Französisch verlernen. Elisa Diallo
keine Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten. Es ist nur so, dass ich nicht glaube, dass das Gras auf der anderen Seite, egal auf welcher, grüner ist. In den letzten beiden Jahren haben sich einige meiner schwarzen Freunde entschlossen, woanders zu leben, ein Pariser Freund lebt jetzt in London, eine Londoner Freundin ist nach Berlin gegangen, Freunde aus Frankfurt leben neuerdings in Barcelona, manch einer hat Berlin verlassen, um in Tel Aviv zu leben. Alle wollten sich nicht mehr fremd im eigenen Land fühlen. Denn Rassismus gibt es überall, und überall ist er ähnlich, abgesehen von ein paar Abweichungen, die historisch begründet sind. Seit dem Mord an George Floyd demonstrieren überall auf der Welt immer mehr Menschen gegen Rassismus, was bedeutet, dass überall auf der Welt Menschen leben, die unter Rassismus leiden und dagegen aufbegehren.
Vergleiche ich Frankreich, Deutschland und die Niederlande, Länder, die ich kenne, weil ich dort gelebt habe und zum Teil noch lebe, scheint mir Deutschland das Land zu sein, dass noch am ehesten den antirassistischen Kampf gewinnen kann. Rassismus ist kein marginales Phänomen, das nur eine Minderheit betrifft. Auch in Deutschland wächst der Gegendruck. Aber im Gegensatz zu Frankreich und den Niederlanden werden in Deutschland antirassistische Stimmen zumindest gehört und werden sogar mit jedem Tag lauter.
Im Sommer 2018 war ich vielleicht beunruhigt, aber nicht pessimistisch. Nicht umsonst habe ich mein Buch mit den Worten beendet, dass ich an ein multikulturelles Deutschland glaube und überzeugt bin, dass Deutschland den Rassismus besiegen wird. Ich gehe nach wie vor die Wette ein, dass es gelingt, und auch wenn ich 2020 vielleicht etwas skeptischer bin, glaube ich daran.
Mannheim, Oktober 2020
Ausgangspunkt
Im Juni 2017 wurde ich Deutsche. Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, weil sich die Möglichkeit ergab, und weil es vergleichsweise einfach war. Seit acht Jahren lebte ich in Deutschland, und ich fühlte mich als Europäerin. Ich hätte es Jahre früher tun können, oder woanders, Niederländerin in Holland werden, wo ich zuvor mehr als elf Jahre gelebt hatte. Bis dahin hatte ich nie das Bedürfnis verspürt, und vor allem war ich mir sicher, ich könnte nie eine andere Nationalität annehmen, indem ich die meiner Geburt ablegte. Ich zahle meine Steuern in Deutschland, eigentlich sollte ich auch in diesem Land wählen können, sagte ich mir oft. Wenn man mir jedoch antwortete: »Du brauchst nur die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen«, erwiderte ich: »Unmöglich. Meinen französischen Pass abgeben? Kommt nicht in Frage.« Punkt aus. Warum »kommt nicht in Frage«? Weil ich mich Frankreich verbunden fühlte, meinem Geburtsland, in dem ich aufgewachsen war, das mich geprägt hatte. Die Tatsache, keinen französischen Pass zu besitzen, hätte allerdings nichts an dieser Verbundenheit geändert, ich würde weder meine französischen Erinnerungen verlieren noch die Kultur meiner Herkunft. Alles, was ich gelernt hatte, gehört, rezitiert, gesungen, die Musik, zu der ich getanzt hatte, alles, was mich zum Lachen gebracht oder mich aufgewühlt hatte, all meine Prägungen und die Menschen, mit denen ich sie teilte, und vor allem, ja vor allem die Sprache, meine Sprache, zu der ich vom ersten Moment an ein inniges, symbiotisches Verhältnis hatte, alles, was ich gelesen und geschrieben hatte: all das hatte nichts mit einem Pass zu tun.
Und dennoch war für mich die schlichte Tatsache, dass ich den Pass notfalls nicht mehr mit Drohgebärde schwenken könnte, um jeden Zweifel, jede Infragestellung meines »Französischseins« ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen, undenkbar, ja schwindelerregend. Als würde ich mitten im Kampf die Waffen strecken und mich verunstalten lassen. Was mich abhielt, war weder meine tiefe Verbundenheit mit dem Land noch ein Gefühl von Loyalität oder Patriotismus. Was mich an meinen französischen Papieren festhalten ließ, war letztlich Angst und die Frage der Rechtmäßigkeit – ein Problem, das sicher viele Franzosen mit einem Erbe wie dem meinen teilen, all die mit sogenanntem »Migrationshintergrund«, und besonders jene, die regelmäßig mit der subtilen Hinterfragung ihrer nationalen Zugehörigkeit konfrontiert sind, weil man ihnen ihre Herkunft auf Anhieb ansieht. Sind Franzosen mit afrikanischen Eltern in der Lage, ohne Zögern zu sagen: »Ich bin Franzose«? Ohne den kleinsten Vorbehalt, ohne ein leichtes Erzittern der Seele in dem kurzen Moment, in dem man erwartet, dass Widerspruch kommt oder zumindest Fragen? Manchmal rechne ich damit, erwarte es geradezu, vielleicht täusche ich mich ja.
