Es darf gelacht werden Von Männern ohne Nerven und Vätern der Klamotte. Norbert Aping
Beitrag der Reihe von Wochenschaufilmen durchliefen DAS HUHN MIT DEN GOLDENEN EIERN und KLEOPATRA DIE HERRIN DES NILS Anfang und Ende November 1944 die Zensur. Jerven hatte also zu den Filmemachern gehört, die noch produzierten, während das Dritte Reich um sie herum zusammenbrach. Am 3. Februar 1945 kam er beim Bombenangriff der US Airforce auf Berlin ums Leben, und mit ihm ging sein Filmarchiv in Flammen auf.
Die Zensurentscheidungen zu Jervens Programmen von 1929 bis 1944 sind im Anhang 6 zusammengefasst.
Aufbruch nach dem Zusammenbruch
Friedrich Martin
Nach Jervens Tod schien die Epoche filmhistorischer Rückschauen mit Film-Erklärern zum Erliegen gekommen zu sein. Friedrich Martin hatte jedoch ein Jerven-Programm nach seiner Darstellung «durch glückliche Umstände», über die nichts näher bekannt ist, retten können. Es war gut 70 Minuten lang. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bereiste der in Oldenburg/Holstein wohnende Martin damit ab Anfang 1946 die Kinos der britischen Zone in Deutschland mit Genehmigung der dortigen Militärregierung. Im März des Jahres pries er in einem kleinformatigen vierseitigen Heftchen das Programm unter dem Titel RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE an. Er behauptete, es gemeinsam mit Jerven zusammengestellt zu haben, dessen letztes Projekt vor seinem Tod es gewesen sei. Mit RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE waren Jerven und Martin allerdings nicht aufgetreten. 1933 gastierte Jerven mit dem 917 m langen Programm AUS MEINEM RARITÄTEN-KABINETT in den Kinos. Die früheste feststellbare Zusammenarbeit der beiden datiert aus dem Jahr 1937, und sie betraf GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE. Davon hatte allerdings zumindest nach außen stets Jerven verantwortlich gezeichnet. Abgesehen von der FILMHISTORISCHEN WOCHE (1942/43) und den Streifen für die Deutsche Wochenschau (1943/44) gehörten die erweiterten Teile von GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE aus dem Jahr 1941 durchaus in den letzten Teil von Jervens Filmprojekten. In seinem Programm-Heftchen nennt Martin auch Filmstars, dokumentarische Filme, Dramen und Max Linders Groteske MAX ALS BOXER, die auf dem Handzettel für GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE aus dem Jahr 1937 aufgeführt sind.
Martin hatte das Programm für seine RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE anders strukturiert und präsentierte es in drei Teilen. Im ersten Teil stellte er Filmstars vor, während der zweite Teil den dokumentarischen Filmen vorbehalten blieb. Für den abschließenden dritten Teil hatte er eine bunte Mischung aus Tanz- und Sittenfilmen, Dramen wie DER AVIATIKER UND DIE FRAU DES JOURNALISTEN mit Valdemar Psilander und eben den Linder-Streifen aufgespart. Im Heftchen hob er Jervens Pionierleistung hervor. Er versprach, dass das Publikum Tränen lachen werde über solche Kuriositäten wie Männer, die im Stehkragen Sport treiben, und Mädchen, die in langen Strümpfen und von Kopf bis Fuß in Stoffe eingehüllt ins Seebad steigen. 1948 war Martin unter dem Motto «Die bunte Bühne» in der gesamten Trizone unterwegs und konnte auf ausgezeichnete Kritiken zum Beispiel aus Frankfurt a. M., Karlsruhe und München verweisen.
Friedrich Martin, 1946
Später war Martin nach Frankfurt a. M. umgezogen und hatte unter dem Titel RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE eine neue Folge von Stummfilm-Ausschnitten zusammengestellt. Entweder hatte er aus Jervens Archiv doch mehr Streifen als GLANZ UND ELEND DER FLIMMERKISTE gerettet, oder aber er hatte sein eigenes Archiv nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Neuerwerbungen erweitern können. Über die neue Fassung «in zeitgerechter Aufmachung», mit der Martin durch Westdeutschland reiste, berichteten weder die Film-Branchenblätter noch der katholische Film-Dienst (FD). Der Evangelische Film-Beobachter (EFB) hingegen meldete 1953 (Folge 42 vom 15. Oktober 1953, Nr. 687): «Während es auf der Leinwand regnet und flimmert und sich die Personen ruckartig fortbewegen, gibt ein Erklärer mit öliger Jahrmarktstimme seinen Kommentar wie anno dazumal, und das ‹Pianoforte› untermalt die ‹unvergleichlichen Eindrücke der Cinematographenindustrie› melodramatisch. Man erlebt Chaplin, Marlene Dietrich, Greta Garbo, Hans Albers, Rudolf Forster und andere in ihren Jugendjahren. Ihre Gefühle vermitteln sie durch maßlose Übertreibungen. Man sieht dokumentarische Bilder und ‹diverse nervenzerfetzende Kriminaldramen› von rührender Einfalt. Das herzliche Gelächter über diese unfreiwillige und geistreich kommentierte Komik kann jedem empfohlen werden. Und hinterher möge man ein bisschen darüber nachdenken, was wir heute, 50 Jahre später, im Film eigentlich gewonnen – oder verloren haben.»
