Französisch verlernen. Elisa Diallo
Einwohnern.
Etwas verkürzt gesagt hatte ich schon immer die leise Ahnung, dass es ein Feingefühl des »Südens« gibt, dem sich die Nicht-Weißen dieser Welt mehr oder weniger verbunden fühlen, also all jene, die die Europäer zu den Nicht-Weißen zählen. Eine Kategorie, die sich abhängig von Zeit und kollektivem Bewusstsein wandelt. Aufgrund dieses Feingefühls nehmen wir am Schicksal der Flüchtlinge aus den arabischen Ländern teil, und wenn eine europäische Regierung beschließt, ihnen die Tür zu öffnen, fühlen wir uns gleichermaßen alle willkommen. Legt man diese Hypothese zugrunde, ist das Gegenteil dieser großen Solidarität leicht vorstellbar. Ich fühlte mich persönlich verraten, als Emmanuel Macron der mit Flüchtlingen aus dem Mittelmeer überfüllten Aquarius untersagte, in Frankreich anzulegen. Mir, und ich bin sicher, das gilt auch für alle Migranten in Frankreich sowie für die Kinder von Migranten, fehlten die Worte, um meiner Enttäuschung und meiner Wut Ausdruck zu verleihen. Ich fühlte mich persönlich zurückgewiesen. Aber das Schlimmste war, dass, abgesehen von ein paar Kommentaren in der linken Presse, das Leben wie gewohnt weiterging, als wäre nichts geschehen. Unnötig zu erwähnen, dass die Menschen in meinem Umfeld fast ausschließlich weiß sind (oder vielmehr sich als weiß verstehen). Aber auch für mich ging offensichtlich das Leben weiter, als wäre nichts geschehen, dasselbe galt für meine guineischen Cousinen und Cousins oder meine wenigen Freunde afrikanischen Ursprungs. Ich glaube, dass für viele Franzosen mit Migrationshintergrund, selbst für jene, die sehr erfolgreich geworden sind, in dem Moment etwas zerbrach. Ich kann nur für mich sprechen, aber was mich betrifft, hat die Angst die Oberhand über meinen Optimismus und meinen Glauben an die Zukunft gewonnen. Ich glaube nicht mehr an ein Happy End. Als Kind und Jugendliche in den 1980er Jahren sah für mich die Zukunft wie folgt aus: Die guten Kräfte würden den bedeutungslos gewordenen und zur Auslöschung bestimmten bösen Kräften ins Gesicht lachen. Grenzen würden verschwinden, Rassismus wäre eine Sache der Alten, denen man keine Beachtung mehr schenkt. Die Zukunft gehörte den Aktivisten mit dem Sticker »Touche pas à mon pote!« [Mach meinen Kumpel nicht an] oder all den anderen, die insgeheim genauso dachten. Es stimmt, dass ich mich nicht wohl fühlte, wenn man mich fragte, woher ich kam, woher ich denn wirklich stammte. Auch wenn es mir nicht ganz bewusst war, dieses Unwohlsein war der Ausdruck meines Gefühls, nicht wirklich »dazuzugehören«. Nicht wie alle anderen ein Recht auf meine Heimat (dt. im Original) zu haben. Aber ich spürte genauso deutlich, dass mein Fremdheitsgefühl mit der Zeit abnehmen würde. Heute, 2018, habe ich den Eindruck, dass »Touche pas à mon pote!« der Vergangenheit angehört und dass wir nicht wesentlich weitergekommen sind. Ich werde nie dazugehören; wir, die wir nicht weiß sind, werden immer Fremdkörper sein – in guten Zeiten geduldet, aber Sündenböcke, wenn Unzufriedenheit um sich greift. Nie wahrhaftige Bürger mit allen Rechten und Pflichten.
Ich weiß nicht, ob Deutsche zu werden und zugleich Französin zu bleiben, die Lösung ist. Unterm Strich gibt es gute Gründe, sich auch in Deutschland Sorgen um die Zukunft von Migranten und Kindern von Migranten zu machen. Die rechtsextreme AfD ist ins Parlament eingezogen. Angela Merkel wird mehr und mehr für ihr »Wir schaffen das« kritisiert. Nicht umsonst ist sie bei der Asylfrage in einigen Punkten zurückgerudert. Die Gesetze sind in den letzten Monaten strenger geworden. Trotzdem bleibt sie standhaft, und vor allem ist sie sehr wachsam, was die symbolische Bedeutung dieser Gesetze betrifft. Sie wird nicht müde zu betonen, dass nicht die Migration das größte Problem Europas ist und dass die Angst in keinem Verhältnis zur Herausforderung der Flüchtlingsfrage steht. Sie ist die Einzige in Europa, die diesen Standpunkt vertritt. Darüber hinaus sind die Deutschen darin geübt, über sich selbst nachzudenken und politische Symbole mit Vorsicht zu genießen. Auf jeden Fall ist sich Deutschland rassistischer Reflexe bewusst, den nationalen Mythos hat das Land so gut wie abgeschafft. Irgendwie fühle ich mich in Deutschland sicher, denn ich glaube, dass die extreme Rechte nicht wirklich an die Macht kommen wird. Mir scheint, dass die Frage der nationalen Identität in Deutschland viel rationaler behandelt wird als in Frankreich oder den Niederlanden, die meiner Meinung nach beide ein viel zu gutes Bild von sich haben und denen es an Demut mangelt. Wo gibt es in Frankreich außer an den Universitäten eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos der nationalen Identität, der Geschichte des