Küsse lügen nicht. Kay Rivers

Küsse lügen nicht - Kay Rivers


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      War sie eine ehemalige Freundin oder eine neue? Oder jemand, mit der Dale immer Kontakt gehalten hatte, die sie immer einmal wieder besucht hatte? Seit Kathryn tot war, war sie ungebunden, und warum sollte sie nicht . . .

      Mühsam unterdrückte Kelly ein Schlucken. Hier in Miami kannten Dale vielleicht zu viele Leute, vielleicht wollte sie sich da keine Blöße geben, jedenfalls nicht zu oft und nicht mit zu vielen Frauen. Da war eine Frau in Texas doch praktisch. Das war so weit weg, dass die Gefahr der Entdeckung gegen Null tendierte.

      Dale war eine sehr leidenschaftliche Frau, eine sehr . . . kraftvolle Frau. Vielleicht genügte ihr eine Frau nicht, vielleicht brauchte sie mehrere, eine hier, eine dort, eine noch woanders . . . Als Soldatin war sie immer wieder an verschiedenen Standorten stationiert gewesen. Da hatte sie ja bestimmt auch nicht wie eine Nonne gelebt.

      Immer mehr Gedanken drehten sich in Kellys Kopf. Sie sah Dale wieder vor sich, wie sie damals im Pearl an der Tür gelehnt hatte, in Jeans und Cowboystiefeln, eine Augenweide. Das war nicht nur ihr aufgefallen, dessen war sie sicher.

      Auch wenn sie nicht speziell darauf geachtet hatte, aber ganz bestimmt waren Dale viele Blicke gefolgt, als sie an diesem Abend gemeinsam mit Kelly das Pearl verließ. Und anscheinend hatte Dale sich dort weder mit einer Frau verabredet gehabt noch war sie auf irgendwelche Angebote eingegangen oder hatte danach gesucht.

      Aber das hieß gar nichts. Möglicherweise hatte Kelly Dale nur an dem gehindert, was sie eigentlich vorgehabt hatte, was ihre übliche Routine war. Vielleicht hatte sie ihre Pläne geändert, als Kelly auf sie zukam. Weil sie Kelly vor dieser anhänglichen Tanzpartnerin retten wollte, die sie vorher schon in Vorfreude auf später eingehend begrabscht hatte.

      Mit wem wäre Dale nach Hause gegangen, wenn Kelly nicht dagewesen wäre, wenn sie sich nicht getroffen und zum ersten Mal festgestellt hätten, dass sie nicht nur für dieselbe Firma arbeiteten, sondern auch beide auf Frauen standen? Wie oft ging Dale ins Pearl? Regelmäßig? Kelly war damals zum ersten Mal dagewesen, aber Dale bestimmt nicht. Weil sie nicht gerade erst nach Miami gezogen war wie Kelly, sondern schon lange dort arbeitete.

      Was, wenn Dale jede der Frauen im Pearl gekannt hätte, wenn sie mit jeder schon mal . . . Es wäre ihr gutes Recht gewesen, sie war Single.

      Nun ja, die Frau, die Kelly unbedingt hatte abschleppen wollen, hatte Dale nicht gekannt. Wenigstens eine. Aber das beruhigte Kelly jetzt auch nicht.

      Texas war nicht Miami, aber bestimmt gab es da auch Bars wie das Pearl. Oder so was Ähnliches. Und Dale stammte aus Texas, kannte sich da aus. Selbst wenn diese Frau, die da im Hintergrund zu hören gewesen war, vielleicht die war, bei der Dale wohnte, aber das musste nicht die einzige Bekanntschaft sein, die Dale jetzt da vor Ort ›auffrischte‹.

      Sie war so attraktiv. So wahnsinnig attraktiv. Das konnte niemand übersehen.

      Kelly wurde fast irre. Sie wollte Dale ja vertrauen, das wollte sie wirklich. Und sie hatte ihr auch vertraut. Bis zu diesem Anruf. Bis zu dieser Stimme da aus dem Hintergrund. Bis zu Dales abruptem Auflegen ohne ein Wort.

      Das waren einfach zu viele Indizien. In einem Krimi wären die Detektive jetzt schon hellhörig geworden und hätten sich auf die Spur gesetzt.

      Aber Dale war keine Kriminelle. Die Polizei war da wohl der falsche Ansprechpartner. Das war eine Privatsache.

      Sie blickte auf die Uhr. Sie konnte heute noch fliegen, aber dann würde sie mitten in der Nacht ankommen. Genau zu dem Zeitpunkt, wo alle Leute bereits im Bett lagen. Und sie brauchte ja auch einen Mietwagen, um vom Flugplatz zur Richards Ranch zu fahren.

      In einer Großstadt war das sicher kein Problem, aber in einem Nest in Texas, dahinten in der halben Wüste? Da säße sie dann wahrscheinlich um drei Uhr morgens auf dem Flugplatz fest, bis der erste Schalter aufmachte.

      Also musste sie bis morgen warten.

