Identität: Christ. Orientierung: schwul. Lebensstil: enthaltsam.. Wesley Hill
zu dem herausfordernden, entbehrungsreichen Gehorsam verpflichtet, ihr homosexuelles Verlangen nicht zu nähren – weder durch private Fantasien noch durch körperliche Beziehungen zu anderen schwulen oder lesbischen Menschen.
Martin Hallett ist selbst ein homosexueller Christ, der einen Dienst für schwule und lesbische Menschen in Großbritannien namens True Freedom Trust leitet. Ihm zufolge gibt es „vermutlich fast so viele Christen mit homosexuellen Gefühlen, die nicht glauben, dass gleichgeschlechtlicher Sex für Christen richtig ist, wie es homosexuelle Christen gibt, die dessen Akzeptanz propagieren“3. Er schreibt weiter:
Einer meiner Freunde in Schweden (Erik) ist lutherischer Pastor. Er glaubt an die traditionelle biblische Lehre über Sexualität und empfindet selbst homosexuell. Bereits zu Beginn seiner Berufung als ordinierter Geistlicher beschloss er, mit seiner Sexualität stets offen umzugehen. […] Je mehr Evangelikale sich öffentlich dazu bekennen, desto weniger hoch wird der Preis dafür erscheinen. Und ich glaube, dass es eine ungeheure Auswirkung auf Gottes Reich haben wird […].
[Ich möchte] Gemeindeleiter, die homosexuell empfinden, aber glauben, dass gleichgeschlechtlicher Sex falsch ist, ermutigen, offener zu sein. Menschen wie Erik […] stellen keine winzige Minderheit im Hinblick auf die Homosexuellen in der Gemeinde dar. […] Ich wünschte, ihre Stimme könnte gehört werden, wenn sie sagen: „Wir glauben, dass unsere Homosexualität Teil unseres Wertes und unserer Begabung für die Gemeinde ist, aber gleichgeschlechtlicher Sex ist Sünde.“ Welchen Unterschied würde das für das Leben, das Zeugnis und die Zukunft des Leibes Christi machen.4
Zusammen mit Martin Hallett und seinem Freund Erik möchte ich auf meine bescheidene Weise dazu beitragen, das Schweigen zu brechen, das in vielen Gemeinden herrscht. Es ist kein Geheimnis, dass eine große Zahl homosexueller Christen Angst empfindet angesichts der Vorstellung, ihren Glaubensgeschwistern von ihrer sexuellen Neigung zu erzählen. Diejenigen, die ihren inneren Kampf offenlegen, bekennen häufig, dass sie ihn aus Angst und Scham jahrelang totgeschwiegen haben.
Keineswegs will ich in irgendeiner Weise zu diesem weitverbreiteten Schamgefühl beitragen. Vielmehr hoffe ich, dass dieses Buch andere homosexuelle Christen dazu ermutigt, den riskanten Schritt zu wagen und sich anderen Christen zu öffnen. Wenn sie das tun, werden sie möglicherweise feststellen, dass es geistlich gesünder ist, in vollem Umfang gekannt zu werden als hinter verschlossenen Türen zu verharren; dass das Licht besser ist als die Finsternis. Zumindest habe ich diese Erfahrung aus Gnade gemacht.
Während ich diese Überlegungen aufschrieb, dachte ich oft an eine Szene aus Richard Attenboroughs Shadowlands, einem eindrucksvollen Film über die späte Liebe zwischen C. S. Lewis und Joy Davidman. Ganz am Ende des Films hat Lewis die schlimmsten Kämpfe in seiner Trauer über Joys noch nicht lange zurückliegenden Krebstod durchlebt. Er hat an seinem Glauben an Gott festgehalten. Doch er wirkt älter, der Welt überdrüssiger und zynisch gegenüber einfachen Lösungen für das, was er früher als das „Problem des Schmerzes“ bezeichnet hatte. „Ich habe keine Antworten mehr“, sagt er, „nur das Leben, das ich gelebt habe.“ In vielerlei Hinsicht empfinde ich ähnlich im Hinblick auf das, was ich auf den folgenden Seiten geschrieben habe. Auf die Frage, wie man als homosexueller Christ gut vor Gott und mit anderen leben kann, ist am Ende des Tages das Leben, das ich durch die Kraft des Evangeliums zu leben versuche, die einzige „Antwort“, die ich zu bieten habe.
Mit meinen Anfang dreißig fühle ich mich noch sehr jung und spüre die Notwendigkeit, zu wachsen – sowohl in meinem Verständnis von christlicher Nachfolge als auch in meinem Verständnis von menschlicher Sexualität. Es liegen noch immer Wege für eine mögliche Heilung vor mir, die ich erkunden will. Ich hoffe auch, dass ich in Zukunft weitere Seelsorge und geistliche Anleitung erhalten werde. Aber aus ebendiesem Grund, dass ich mich noch inmitten der schmerzhaften und verwirrenden Phase befinde, in der ich versuche, eine Identität für mich zu formen als Christ, der mit Homosexualität ringt, eben aus diesem Grund ist es mir vielleicht möglich, anderen eine hilfreiche Perspektive zu bieten – anderen, die wie ich ohne jeden Zweifel wissen, dass sie Jesus nachfolgen wollen, und die gleichzeitig Tag für Tag mit homosexuellem Verlangen ringen.
