Die Unaussprechliche. Wolf Awert

Die Unaussprechliche - Wolf Awert


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er erfahren, und ihr Oberhaupt, wenn man den alten Drachen so bezeichnen konnte, hatte eine Vorliebe für die jungen Frauen der Elfen, was nicht immer ohne Folgen geblieben war. Und das allein sollte die Wahrheit hinter den Legenden der Elfenhelden sein? Das konnte er sich nicht vorstellen, denn wenn der Alte sein Spielchen immer noch trieb, warum gab es dann heute keine Helden mehr in seinem Volk?

      Und das war nicht die einzige Frage, die ihn quälte. Er musste sich eingestehen, dass sein Besuch der Drachenberge ein völliger Fehlschlag geworden war. Was hatte er sich nicht alles davon versprochen gehabt. Klarheit, Einsicht, Wissen und vor allem eine Orientierung für die Richtung, in die er zu gehen hatte. Aber nichts war ihm klarer geworden. Ganz im Gegenteil.

      Jetzt sah er, wie Tama sich aufrichtete. Es war wohl nur eine leichte Ohnmacht gewesen. Alles war gut, und er konnte sich endlich zurückziehen. Er schob sich rückwärts über trockene Aststücke, verwelktes Laub und vorwitzige Steinspitzen, die aus dem dünnen Boden herausragten, und verursachte bei keiner Bewegung einen Laut, der das Wehen des Bergwindes übertönte. Es kam vor, dass Lufthauch auf seine Geschicklichkeit als Jäger stolz war. Aber heute war kein solcher Tag, denn sein Kopf war voller Gedanken und sein Herz quoll über von einem Durcheinander unterschiedlichster Sorgen, die sich nicht greifen ließen. Immerhin schlug sein Herz wieder ruhig und kräftig. Er legte die Hand auf die Brust, um sich dieser Tatsache zu vergewissern, und vergaß bereits im nächsten Augenblick, warum er sie dort hingelegt hatte.

      Er betrat den Wald der hohen Bäume und hatte keinen Sinn für deren Heiligkeit noch für die Stille oder die Bewegungslosigkeit der Luft. Noch nicht einmal der federnde Boden, dessen Kraft einen Elfen laufen ließ, ohne dass er jemals so etwas wie Ermüdung verspürte, vermochte ihm ein Gefühl zu entlocken. Er sprang in den Sattel der Spinne, befahl der Maschine sich zu sputen und preschte auf dem direkten Weg nach NA-R. Nur für einen Moment hatte er überlegt, Sumpfwasser persönlich aufzusuchen, weil ihn entweder der Mechaniker der Spinne oder Bork von den Wehrhütern melden würde und es wohl ratsam war, dem zuvorzukommen. Doch dann entschloss er sich, alles von NA-R aus zu regeln, was es zu regeln gab. So würde auch Sumpfwasser an seiner Stelle handeln.

      Jetzt, auf dem Rückweg, beruhigte sich endlich sein Verstand, und er begann, ernsthaft über seine Situation nachzudenken. Er hatte gleich zweimal gegen Sumpfwassers Anweisungen verstoßen. Einmal, weil er sich allein und ohne Auftrag in die Drachenberge begeben hatte, und einmal, weil er unbedingte Tama hatte dabeihaben wollen. Auch sich einer Spinne zu bemächtigen, war unrechtmäßig gewesen und ein schwerwiegender Verstoß gegen alle Dienstvorschriften, denen ein Wehrhüter unterlag. Aber sein erster Schwall Angstschweiß war schon lange abgetrocknet, und so konnte er sich der wichtigsten seiner Fragen widmen: Warum stellte sich Sumpfwasser so hartnäckig gegen seinen Vorschlag, einen Drachen zu besuchen, der allem Anschein nach mit ihm hatte sprechen wollen? Und so war es ja auch tatsächlich gewesen. Dass Kriecher über ihn an Tama herankommen wollte, spielte im Nachhinein keine Rolle. Es hätte auch etwas anderes gewesen sein können. Gut, Sumpfwassers Sorge um Tamalone konnte er verstehen. Sie war besonders, äußerst wertvoll und durfte nicht gefährdet werden. Andererseits war sie freiwillig mitgekommen – na ja, nicht so ganz. Aber sie war die Letzte, die sich nötigen ließ. Und besser, sie ging mit ihm als allein, was sie unzweifelhaft irgendwann getan hätte. Da war er sich sicher.

      Die Sorge um ihn, den Sohn und möglichen Nachfolger? Unsinn. Sumpfwasser würde ihn jederzeit opfern, wenn die Umstände es erforderten. Da machte er sich nichts vor. Nein, es musste etwas anderes sein. Denn schließlich ergab es keinen Sinn, ihn wegen seiner Sensibilität für Drachenmagie zu rekrutieren und ihm anschließend einen entsprechenden Einsatz zu verweigern. Wie stolz war er doch auf sich und seine Gabe gewesen. Bevor er Kriecher begegnet war. Der Drache hatte alles verändert. Seine Wangen brannten, als die Erinnerungen an die Demütigung in ihm hochstiegen. Als wenn er gar nicht zählte. Hatte Sumpfwasser vielleicht von vorn herein gewusst, dass Kriechers Interesse nicht ihm, sondern Tama gegolten hatte? Möglich war es. Niemand konnte in den Kopf des Ersten Beraters hineinschauen und niemand kannte seine Geheimnisse, mit denen man einen ganzen Wald hätte füllen können.