      Sie würde den ersten Flug nehmen.

      5

       I ch muss Kelly zurückrufen. Ich muss ihr erklären, warum ich vorhin so kurzangebunden war, so schnell aufgelegt habe.

      Dale machte sich regelrechte Vorwürfe, während sie in ihr altes Zimmer hinaufging. Die breite Holztreppe knarrte etwas, sie war nicht mehr die jüngste, aber die massiven dunklen Stufen, die wie aus Eisenbahnbohlen geschnitten schienen, verliehen Sicherheit. Kein modernes Haus, kein neues Haus in der Stadt konnte so etwas bieten.

      Eigentlich hatte Dale sich nie Gedanken über ihr Apartment in Miami gemacht, sie hatte es einfach so gekauft, als ein Makler es ihr vorschlug. Die Kriterien waren mehr in Richtung Einsamkeit gegangen. Sie wollte in dieser Wohnung ungestört sein, nicht einfach so überfallen werden können. Sie wollte sich zurückziehen wie in eine Höhle. Schönheit, dekorative Gestaltung oder Gediegenheit wie die bei einem alten Ranchhaus waren für sie keine Kriterien gewesen.

      Jetzt erinnerte sie sich wieder daran, wie sie auf dieser Treppe gespielt hatte, wie sie auf dem blankpolierten Geländer heruntergerutscht war, johlend, lachend.

      Lainey hatte sich ihr dabei nie angeschlossen. Immer hatte sie Angst gehabt, dass sie vom Geländer herunterfallen könnte, sich wehtun könnte, sich blaue Flecken holen. Sie war schon als kleines Kind sehr wehleidig gewesen. Und sehr eitel.

      Jings hingegen . . . Sie lächelte. Er war ein Nachbarsjunge, der oft herübergekommen war. Eigentlich war er auf den Namen Jordan getauft, aber sie hatte ihn immer nur Jings genannt. Alle nannten ihn so. Und in der Schule zogen sie ihn damit auf, dass das genauso klang wie Jinx, dass er das Unglück anzog oder es wie einen Fluch verbreitete.

      Dabei war sein einziges Unglück gewesen, dass er arm war. Dass seine ganze Familie arm war. Er war ein begabter Junge gewesen, aber auf eine höhere Schule konnten sie ihn nicht schicken. So hatte er sich immer Unsinn ausgedacht, weil er geistig nicht ausgelastet war.

      Dales Vater hatte Jordans Familie angeboten, für seine Ausbildung zu bezahlen, aber um dieses Angebot anzunehmen, waren sie zu stolz gewesen. Sie wollten das Geld dafür mit eigener Hände Arbeit verdienen. Das war jedoch nicht der einzige Grund, sie hielten auch nicht besonders viel von Bildung. Der Großvater meinte, wenn man die Bibel lesen könnte, wäre das genug.

      So hatte Dales Vater dem Jungen dann wenigstens ein Stück Land vermacht. »Wenn er erwachsen ist, kann er es verkaufen und vielleicht doch noch zur Schule gehen«, hatte er gesagt.

      Das hatte Jings aber nie getan. Er war auf dem Stück Land geblieben und versuchte, dort nach Öl zu bohren, auch als das schon völlig aussichtslos war.

      Ob er immer noch dort war? fragte Dale sich. Vielleicht sollte sie ihn einmal besuchen. Auch wenn sie ihn jahrelang nicht gesehen hatte, kam er ihr viel mehr wie Familie vor, als das bei ihrer tatsächlichen Familie, dem Teil, der noch übrig war, der Fall war.

      Aber jetzt musste sie erst einmal mit sich selbst klarkommen. Sie zögerte kurz, bevor sie ihr altes Zimmer betrat, legte nur die Hand auf den Türknopf und wartete ab, ob sich irgendein Gefühl bei ihr einstellen würde.

      Es war so lange her. Das hier war ihr Kinderzimmer gewesen, und mittlerweile hatte sich so viel getan, hatte sie so viel erlebt, hatte sich so viel verändert. Sie überlegte, ob sie nicht vielleicht doch lieber ein Hotelzimmer nehmen sollte. Doch dann drehte sie den Knopf herum und stieß die Tür auf.

      Warum ihre Mutter dieses Zimmer nach so vielen Jahren immer noch nicht einem anderen Zweck zugeführt hatte, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht lag es daran, dass das Haus so groß war. Dass es so viele Zimmer hatte, dass eins davon ruhig leerstehen konnte. Sie seufzte. Vermutlich hatte die schöne Janice sich gar keine Gedanken darüber gemacht.

      »Ich habe alles geputzt, Señora«, sprach sie da auf Spanisch eine Stimme von hinten an. »Alles sauber. Jeden Tag.«

      Auch in Florida war Spanisch nützlich, und hier in Texas fast noch mehr, wegen der mexikanischen Grenze, die hier in Presidio vor der Haustür lag. Also antwortete Dale der älteren Frau, die sie angesprochen hatte, auch


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