Französisch verlernen. Elisa Diallo
wie mit den Defiziten der eigenen Eltern, die einen peinlich berühren, wohingegen man sie bei anderen Eltern kaum wahrnimmt. Deutschland ist nicht das Elternteil, das mich zurückgewiesen hat, allerhöchstens eine alte Freundin der Familie, die mich aufgenommen hat und bei der ich ein und aus gehen kann, wann ich will. Erst mein freiwilliges Exil und der Abstand haben es mir ermöglicht, über die problematischen und schmerzlichen Familienbande nachzudenken, die mich seit jeher belasten. Paradoxerweise habe ich den Eindruck, mich von ihnen zu befreien, indem ich andere Verbindungen hinzufüge und damit meine Familienbande verkompliziere. Über die Jahre bin ich von der afrikanischen Immigrantentochter in Frankreich über die Ausländerin in den Niederlanden in Deutschland zur Deutschen mit europäischem Hintergrund geworden. Ich bin Französin, Deutsche, Afro-Europäerin, ohne mich wirklich als etwas von allem zu fühlen.
In dem Jahr zwischen dem Antrag auf Einbürgerung und dem Staatsakt zur Aufnahme in die deutsche Gemeinschaft wollte ich Tag für Tag, vom ersten bis zum letzten Tag, all jene diffusen Gedanken aufrollen, die mich seit jeher beherrschen, und ihre Spur bis in die dunkelsten Winkel uralter Ängste und Gefühle verfolgen: all jene diffusen Gedanken zum europäischen Rassismus, seinen Erscheinungsformen und seiner Zukunft, was mich mit Frankreich verbindet, der Begriff der Staatsbürgerschaft und die symbolische Bedeutung von Gemeinschaft, der ewige Wunsch, sich zugehörig zu fühlen, und auch und vor allem mein Erbe und was ich davon weitergeben würde. Dieses Jahr war eine lehrreiche Reise.
Mannheim
Die Entscheidung war gefallen. Den genauen Zeitpunkt habe ich heute nicht mehr im Kopf, aber wenn ich mich einmal entschieden habe, schreite ich immer schnell zur Tat. Dieses Vorhaben, das mir noch vor einigen Monaten unmöglich erschien, konnte ich jetzt gar nicht schnell genug umsetzen.
Ich wollte mich unbedingt an den Tag erinnern, an dem ich den Prozess in Gang setzte, und wählte den Ersten des Folgemonats. Am 1. Februar 2017 hatte ich das erste Telefonat – es sollten noch weitere Gespräche folgen – mit einem Mitarbeiter der Ausländerbehörde der Stadt Mannheim, wo ich seit vier Jahren lebte. Eine Frau ging ans Telefon. Keine Ahnung warum, aber ich stieg etwas holperig in das Gespräch ein. Vielleicht weil ich mit der Ausländerbehörde sprach, die einen fremden Akzent und sprachliche Fehler erwartet. Ich konzentrierte mich besonders auf die Artikel, und meine Gesprächspartnerin schien angenehm überrascht zu sein, denn die meisten »Klienten« können sich wahrscheinlich nur schwer auf Deutsch verständlich machen. Ich hingegen spreche die Sprache fast akzentfrei. Und trotzdem schämte ich mich ein bisschen, womöglich weil ich am Telefon nichts als eine Ausländerin, eine Migrantin war, eine Bittstellerin. Aber was soll’s, dachte ich mir, diesen schwierigen Einstieg würde ich überleben. Also lächelte ich freundlich (angeblich kann man das am Telefon hören) und nannte meinen Namen und kurz den Grund meines Anrufs. Ich stammelte meine etwas zu langen Sätze, und da die Frau mich nicht unterbrach, glaubte ich, sie wolle mir helfen.
Laut und deutlich stieß ich hervor: »Ich möchte Deutsche werden.« Und präzisierte: »Ich möchte gerne die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.« Mich einbürgern lassen. Einbürgerung. Was für ein Wort. Vor meinem inneren Auge erschien ein kafkaeskes Universum aus unverständlichen Formularen, boshaften Beamten und Demütigungen. Ich erwartete unzählige Feinde mit Handfeuerwaffen, Hindernisse und andere Gegenkräfte, die mich von meinem Vorhaben abhalten wollten. Denn derjenige, der eingebürgert werden will, so dachte ich, ist grundsätzlich suspekt.
