Küsse lügen nicht. Kay Rivers
können.«
Gequält verzog Badger das Gesicht.
»Hast du etwa gedacht, das wird dir erlassen?« Jetzt konnte Kelly ein Grinsen nicht mehr unterdrücken. »Du weißt, dass ich dafür geradestehen muss.«
»Och Kelly . . .« Badger sah jetzt doch etwas schuldbewusst aus. »Ich wollte dich doch nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Hast du nicht.« Kelly startete den Wagen wieder. »Wie du ganz richtig sagtest, habe ich das selbst entschieden. Das drücke ich dir nicht aufs Auge. Aber du musst das Futter für Rex verdienen. Darauf bestehe ich. Rex soll nicht darunter leiden.«
»Cool.« Wenn Badger ein Talent hatte, dann selbst in für ihn gar nicht gut aussehenden Situationen noch etwas Gutes zu finden. »Dann sehen wir uns!« Winkend lief er mit Rex zum Eingang der Hundeschule.
Kelly schüttelte den Kopf. »Hast du dir da nicht vielleicht ein bisschen zu viel vorgenommen, Kelly Bennett?«, fragte sie sich selbst und seufzte.
Aber dann fuhr sie los und dachte nicht mehr daran. Denn mehr und mehr drehten ihre Gedanken sich wieder um Dale. Wie sie das eigentlich die ganze Zeit taten, seit Dale abgeflogen war.
Am liebsten hätte sie Dale alle halbe Stunde angerufen, aber sie wusste, dass sie Dale jetzt ein bisschen Zeit lassen musste. Und auch ein bisschen Raum, obwohl sie selbst gern jede Sekunde angekuschelt an Dale verbracht hätte. Was aber sowieso nicht gegangen wäre bei der Arbeit.
Ich habe alles hinter mir gelassen, als ich aus Maine weggezogen bin, hatte sie zu Dale gesagt, aber damals nicht gewusst, dass das bedeutete, dass Dale noch einmal nach Texas zurückmusste, um genau dasselbe zu tun, was Kelly bereits getan hatte.
Kelly hatte nichts in Maine zurückgelassen als schlechte Erinnerungen, sie hatte keinen Menschen auf der Welt, doch für Dale galt das nicht. Ihre Familie lebte immer noch in Texas, außerdem hatten die Richards Grundbesitz, der zum Teil auch Dale gehörte. Sie hatte sich lange Zeit nicht darum gekümmert, weil da irgendetwas gewesen sein musste, was sie Kelly nicht erzählte, aber da waren noch irgendwelche offenen Dinge, die zum Abschluss gebracht werden mussten, bevor Dale sich wirklich frei fühlen konnte. Jedenfalls war das Kellys Eindruck, auch wenn Dale das niemals zugegeben hätte.
Zuerst hatte Kelly gedacht, die größte Belastung für eine Beziehung mit Dale wäre Kathryns Tod – und das war auch tatsächlich eine Belastung, weil Dale sich immer noch die Schuld daran gab –, aber schon nach Kurzem hatte sich herausgestellt, dass Dales Familie auch nicht ganz ohne war.
Offenbar hatte Dale eine sehr gute Beziehung zu ihrem Vater gehabt, solange er noch lebte, aber niemals zu ihrer Mutter und Schwester. In Miami war sie weit genug weg von Texas, um das verdrängen zu können, und im Krieg war sie noch weiter weg gewesen, doch auch wenn sie sich immer so gab, als könnte sie nichts erschüttern, das entsprach nicht den Tatsachen. Familie war wichtiger für sie, als sie zugeben wollte.
Selbst Kelly hatte sich manchmal Gedanken über ihre Familie gemacht – ob ihre Eltern noch lebten, ob sie Geschwister hatte, vielleicht sogar Großeltern und andere Verwandte –, obwohl sie ohne jegliche Familie aufgewachsen war und absolut nichts über ihre Familie wusste. Sie war ein Findelkind.
Wie musste es da für jemanden sein, der zwar eine Familie hatte, sich aber nicht mit den Mitgliedern dieser Familie verstand?
So etwas konnte Kelly sich überhaupt nicht vorstellen.
3
»Du hättest alles hier haben können, alles«, sagte Dales Mutter in dem üblichen vorwurfsvollen Ton, in dem sie immer mit ihrer Tochter sprach. »Aber du wolltest ja nicht. Du wolltest etwas anderes.«
Die alte Leier. Warum habe ich gedacht, dass es anders sein würde? »Ja.« Dale versuchte, keine Miene zu verziehen. »Nicht jeder will das Gleiche. Das ist nun einmal so.«
Verächtlich zog ihre Mutter die Mundwinkel herunter. »Du wolltest unbedingt in den Krieg ziehen. Als ob das irgendetwas bringen würde.« Sie schaute so strafend, als hätte sie ihre Tochter gerade beim Stehlen erwischt oder dabei, wie sie sich als Teenager aus dem Haus schleichen wollte, um sich mit irgendwelchen jugendlichen Nichtsnutzen zu treffen und sich ins Koma zu saufen. »Obwohl du hier so viel zu tun gehabt hättest . . . Obwohl wir dich gebraucht hätten. Dringend gebraucht.«
Eine tiefe Traurigkeit erfasste Dale. »Dad hat mir erlaubt zu gehen. Er hat es verstanden«, sagte sie und musste gegen die Sehnsucht nach ihrem Vater ankämpfen. Wäre er jetzt nur hiergewesen . . .
