Die Unaussprechliche. Wolf Awert
Zeit, bis er sicher war, dass ihre Ankunft unbemerkt geblieben war. Dann hob er ab, flog zu Treibgut und verschaffte sich auf bewährte Art Einlass zu dessen Räumen. Er stöberte dort ein wenig herum und verschlief dann den Rest der Nacht. Im frühen Schein der aufgehenden Sonne nahm er die Gestalt von Dorman ein, betrachtete sich in einem Spiegel und gab seinem Gesicht einen Hauch mehr Jugendlichkeit. Schließlich wollte er nicht wie Tamas Vater wirken. Eher wie ein großer Bruder. Obwohl … Der Gedanke, nur ihr Bruder zu sein, missfiel ihm ebenfalls, auch wenn das das Äußerste war, was er im Augenblick erwarten konnte. Er seufzte, schob alle Gedanken an Tama beiseite und wartete. Bevor er irgendetwas unternahm, brauchte er Klarheit.
Treibgut war ein Frühaufsteher, der meist vor einem ausgiebigen Frühstück schnell noch seinen Werkraum besichtigte, um ein paar Dinge zurechtzulegen, die er für die Ideen brauchte, die ihn nachts besuchen kamen. Als er seinen Werkraum bereits besetzt vorfand, versteckte er seine Fassungslosigkeit hinter einem unwilligen Knurren und sagte nur: „Lasst diese Art des Erscheinens bitte nicht zu Eurer Gewohnheit werden, Dorman. Ich hoffe allerdings, dass Ihr mir irgendwann einmal bei Gelegenheit erzählt, wie es Euch gelingt, unbemerkt in meine Räumlichkeiten zu kommen. Was hat Euch denn dieses Mal zu mir getrieben? Braucht Ihr mal wieder etwas Geld? Vielleicht zur Abwechslung zweihundert Gold oder dreihundert?“
Der gestrenge Dorman wurde verlegen. „Zunächst wollte ich Euch mitteilen, dass Tamalone unbeschadet zurück in der Stadt ist. Wahrscheinlich im Elfenviertel oder bereits auf dem Heimweg.“
„Den niemand kennt. Wahrlich eine junge Frau voller Geheimnisse. Aber ich danke euch für die beruhigende Nachricht.“
Treibgut sah nicht beruhigt aus. Da war eine Aura der Wachsamkeit um ihn herum, die Dorman sehr wohl wahrnahm. Er räusperte sich. „Da ist noch etwas anderes“, sagte er. „Ich habe noch Schulden bei Euch.“
Treibgut nickte. Warum etwas erwähnen, was ihnen beiden bewusst war.
„Nun – ich bin ein Mann, für den Geld keine Bedeutung hat …“
„Mit anderen Worten, Ihr habt keines“, unterbrach Treibgut Dormans Satzgirlanden.
„Das ist zwar richtig, sollte Euch aber nicht beunruhigen. Wenn Ihr es dringend braucht, müsst Ihr es nur sagen und ich besorge es in ganz kurzer Zeit.“
„Und wie wollt Ihr das anstellen?“
Dorman grinste böse. „NA-R ist voll von reichen Familien, bei denen sich jeder bedienen kann, wenn er nur stark genug ist.“
„Wie stark Ihr seid, kann ich nicht beurteilen. Geschickt seid Ihr jedenfalls, wenn es um verschlossene Wohnungen geht. Aber es ist Euch doch wohl klar, dass ein solches Vorgehen ganz NA-R in Aufruhr versetzen würde.“
„Das ist zwar richtig, aber unvermeidbar, wenn Ihr Euer Geld schnell braucht.“
Treibgut verkniff sich ein Lächeln. „Wenn es Euch beruhigt, ich werde es überleben, wenn ich noch einige Tage darauf warten muss. Fünf Tage? Oder zehn?“
„Darauf hatte ich gehofft und einen Vorschlag mitgebracht.“
Treibgut seufzte innerlich. Diese zögernde Seite hatte er an Dorman bisher nicht kennengelernt. „Sprecht einfach aus, was Ihr zu sagen habt. Dann sehen wir weiter“, sagte er.