Natürlich hatte ich mich vor dem Anruf im Internet informiert und eine Liste der für die Beantragung der Einbürgerung notwendigen Dokumente gefunden. Ich musste meinen französischen Pass, meine Geburtsurkunde, meine Heiratsurkunde, meine deutschen Diplome, meine letzten Gehaltsabrechnungen, auch die meines Mannes, und meinen Arbeitsvertrag vorlegen. Jetzt fehlte mir nur noch ein Termin im Rathaus, um die Dokumente zur Beantragung der Staatsbürgerschaft einzureichen. Und obwohl ich Bescheid wusste, ließ ich die Frau am Telefon mir alles erklären und tat so, als schriebe ich mit. Sie war geduldig und fragte mich mit ruhiger Stimme nach der Nationalität meiner Eltern. Ich zuckte kurz zusammen und antwortete: Französisch. Auch der Vater? Ich antwortete mit ja. Sie zögerte. »Ihr Nachname klingt nicht Französisch.« Was heißt klingt? Sie wiederholte die Frage etwas anders (aber die Frage blieb dieselbe): Geburtsort der Eltern? Meine Mutter ist in Granville in der Normandie geboren. Mein Vater in Guinea … Na bitte. Er hat also die guineische Staatsbürgerschaft? Hatte, erwiderte ich, er lebt nicht mehr. Nein, er war Franzose. Nur Franzose. Ich war auf der Hut und fügte nicht »soweit ich weiß« hinzu. Aber er ist in Guinea geboren? Guinea war zum Zeitpunkt seiner Geburt französisch. Meine Gesprächspartnerin wurde skeptisch, und auch ich war mir meiner Sache nicht mehr sicher. So endet diese Geschichte immer. Sie sagte mir, die guineische Nationalität sei ein Problem und könne das Verfahren blockieren. Und, fuhr sie fort, wenn Sie Französin sind, ausschließlich Französin, können Sie problemlos Deutsche werden, aber Sie müssen beweisen, dass Sie zu hundert Prozent Französin sind.
Meine Angst war also berechtigt. Dennoch erklärte ich ihr ruhig, dass mein Vater 1941 geboren war – verschwieg allerdings, dass in meiner Geburtsurkunde in der Zeile zum Vater »um 1941« steht –, damals gab es den guineischen Staat noch nicht, Guinea war französische Kolonie, und ich fragte mich, ob mein Vater überhaupt eine Nationalität gehabt hatte. Jedenfalls hatte er keinen französischen Pass, er war Afrikaner. Ein Indigener. Jetzt war es raus. Ich war die Tochter eines Indigenen. Später gab es die Französische Union, die Afrikaner wurden zu Bürgern der Union, ich glaube, das war 1946 …
Die freundliche Dame der Ausländerbehörde hörte mir nicht mehr zu. Das war zu kompliziert und änderte nichts an meinem Problem. Ich musste beweisen, dass ich nicht guineischer Nationalität war. Der guineische Staat musste dem deutschen Staat versichern, dass ich ihm nicht angehörte, keinen guineischen Pass besaß, der Staat nichts von mir wusste. Diese Schritte sind notwendig, das sei nicht ungewöhnlich, bestätigte sie mir. In Guinea, dachte ich, ist das bestimmt ungewöhnlich. So wie ich diesen Staat kannte – ich war nur zweimal in meinem Leben dort, insgesamt vier Wochen –, war ich auf das Schlimmste gefasst. Mit dem Handy am Ohr durchschritt ich mein Arbeitszimmer und schwieg. Die Frau am anderen Ende war ebenfalls verstummt, ergriff aber als Erste wieder das Wort. »Einen Moment bitte, ich überprüfe noch einmal die Anforderungen.« Nach nicht mal einer Minute war sie zurück und sagte: »Das Problem hat sich erledigt«, als hätte es sich in Luft aufgelöst. Hätte der guineische Staat mir ohne mein Wissen seine Nationalität verpasst, würde er sie mir automatisch in dem Moment entziehen, in dem ich eine andere beantrage. Warum? Weil ich eine Frau bin. Das sei guineisches Recht. In diesem Moment verblüffte mich am meisten, dass das Bürgeramt von Mannheim über eine Broschüre mit dieser Art Information verfügte. Natürlich war ich vor allem absolut erleichtert.
Am 20. Februar hatte ich einen Termin beim Ausländeramt Mannheim, um meine Unterlagen zur Beantragung einzureichen. Dort sollte ich Frau M., die Dame vom Telefon, kennenlernen, die mich hatte wissen lassen, dass mein Name nicht französisch klingt. Ich schwor mir, nicht mehr über meinen Vater zu sprechen.
Den Termin hatte ich auf deutsche, also korrekte Art vorbereitet und alle erforderlichen Unterlagen dabei. (Mein Mann hatte mir erklärt, wie man Unterlagen ordentlich aufbewahrt.) Sie steckten in Klarsichthüllen, damit sie in meiner Tasche nicht zerknitterten. Um zwanzig nach acht war ich beim Ausländeramt, zehn Minuten zu früh. Dennoch klopfte ich an die Tür 204, hinter der der Termin stattfand. Ich hatte keine Lust zu warten. Als ich die Tür öffnete, standen zwei Männer über einen Bildschirm gebeugt, der unbesetzte Schreibtisch gegenüber musste der von Frau M. sein. Beide Männer drehten sich sichtlich verärgert zu mir um. Ich erklärte, dass ich einen Termin mit Frau M. hätte, zu früh sei und gerne draußen warten würde, aber mitteilen wollte, dass ich bereits da sei. Eine dicke Frau schoss wie der Teufel aus dem Zimmer nebenan. Sie entsprach so gar nicht meinem Bild der freundlichen Frau M., aber sie war es: »Sie waren um acht Uhr geladen!« – »Nein, halb neun, ich bin Frau Diallo.« Ich entschuldigte mich in dem unterwürfigen Ton, den ich Autoritäten gegenüber manchmal annehme und den ich an mir hasse. Auch wenn die Autorität im Unrecht ist, unterwerfe ich mich, sogar wenn diese gemein zu mir ist. »Wir vergeben keine Termine um halb, sie waren