»Und als er starb? Wie viel konnte er da noch verstehen?«, keifte Janice Richards. »Warum bist du nicht zurückgekommen?« Wie immer klang ihre Stimme rechthaberisch und hysterisch. Es ging ihr gar nicht um echte Argumente, es ging ihr nur darum, ihrer Tochter Schuldgefühle einzupflanzen.
»Kathryn ist . . . Wir waren im Irak, und dann –« Dale schluckte so unauffällig wie möglich. Sie wollte nicht mehr daran denken, sie wollte sich beherrschen, sie musste sich beherrschen.
»Dann ist sie auch gestorben«, sagte ihre Mutter hart. »Es gab keinen Grund mehr für dich, nicht zurückzukommen, aber du hast es trotzdem nicht getan. Du hast dich der Verantwortung einfach entzogen, du hast dich gedrückt.«
Ja, dachte Dale. Ich habe mich gedrückt. Ich bin schwer verwundet, fast erschossen worden, habe für mein Land gekämpft und die Liebe meines Lebens verloren. Ich hatte ein tolles Leben, denn ich habe mich ja vor allem gedrückt und nur im Sessel gesessen.
»Wenn du meinst, Mutter«, sagte sie. »Wenn du das so siehst.«
»Ja, ich sehe es so«, gab Janice Richards beinah trotzig zurück. »Die erste Verantwortung, die man hat, ist die gegenüber der eigenen Familie. Aber das war dir ja egal.«
»Bedeutet dir unser Land nichts?«, fragte Dale, und auch wenn sie das nicht wollte, klang ihre Stimme nun etwas aufgebracht. »Hätte ich mich vor dieser Verantwortung drücken sollen?«
»Was ist ein Land wert ohne Familie?«, fragte ihre Mutter zurück. »Die Familie ist immer noch das Wichtigste. Ohne sie gibt es kein Land, keine Zukunft, gar nichts.«
Dale atmete tief durch und seufzte. Wie sollte sie dem widersprechen? Hatte ihre Mutter recht? Aber dann . . . dann war Kat umsonst gestorben. Nein! Dale schrie innerlich auf. Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! »Wenn es kein Land mehr gibt, in dem die Familie in Ruhe und Frieden leben kann, was dann?«, fragte sie.
»Du hast immer deine eigenen Prioritäten gesetzt.« Es lag nicht unbedingt in Janice Richards’ Persönlichkeit, auf die Argumente anderer einzugehen. Dafür hörte sie ihre eigenen zu gern. »Die Familie hat dich nie interessiert. Du hättest sie jederzeit aufgegeben für deine Abenteuerlust. Und hast du ja auch. Kaum dass du erwachsen warst.«
Abenteuerlust? Ja. Ja, so etwas war es sicher auch, dachte Dale. Oder vielleicht auch so eine Art Flucht. Ich hatte schon fast vergessen, wie es hier war, bevor ich gegangen bin. »Ich konnte erst mit achtzehn zur Armee gehen«, sagte sie. »Sonst wäre ich schon früher gegangen.«
»Das weiß ich.« Wie schon so viele Male zuvor bei diesem Thema klang die Stimme von Janice Richards jetzt bitter. »Das ist genau das, was ich meinte. Du hast nie daran gedacht, was aus den anderen wird, was aus uns wird. Du hast immer nur an dich gedacht, immer nur deine eigenen Ziele verfolgt.«
»Du hattest immer noch Lainey«, sagte Dale, auch wenn sie sich nicht viel davon versprach. Auch dieses Argument hatten sie schon viel zu oft durchgekaut.
»Lainey war zu jung, als dein Vater starb«, behauptete ihre Mutter wie immer. »Viel zu jung. Sie hat getan, was sie konnte, aber es war zu viel für sie. Deine und ihre Verantwortung zu tragen, Vater zu ersetzen, alles zu übernehmen.«
»Sie ist nur ein Jahr jünger als ich«, erinnerte Dale sie an die Tatsachen.
Wenn sie so zurückdachte, hatte sie ihre Schwester Lainey immer als sehr stark empfunden, obwohl sie die jüngere war. Zwar sah Lainey äußerlich nicht so aus, aber innerlich