Ich bin mir dieses Unbehagens relativ spät, erst nach einigen Jahren im Ausland, bewusst geworden, und zwar in dem Moment, als ich anfing, mich von meiner französischen Identität zu lösen, da lebte ich schon mein halbes Leben nicht mehr in Frankreich. Erst als mich die Frage der nationalen Zugehörigkeit nicht mehr so beherrschte, dämmerte mir, wie sehr ich, fast besessen, schon immer an ihr festgehalten hatte.
Dieses Unbehagen verwandelte sich im Zuge des Brexits und des französischen Präsidentschaftswahlkampfes 2017 in Panik, zu einer Zeit, als es nicht mehr völlig abwegig schien, dass die extreme Rechte an die Macht kam. Es handelte sich zunächst um eine unbestimmte Unruhe, der ich mir erst bewusst wurde, als ich begriff, dass ich sie schon lange mit mir herumtrug. Ich konnte es nicht klar benennen, aber was mich im Innersten seit dem aufkommenden Populismus in Frankreich, England sowie überall in Europa beunruhigte, war die Möglichkeit, jemand könnte eines Tages in Betracht ziehen, mich aus Frankreich auszuweisen. Als Kind von Immigranten, wenn auch nur über ein Elternteil, gehörst du nicht mehr zu uns, was natürlich stillschweigend bedeutet, dass du nie dazugehört hast – so klang die Botschaft.
Schon das französische Gesetz zur Verwirkung der Staatsbürgerschaft vom Dezember 2015, mit dem die Möglichkeit zur Ausweisung aus Frankreich auch auf Menschen mit Migrationshintergrund ausgeweitet wurde, die schon seit ihrer Geburt in Frankreich lebten, hatte mich erschüttert. Zunächst konnte ich es einfach nicht glauben, aber dann kochte die Wut in mir hoch. Zu dieser Zeit fühlte ich mich sehr allein, denn keiner meiner Angehörigen teilte mein Entsetzen. In meinen Augen war das ein unverzeihlicher Verrat der damaligen sozialistischen Regierung unter François Hollande (in dieser Zeit schwor ich mir wütend, nie wieder die Sozialistische Partei zu wählen). All jene, so dachte ich, die wie ich seit jeher ahnten, dass ihre Zugehörigkeit zu Frankreich jederzeit in Frage gestellt werden könnte, mussten diesen symbolischen Schritt (dass er symbolisch zu verstehen war, darin waren sich alle einig) als Bestätigung ihrer Zweifel interpretieren. Es gibt eben die wahren Franzosen, und es gibt die anderen, die auf Bewährung da sind und vom guten Willen des Staates abhängen, der sich wiederum dem »Volk« mit seinen Launen und Befindlichkeiten beugt. Nach dem Erlass dieses Gesetzes schien mir plötzlich alles möglich.
Es lag zweifellos an dieser Mischung aus Angst und Wut, dass in mir der Wunsch reifte, mich einer anderen Zugehörigkeit zu vergewissern – sozusagen einer Back-up-Identität. Beim französischen Generalkonsulat in Frankfurt, wo ich zu jener Zeit meinen französischen Pass verlängert hatte, erfuhr ich rein zufällig, dass ich problemlos zwei europäische Staatsangehörigkeiten besitzen könnte, die deutsche und die französische. Das deutsche Gesetz erlaubte seit 2014 die doppelte Staatsbürgerschaft. Diese gute Nachricht war an mir vorbeigegangen. Ein Geschenk des Himmels. Ich wollte nicht gleich deutsche Staatsbürgerin werden, aber nach und nach kamen mein emotionales und mein rationales Ich zu demselben Schluss. Schließlich machte ich den Schritt, getrieben von der Angst, ganz ohne Zugehörigkeit dazustehen, und von der Gewissheit, damit nichts zu verlieren. Ich überschritt eine Linie, die zu überschreiten mir lange unmöglich erschienen war, um am Ende eine andere Nationalität anzunehmen als die, die man mir vererbt hatte.
Es war eine Ironie der Geschichte, dass mir 2017, gerade einmal siebzig Jahre nach der Nazi-Katastrophe, Deutschland als das einzige Land erschien, zumindest in Europa, in dem ich als schwarze Tochter eines Immigranten ohne Angst leben konnte. Was hätten wohl meine Großeltern dazu gesagt? Sie und auch meine Mutter waren der Meinung, dass sich Deutschland noch immer von seinem Nazi-Fieber und seinem Rassismus erholte, wenn nicht bis in alle Ewigkeit, so doch für die nächsten Generationen. Die neuen Deutschen, so hieß es, seien gewiss korrekte Leute, aber reichte das, um für die Demokratie und eine multikulturelle Gesellschaft eine Lanze zu brechen? Bis dahin sei es noch ein weiter Weg, ein sehr weiter. Frankreich dagegen, das sei das Land der Menschenrechte, eine integrierende Nation, gefeit vor Rassismus, wenigstens seit dem Ende des Kolonialismus. Das Land, in dem (im Gegensatz zu Deutschland!) alle innerhalb seiner Grenzen geborenen Menschen dazugehören, das Land der republikanischen Idee, für die