Hauptsächlich schreibe ich also als homosexueller Christ für andere homosexuelle Christen. Ich schreibe für diejenigen, die mit dem Gefühl aufgewachsen sind, in gewisser Form Aliens zu sein, und die Mühe haben herauszufinden, warum. Ich schreibe für schwule und lesbische Christen, die Angst davor haben, was ihre Eltern denken mögen, wenn sie die Anziehung entdecken, mit denen ihre Söhne oder Töchter seit Jahren ringen. Ich schreibe für die schwulen und lesbischen Christen, die jemand Heterosexuelles geheiratet haben in einem letzten verzweifelten Versuch, ihre sexuelle Orientierung zu ändern; die feststellen, dass ihr homosexuelles Verlangen heute noch genauso stark ist wie eh und je. Ich habe all die schwulen und lesbischen Christen im Kopf, die hinter verschlossenen Türen leben; die verzweifelt ihren Glaubensgeschwistern ihr tiefstes Geheimnis mitteilen wollen, sich dazu aber nicht in der Lage fühlen.
Ich schreibe für Leute in ihren späten Zwanzigern oder sogar Dreißigern und Vierzigern und darüber hinaus, die zum ersten Mal in ihrem Leben das Erwachen homosexueller Impulse und homosexuellen Verlangens erleben; die zu Tode erschrocken sind, weil sie sich fragen, was das bedeutet und wie sie damit umgehen sollen. Ich schreibe für schwule und lesbische Menschen, die verletzende Ablehnung von Christen erlebt haben und dennoch überzeugt sind, dass Gott will, dass sie versuchen, ein reines und treues Leben innerhalb der fehlerhaften und oftmals verletzenden Gemeinschaft der Gemeinde zu führen. Ich schreibe für homosexuelle Menschen, die versucht haben – und versuchen –, „heterosexuell zu werden“ und keinen Erfolg damit haben; die sich zum x-ten Mal fragen, was genau Gott eigentlich von ihnen will.
Aber ich habe auch andere vor Augen – Eltern, Brüder und Schwestern, Verwandte, die nicht zur engsten Familie gehören, gute Freunde, Pastoren, Jugendleiter und Seelsorger –, die homosexuellen Christen nahestehen und helfen wollen, sie in Richtung Heilung, Ganzwerden und geistlicher Reife zu führen. Ich hoffe, dass auch sie dieses Buch lesen und vom Nachdenken über die Erfahrungen, die ich beschreibe, profitieren werden.
Und ich hoffe, dass es andere gibt, die „zufällig mitbekommen“, was ich schreibe – andere, die selbst lang und erbittert mit andauerndem und ungewolltem Verlangen oder anderen Lasten kämpfen, die in mancher Hinsicht denen von schwulen und lesbischen Christen ähnlich sind – Substanzabhängigkeiten, Essstörungen, mentalen und emotionalen Störungen verschiedener Art. Wenn Christen in diesen und anderen Umständen etwas von dem, was ich sage, auf ihre eigenen Situationen anwenden können, freue ich mich. Der Kampf eines Christen mit Homosexualität ist in vielerlei Hinsicht einzigartig, aber nicht völlig. Die Dynamik von menschlicher Sündhaftigkeit sowie göttlichem Erbarmen und göttlicher Gnade funktionieren für uns alle gleich, unabhängig von den konkreten Versuchungen oder Schwächen, mit denen wir konfrontiert sind.
Meiner Erfahrung nach hat mich mein Bestreben, als schwuler Christ meinen Glauben zu leben, in drei hauptsächliche Kämpfe verwickelt. Der erste bestand und besteht in dem Ringen darum, zu verstehen, was genau das Evangelium von homosexuellen Christen fordert; zu verstehen, warum es zu verlangen scheint, dass ich meinem homosexuellen Verlangen nicht nachkomme – und zu verstehen, wie das Evangelium mich tatsächlich dazu befähigt, diese Forderung zu erfüllen. Das erste Kapitel dieses Buches, „Von einer Geschichte geprägt leben“, widmet sich diesen Fragen.
Zweitens: Als Christ heftiges homoerotisches Verlangen zu erleben, bedeutet für mich Einsamkeit – Gefühle der Isolation, Angst davor, für den Rest meines Lebens mit meiner Gebrochenheit allein zu sein, Angst, dass niemand langfristig da sein wird, der diesen Weg mit mir geht. Die meisten homosexuellen Christen, die davon überzeugt sind, dass gleichgeschlechtlicher Sex keine Option ist, werden, wie ich vermute, zu dem Schluss kommen, dass das Zölibat die beste oder einzige Option ist, um ein Leben zu führen, das der Forderung des Evangeliums im Hinblick auf Reinheit gerecht wird. Und aufgrund dessen werden die meisten schwulen oder lesbischen Christen Einsamkeit erleben.
Es stellen sich also folgende Fragen: Wie können