      Lufthauch seufzte. Meine Gedanken drehen sich im Kreis, und ich drehe mich mit ihnen, dachte er. Und in diesem Augenblick fielen ihm noch ein paar andere Dinge ein, über die er bereits früher gestaunt hatte, ohne zu verstehen, was das bedeutete. Wie Sumpfwasser mit seinen Schwarzvögeln gesprochen hatte. Keiner Elfe war so etwas möglich. War die Amtskette, die er manchmal trug und manchmal nicht, mehr als nur ein Symbol seiner Stellung? Vielleicht in Wirklichkeit ein Artefakt? Aber gab es überhaupt ein Artefakt, das es ermöglichte, mit Drachen, Gestaltwandlern oder gar Tieren zu reden? Wenn, dann hatte er noch nie davon gehört. Vorstellen konnte er sich das auch nur, wenn das Tier ein Gestaltwandler war. Und das führte gleich zur nächsten Frage. Was brachte einen Gestaltwandler dazu, einer Elfe zu dienen, wo doch gerade die Elfen Jagd auf sie machten? Das passte alles vorn und hinten nicht zusammen. Er hätte jemanden gebraucht, der Sumpfwasser gut kannte und auch noch bereit war, über ihn zu reden. Lufthauch schüttelte den Kopf. Das konnte er vergessen.

      Es war dunkel geworden. Irgendwann ging jeder Tag einmal zu Ende. Während der Nacht wollte er nicht reiten. Er legte sich unter die Spinne und schlief sofort ein.

      Tamalone

      Tama hatte als Sitzplatz einen umgestürzten Baumstamm ausgewählt. Irgendwann musste der seinen Halt verloren haben, weil sich aus der Steilwand ein paar Gesteinsblöcke gelöst hatten. Die Steine nahmen die auf ihnen liegende Erde mit sich und ließen die Baumwurzeln hilflos im Wind zurück. Niemand hätte sich gewundert, wenn der ganze Baum Steinen und Erdreich auf ihrem Weg in die Tiefe gefolgt wäre, aber irgendwie, vielleicht in einem letzten Akt von Widerspenstigkeit und Wahnsinn, hatte er sich geweigert, hatte sich im Sturz gedreht und sich mit einem starken Ast auf festem Untergrund gerettet. Viel hatte ihm das nichts eingebracht außer der vagen Hoffnung, dass alles schon irgendwie weitergehen würde, denn immer noch verbanden ihn ein paar letzte Wurzeln mit Erde, Wasser und Nährstoffen. Der Baum lag im Sterben, aber noch war sein Lebenswille nicht erloschen und ein letzter schlanker Ast, ein paar noch schlankere Zweige und eine Handvoll grüner Blätter kämpften gegen die Endgültigkeit des Endes an.

      „Gib nicht auf“, flüsterte Tama, streichelte die raue Borke, dankbar dafür, dass es Pando gelungen war, ihre eigenen Probleme im Augenblick ein wenig zurückzudrängen. Nicht, dass er diesen Augenblick absichtlich herbeigeführt hätte. Oder vielleicht doch? „Ach Pando“, seufzte sie. Wie soll ich dich verstehen, wenn du selbst nicht weißt, wer du bist.“

      Pando war kaum länger als ein Dutzend Atemzüge verschwunden, und schon fiel Tama das Warten schwer. Dass ihre Gedanken Nachlaufen spielten, hatte sie schon mehrfach erfahren müssen und sich mittlerweile daran gewöhnt. Sie wusste, mit der Zeit würden sie ihre eigene Ordnung finden. Aber jetzt wurde sie aus ihren Gefühlen nicht schlau. Ihr war, als würden diese zu einem anderen Menschen gehören und nicht zu dieser Tama, die sie einmal geglaubt hatte zu sein. Sie hatte sich erst dann verloren, als sie ihr Viertel Elfenblut anzweifelte. Aber machte sie das zu einem Wesen, das wie Pando war? Gleichgültig, was dieser Gestaltwandler vorhatte, sie würde ihm helfen. Das war sie ihm schuldig. Aber … Dieses „Aber“ wurde immer größer. Er als Vater ihrer Kinder? Undenkbar. Unfühlbar. Oder doch nicht. Sie hatte Gefühle, doch die waren noch rätselhafter als alle Überlegungen. Und merkwürdig – einen Ekel gab es nicht, nur eine starke Ablehnung, von der sie nicht wusste, woher sie kam. Kam sie aus den Gedanken oder aus den Gefühlen? Ihre Gefühle … Da war nichts außer Furcht vor etwas, das ungeheuer groß war und fremd. Vor allem fremd. Liebe war doch Vertrauen, Intimität, Nähe und die Sehnsucht, die sofort erwachte, wenn man getrennt voneinander war. Sie würde …

      „He“, hörte sie Pando rufen. Nein, Unsinn, sie hörte ihn gar nicht. Ihre Ohren hatten nichts damit zu tun. Er war wie immer direkt in ihren Kopf gesprungen. Nur dass es sich zum ersten Mal so anfühlte wie ein Schwall kalten Wassers auf einen von der Sonne erwärmten Bauch.

      „He, Tama, bist du noch da?“

      „Ja, glaubst du denn, dass ich dir weglaufe. Was ist denn los? Bisher ging doch jeder deiner Gestaltwandel sehr schnell.“

      „Ich habe nicht gewusst, dass ich dich hier


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