Nichtwissen und Geheimnissen wusste.
Eine Tür zum Zimmer öffnete sich. Im schwachen Licht der Sterne, nein es war ein Wachslicht, sah Tama ein paar dünne Beine. „Was machst du hier?“, fragte ein unsichtbarer Kopf über den Beinen.
„Du solltest weiter schlafen, Neven“, antwortete Tama. „Tue einfach so, als gäbe es mich nicht.“
„Das könnte dir so passen, du falsche Schlange. Du drängst dich überall hinein, bedrängst sogar unsere Schildkröte, von der so viel abhängt, und jetzt willst du mir auch noch vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.“
Neven kam näher. Tama sah jetzt über den Beinchen auch einen Teil des Hemdes, welches das Kind trug. Das Licht kam aus dem Zimmer der nun halbgeöffneten Tür.
„Damit du es weißt. Ich hasse dich. Du magst vielleicht älter sein als ich, aber ich bin stärker. Hier wirst du von den anderen beschützt. Warte nur ab, bis wir uns irgendwo begegnen, wo wir beide ganz allein sind. Ab dann wirst du mir dienen, bis du um deinen Tod bettelst.“
Nevens Worte waren kaum zu verstehen. Ihr Flüstern war mehr ein Zischen als eine menschliche Sprache, und ihr Hass verzerrte die Laute noch zusätzlich. Oh ja, dieses Kind war stark. Sie verlangte Tama alles ab. Woher nahm sie nur diese Kraft und woher kam ihr Hass? Dieses Kindergesicht konnte doch höchstens erst elf Jahre alt sein.
Das Licht hatte zugenommen. Die Tür hinter Neven stand nun weit offen. Aureon war gekommen, hinter ihm stand Argenton. „Es ist deine Schildkröte und das bleibt sie auch, Neven“, sagte Aureon. „Siehst du, Tama sitzt einfach nur da. Die Schildkröte ist von selbst gekommen. Was sie wohl zu sagen hat, hm? Was meinst du, Neven?“
Mittlerweile waren auch die Hogger und Baerben erschienen. Jetzt fehlten nur noch Paluda und Altwi.
Tama freute sich, dass Aureon versucht hatte, Neven zu beruhigen und staunte über die Ruhe und Kraft von Argenton, der, wenn man von den Augen absah, Aureon zwar zum Verwechseln ähnlich sah, aber im Augenblick mindestens zehn Jahre älter wirkte.
„Weiß Altwi, dass ich hier bin?“, fragte Tama. „Sollte sie nach mir fragen oder mich sprechen wollen, dann sagt es mir, und ich entspreche ihrem Wunsch. Wenn nicht, ist es auch gut. Wir machen alles genau so, wie Altwi es möchte.“
„Das sind ja völlig neue Töne“, sagte Hogger.
„Ja, es sind neue Töne, Hogger. Da hast du wohl recht. Ich bin gekommen, weil ich viele neue Fragen haben und jede davon singt ihr eigenes Lied. Eine davon kannst du mir vielleicht beantworten. Ihr sagt, dass ihr Verschwörer seid. Gegen wen habt ihr euch denn verschworen? Oder sollte ich fragen, gegen was?“
Hogger schaute Baerben an, dann Argenton. Er mochte der Sprecher dieser Gruppe sein, aber er wollte nicht antworten.
„Nun?“, fragte Tama.
Aureon antwortete für Hogger. „Wir wissen es nicht. Unser Schwur bezieht sich nur darauf, unentdeckt zu bleiben und nicht aufzufallen. Das wurde uns wieder und wieder gesagt, seitdem Argenton und ich hier sind. Die anderen kennen das wohl schon länger. Uns Kindern wird nichts erzählt. Nur hin wieder wird uns befohlen, etwas zu tun, aber es ist uns verboten, Fragen zu stellen.“
„Ihr seid keine Kinder mehr“, sagte Tama. „Jedenfalls nicht alle von euch. Und Fragen verhindert man nicht, indem man verbietet, sie zu stellen.“
Aureon zuckte mit den Schultern. „Du weißt, wie ich das meine. Altwi, der Vater unserer Halbgeschwister und unsere Mutter hüten das Geheimnis. Alles, was wir wissen, wissen wir von Neven, weil sie die Schildkröte versteht.“
Tama schaute zu der Schildkröte. Jetzt, da der Raum etwas erleuchtet war, sah sie das Tier. Es stand ganz in der Nähe. Ein unbewegliches Grau-braun, mehr ein Stein als ein Tier. Für das, was sie vorhin erahnt hatte waren keine komplizierten Zeichen nötig, keine rituellen Routen durch das Zimmer, kein fünfzackiger Stern oder ein anderes Ornament. Es war nur eine Botschaft gewesen, die die Farbe von Mutters Stimme gehabt hatte. Und damit war alles gesagt, was zu sagen war. In Gedankensprache sagte sie laut und deutlich: „Danke. Ich erwarte dich.“
„Mit wem sprichst du? So spricht man nicht zu der Schildkröte. Du machst alles kaputt.“
Tama sah den Ärger in Neven, die als Einzige Tamas Worte verstanden hatte. Neven war für die Schildkröte verantwortlich. Sonst keiner. Nur Altwi durfte alles, weil sie ihre Mutter war, und alles geschah, wie Altwi es anordnete. Aber ob diese Erklärung ausreichte für so viel Hass? Und was sollte sie jetzt machen, wenn es keinen Plan gab und von Mutter keine Anweisungen?
Und während sie noch unentschlossen mit Gedanken ohne Kraft herumspielte, kam ein Bild aus den Drachenbergen zurück. Pandos Mutter riss sich mit Hilfe ihrer Tochter eine Schuppe aus ihrem Panzerkleid heraus und gab sie ihr. Ein Verstoß gegen alle Grundsätze der Drachen, ein Geheimnis, das sie mit niemandem teilen durfte, ein Geschenk des Vertrauens, wie man keines höher einschätzen konnte. Und sie fragte nach Mutters Plan und schob die Arbeit an den Artefakten hinaus. Wie undankbar sie doch war. Wie falsch ihre Entscheidung gewesen war, zuerst Mutter aufzusuchen. Und an Lufthauch hatte sie auch nicht gedacht. War er überhaupt gesund nach NA-R zurück gekommen?
Sie stand auf. „Ich bin schon zu lange hier. Ich muss weg. Es gibt zu viel zu tun. Aber ich komme wieder. Passt aufeinander auf.“
Tama ging einfach zur Tür hinaus. Zurück blieben nur ihre letzten Worte, die für die einen wie eine Drohung klangen, für andere wie ein Versprechen oder ein Trost. Aber für alle klangen sie wie eine Warnung und die Bitte aufzupassen wie ein Befehl.
Altwi ließ sich nicht sehen. Nicht in dieser Nacht und auch nicht