„Vielleicht könnte ich meine Schulden auch bei euch abarbeiten?“
Treibgut stieß einen Laut der Überraschung aus. „Wollt Ihr singen, mit Sachen jonglieren oder meine Wohnung säubern?“
„Ich dachte, ich könnte Euch bei Euren Artefakten helfen.“
„Als Hilfskraft hier in meiner Werkstatt? Danke, ich bevorzuge die geschickten Hände von Frauen.“
„Ich dachte eher an Eure Sammlung. Die alten Stücke aus der Vergangenheit der Menschen.“
Treibgut war plötzlich todernst. Bei seinen Artefakten verstand er keinen Spaß. „Wer hat Euch davon erzählt? Tamalone?“
„Niemand, ich habe sie mir angesehen. Hatte ja nichts zu tun diese Nacht.“
„Kerlchen, wenn auch nur eines meiner Schätze den geringsten Schaden genommen hat …“
„Ich musste sie nicht berühren, um sie zu lesen. Eure Sorgen sind also überflüssig.“
Treibgut setzte sich hin. Er hatte erst in diesem Augenblick bemerkt, dass er immer noch stand. „Dorman, wollt Ihr mir nicht sagen, wer Ihr seid?“
„Ein Mensch!“ Dorman sagte das so voller Stolz, als gäbe es nichts Größeres auf der Welt.
„Menschen haben wir in NA-R zuhauf. Sie stehen nicht besonders hoch im Kurs bei uns.“
„Erzählt mir nicht, dass Ihr noch weniger über Menschen wisst als ich. Ihr sammelt deren Artefakte.“
„Ich sammele alte Artefakte. Nicht nur die der Menschen, auch die von Elfen.“
„Es gibt keine alten Artefakte von Elfen. In den alten Tagen wäre die Benutzung von magischen Hilfsmitteln ein Zeichen der Schwäche gewesen. Heute sehen die Elfen das anders. Die Zeiten ändern sich und das immer schneller, befürchte ich.“
„Wollt Ihr damit andeuten, dass alle meine alten Artefakte von Menschen hergestellt oder getragen wurden?“
„Dass Komposits Artefakte herstellen, ist eine ganz neue Entwicklung. Und ja, es gab einmal eine Zeit, in der nur die Menschen diese Kunst beherrschten.“
„Gehen wir.“
„Wohin?“
„Zu meinen Artefakten. Da werden wir ja sehen, ob Ihr mir nützlich sein könnt.“
Dorman stand mit geschlossenen Augen vor Treibguts Sammlung, als wollte er den Geist vergangener Tage erriechen oder mit den Ohren einfangen. „Ich habe mich immer gefragt, ob die Menschen über eine eigenständige Magie verfügen wie die Drachen oder Elfen“, murmelte er so leise, dass Treibgut Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Es gibt keine Vernunft ohne Magie und keine Magie ohne Vernunft. Warum sollten die Menschen eine Ausnahme bilden?“ Dann etwas lauter: „Hätte ich Eure Sammlung früher entdeckt, hätte ich mir meine Herumsucherei sparen können. Hier bei Euch befinden sich die Reste einer alten Magie, die einmal zu den Menschen gehört hat und lediglich neu belebt werden muss.“
„Ihr redet, als gehörtet Ihr nicht dazu, zu den Menschen.“
„Das ist noch nicht entschieden, mein Freund.“
Mein Freund? Wer, glaubte dieser Dorman, wer er war? Aber Treibgut traute sich nicht, etwas zu sagen, als er Dorman da so in sich versunken stehen sah.
„Die meisten Eurer Artefakte dienen einer Magie, die die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten herstellt. So, als ob die Menschen einen ganz besonderen Ahnenkult pflegten. Tun sie das immer noch?“
„Ich muss gestehen, dass ich das nicht weiß. Hin und wieder plaudere ich auch mal mit unseren Komposits, die nur über wenig Elfenblut verfügen. Aber Ahnenkult gehört nicht zu unseren Plauderthemen.“
„Es gibt hier zwei Typen von Artefakten. Mit den einen lassen sich die Ahnen rufen, die anderen helfen den Ruf der Ahnen selbst zu verstärken. Und dann fällt mir auf, dass sich mit vielen Artefakten einfache Arbeiten des täglichen Lebens erleichtern lassen. Sie müssen einmal sehr viel stärker als das Elfenvolk gewesen sein.“
„Wie dem auch sei. Heute sind sie jedenfalls erheblich zurückgeblieben. Stark sind sie nur durch die hohe Zahl ihrer Nachkommen.“
„Wenn ich die Magie für mich arbeiten lassen kann, brauche ich keine Waffen und auch nur wenig Werkzeuge. Wenn mir dann aber ganz plötzlich die Magie verloren geht, bin ich recht hilflos, weil mir viele Fähigkeiten fehlen. Es kommt zu Hungersnöten, Krankheiten. Die Menschen müssen eine schlimme Zeit hinter sich haben. Aber sie sind nicht dumm und lernen. Neue Artefakte stellen sie allerdings nicht mehr her. Die kaufen sie sich lieber bei den Komposits und benutzen deren Elfenmagie. Das ist für mich schwer