Womöglich war Martins Fortsetzung von Jervens Live-Präsentationen der Auslöser von Kinoprogrammen, die ebenfalls auf frühe Filme verschiedener Genres und einen Film-Erklärer setzten. In die Kategorie fielen thematisch die deutsche Produktion HERRLICHE ZEITEN (1950) mit dem Kabarettisten Günter Neumann als Erklärer und HALLO, DIE GROSSE WELTREVUE (1951) französischer Herkunft mit einem Off-Sprecher. Die Kombination von frühen Filmen, aus dem Off von einem Sprecher kommentiert, wurde sehr bald das Modell für Kinoprogramme aus dem Slapstickbereich. Dies waren vor allem Programme mit Filmen von und mit Charlie Chaplin, Karl Valentin sowie mit Pat und Patachon. Dazu gehören auch Robert Youngsons Kompilationsfilme ab THE GOLDEN AGE OF COMEDY (1958). Youngsons Streifen kamen alle in die bundesdeutschen Kinos, die ersten beiden auch in die Lichtspielhäuser der DDR. Jerven, Althoff und Martin dürften allerdings nicht die Vorbilder des US-Amerikaners Youngson gewesen sein.
Im vorliegenden Buch werden nur die Linien von live auftretenden Erklärern bis hin zu den ersten deutschen TV-Serien mit Slapstickfilmen verfolgt. Daher sind Kinoproduktionen mit Erklärern, vor der Kamera oder im Off, ein Thema, das zu gegebener Zeit in einem eigenen Buch betrachtet werden soll. Zwei Ausnahmen sind dennoch angebracht. Sie sind unmittelbar mit RARITÄTEN AUS DER FLIMMERKISTE und mit Werner Schwier verbunden.
Werner Schwier
Schwier kam am 28. Mai 1921 in Stadthagen als Sohn des späteren Sparkassendirektors August Schwier und seiner Ehefrau Auguste geborene Schwarze zur Welt. Früh musste er lernen, mit einer Körperbehinderung zu leben. Er war als Kind an Kinderlähmung erkrankt und konnte seither seinen linken Arm nicht mehr bewegen. Deswegen wurde er nicht zum Kriegsdienst eingezogen und konnte nach seinem Abitur ein Jurastudium in Marburg beginnen. Dort blieb er mindestens bis 1944. Nach Kriegsende wechselte er nach Göttingen, wo er auch anfing, Zeitungswissenschaften zu studieren (Interview mit Marlies Kirchner vom 6. Juli 2016 und Post an Schwier als «cand. iur.» in Marburg von 1941 bis 1944). Beide Studien schloss er nicht ab. Seine Interessen galten besonders dem Film und auch der Kultur, und das bestimmte seinen weiteren Lebensweg. «Mich hat alles interessiert, was mit dem Film zusammenhing – vor oder hinter der Kamera.» (General-Anzeiger für Stadthagen und den Landkreis Schaumburg vom 5. Januar 1979, Interview von Karlheinz Poll). Die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur von Aufbruch, Kulturhunger, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder geprägt, und dazu passte Schwiers nonkonformistische Karriere als freier Journalist, Schauspieler, Kabarettist, Publizist, Filmenthusiast, Drehbuchautor, Filmverleiher, Filmeinkäufer, Synchron-Fachmann und Slapstickspezialist.
Während seines Studiums in Göttingen lernte er die Kommilitonen Ernst Liesenhoff und Walter Kirchner kennen, die sich bald auch dem Film widmeten. Sie waren Mitglieder im Verein Studentische Filmfreunde – Filmclub Göttingen e. V., und sie verband ein unstillbarer Hunger nach qualitätsvollen ausländischen Filmen, die ihnen spätestens seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im Dritten Reich vorenthalten geblieben waren. Gemeinsam mit dem Film-Produzenten Hans Abich und dem Regisseur Rolf Thiele gehörten sie zu den «Harzer Rollern» (Interview mit Hanns Eckelkamp vom 13. März 1998). Seit Juni 1951 erschien die zunächst von Kirchner herausgegebene Filmclub-Zeitschrift Cinéaste. Schwier hatte zeitweilig die Schriftleitung inne, verfasste Artikel und war kurzzeitig auch Herausgeber. Nach einem ersten gemeinsamen Filmprojekt von Schwier und Liesenhoff für die Filmaufbau GmbH in Göttingen im Jahr 1951 gründete man im September 1952 gemeinsam den Filmverleih Neue Filmkunst. Dieser Verleih nahm zum Teil das Geschäftskonzept des 1960 gegründeten, zeitweise enorm erfolgreichen Atlas Filmverleihs von Hanns Eckelkamp vorweg. Liesenhoff und Schwier wirkten daran in unterschiedlichen Funktionen mit. Schwier war bis