Kolonialismus oder dem gegenwärtigen Kolonialismus? In den Niederlanden ist der Kolonialismus regelrecht tabu. Der Staat weigert sich bis heute, sich bei den Indonesiern für die Gräueltaten zu entschuldigen, die er an ihnen im Unabhängigkeitskrieg zwischen 1945 und 1949 verübt hat. Das ist ein Skandal. Freilich, es stört niemanden, bis auf die Indonesier – aber wen interessiert’s? Ein Drittel der Amsterdamer sind keine gebürtigen Niederländer, sie stammen aus Marokko, der Türkei und vor allem aus den ehemaligen Kolonien Indonesien, Surinam und von den Antillen. Trotzdem feiert man jedes Jahr kurz vor Weihnachten in jeder Stadt, jedem Dorf Sankt Nikolaus mit einem Umzug, bei dem sich die weißen Niederländer als Zwarte Piet (Knecht Ruprecht) verkleiden und sich dafür schwarz anmalen. Es ist angeblich eine Tradition, und wehe ein monströser Barbar (Ausländer natürlich) wagt es, die niederländischen Kinder um dieses Vergnügen bringen zu wollen! Dabei reicht, im Gegensatz zu den meisten Traditionen, an denen man festhält, diese hier nicht einmal zwei Generationen zurück. Und welche Kinder sind überhaupt gemeint? Kinder mit krausem Haar und dunkler Haut, die nicht verstehen, dass man sich über ihre Zwarte-Piet-Verkleidung lustig macht? Denen entgegnet der Rest des Landes, egal welcher sozialen Schicht, fröhlich, sie seien ja nicht gemeint, und geben ihnen so zu verstehen, dass sie nicht zu denen gehören, die diese Pseudo-Tradition so lieben. Diese Kinder zählen nicht, man toleriert sie, aber sie haben keine Stimme. Aber wehe ein Staatsbürger kritisiert diese Tradition, der nicht waschechter Niederländer ist. Er wird es, ich komme noch darauf zurück, mit einer besonders widerwärtigen Form der Gewalt zu tun bekommen, mit der alten Kolonialgewalt jener Gesellschaften, die nie über ihren Platz in der Welt nachgedacht haben und nie ein für alle Mal mit der alten Plage des Rassismus, die an ihnen nagt, aufgeräumt haben. Zugegeben, über die Frage der Identität wird unaufhörlich diskutiert, aber für viele, die sich leidenschaftlich damit befassen, wird diese Diskussion nicht tiefgreifend und konstruktiv genug geführt. Es geht darum, sich vom anderen abzusetzen, indem man laut und deutlich behauptet, man sei ganz anders. Die europäischen Gesellschaften halten sich für fortschrittlich und maßen sich entsprechend das Recht an, mit dem Finger auf die sogenannten traditionellen »Kulturen« zu zeigen, aus denen die Migranten kommen. Wo bei Ausländern angeblich Aberglaube und religiös geprägtes Stammesdenken überwiegen, da halten wir uns für umso laizistischer und rationaler. Besonders was geschlechtliche Gleichberechtigung anbelangt, halten wir uns für fortschrittlicher, wohingegen der typische Migrant frauenfeindlich ist, was man daran erkennt, dass er Frauen nicht die Hand gibt und die verschleierte Frau nicht das Wort ergreift. Kurzum, unsere Diskussion, egal auf welchem Niveau sie staatfindet, dreht sich im Kreis, unsere Überlegungen greifen zu kurz, sind zu simpel, es ist eine Scheindiskussion, die uns daran hindert, uns weiterzuentwickeln.
Ich gebe zu, dass mich Angela Merkel 2015 beeindruckt hat. Davor hat sie mich nicht besonders interessiert. Und bis zu diesem einschneidenden Ereignis wäre ich nie auf die Idee gekommen, Deutschland gastfreundlich zu nennen. Mein Blick auf dieses Land hat sich in der Flüchtlingskrise komplett geändert, auch hinsichtlich meiner Stellung und Zukunft in diesem Land. Ich folgte den Debatten im Fernsehen, in denen Journalisten und Intellektuelle die positiven Seiten der Migration hervorhoben und die multikulturelle Gesellschaft Deutschlands feierten. Ich wurde Zeuge der Geburt einer euphorischen Diskussion zur Rolle Deutschlands in der Welt: eine starke Wirtschaft, eine der stabilsten Demokratien der Welt, ein gastfreundliches Land, das vielleicht einmal eine führende Rolle einnehmen und darin die USA überholen könnte. Zum ersten Mal, seitdem ich 2009 nach Deutschland gekommen war, fühlte ich mich als Mitglied dieser Gemeinschaft. Angela Merkel versetzte mich mehr ins Träumen als acht Jahre zuvor Barack Obama. Meine Kinder würden hier aufwachsen und sich wie ihre blonden Freunde diesem Land zugehörig fühlen, sie sind hier geboren und sprechen die Sprache. Und die Tatsache, eine Mutter zu haben, die in Frankreich, einen Großvater, der in Guinea geboren wurde, muslimische Cousinen und Cousins zu haben, werden sie als Reichtum verstehen, als etwas Schönes und Interessantes. Sie begreifen überhaupt nicht, dass man sich dafür schämen könnte.
Das ist ein Traum, wir sind weit davon entfernt. Mir gefällt es, Deutschland als Verheißungsland zu sehen, mein Alltag lässt mich jedoch oft daran zweifeln. Aber ich habe mich entschieden, diese Wette einzugehen