Französisch verlernen. Elisa Diallo

Französisch verlernen - Elisa Diallo


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vielleicht, aber nicht sehr.

      Selbstkritik ist in Frankreich eine Seltenheit. Hingegen gehörte eine gewisse Bescheidenheit der meisten Deutschen gegenüber eigenen nationalen Mythen zu den ersten Dingen, die mir ihr Land sympathisch machten. Das würde gerade noch fehlen, dass sie auf ihre Vergangenheit auch noch stolz sind, die Deutschen – so denken viele Franzosen. Vielleicht, aber der naive Chauvinismus meiner französischen Mitbürger hat mich immer geärgert, und ich war sofort empfänglich für die deutsche Zurückhaltung in Sachen Patriotismus.

      Und dennoch, dieses Deutschland … Ich lebte schon seit drei Jahren in München, als eine alte Freundin an meinem Hochzeitstag in ihrer Brautrede scherzte: »Wenn man mir das damals gesagt hätte …« Sie rief unsere Deutschstunden im Gymnasium in Erinnerung, wie unglaublich absurd es uns Heranwachsenden erschien, die wir cool und eher mittelmäßig in der Schule sein wollten, diese schreckliche Sprache mit ihrer unverschämt schwierigen Grammatik zu lernen.

      Sie erinnerte sich auch an meinen deutsch-französischen Schüleraustausch, als ich fünfzehn war, von dem ich nur Schreckliches zu berichten hatte. Zwei Wochen lang – oder doch nur eine? – war ich in Schweinfurt gewesen, einer Provinzstadt zwischen München und Frankfurt. Das war im Juni 1991. Ich erinnere mich so gut an den Zeitpunkt, weil mein Aufenthalt in Deutschland mit einem der spektakulärsten Streiks der Kohl-Ära zusammenfiel. Aber nicht der Streik war der Grund, dass alles so schrecklich war in Deutschland, sondern die Tatsache, dass alles geschlossen war, die Museen, sogar das Schwimmbad, und dass die öffentlichen Verkehrsmittel nicht funktionierten, kam auch nicht gerade gelegen.

      Noch Jahre später – und manchmal tue ich es noch heute – fasste ich die Absurdität meines Deutschlandaufenthaltes so zusammen: In dieser westdeutschen Stadt mit 50.000 Einwohnern etwas mehr als eine Fahrstunde von Frankfurt entfernt, blieben die Menschen auf der Straße stehen, um mich anzustarren. Ich kannte nur Paris und habe mich dort immer zu Hause gefühlt, als eine unter anderen. Hier war ich plötzlich so etwas wie ein Schaubudenphänomen, nur weil ich nicht weiß war, und das verunsicherte mich dann doch. Ich hatte nur eine Grenze passiert, aber mir schien, ich sei in einer anderen Epoche gelandet, in einer Zeit, in der in Europa jeder weiß war und die Schwarzen der Kolonien nur auf Abbildungen existierten. Vom ersten Abend an weinte ich jedes Mal, wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, und ich hoffte inständig, dass sie verstand, wie sehr mich diese Erfahrung demütigte, und meinen Aufenthalt abkürzen würde.

      Es waren ja nicht nur die Blicke Unbekannter auf der Straße. Da war auch die Mutter meiner Gastfamilie, die bei unserer ersten Begegnung ausrief: »Für eine Schwarze bist du eigentlich ganz hübsch!« Und da war die ungefähr fünfjährige Tochter, die mir ihre schwarze Barbiepuppe mit den Worten hinhielt: »Du bist eine Negerin, du spielst mit der Negerpuppe.« Ich kannte dieses Wort nur vom Hörensagen, wie die Vokabel einer toten Sprache. Noch nie hatte ich es »in echt« aus dem Mund eines direkten Gegenübers gehört. Ich war baff und drauf und dran, die versteckte Kamera zu suchen, die mir diesen absurden Dialog erklärt hätte. Dann war da die Nachbarin, die uns manchmal in die Stadt mitnahm, weil der Linienbus mal wieder nicht fuhr. Sie war abweisend – das passiert –, aber nur mir gegenüber. Sie rauchte im Auto, und weil mir davon schlecht wurde, hatte ich das Fenster heruntergekurbelt; daraufhin hielt sie an, lief ums Auto, öffnete wütend meine Tür und kurbelte wortlos das Fenster wieder hoch. Ich war den Rest des Tages wie gelähmt.

      Mir waren die zweideutigen Witze und kleinen Anspielungen auf meine Hautfarbe und mein »Anderssein« seit jeher bekannt, aber nie zuvor war ich so offen rassistischen Anfeindungen ausgesetzt gewesen. In meiner Vorstellung war ganz Deutschland so: rassistisch, provinziell, ganz einfach hinterher. Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Fuß hierhin zu setzen. Bis in die 1990er Jahre war es leicht, Deutschland zu verachten. Für uns junge Pariser war es das uncoolste Reiseziel der Welt. Für mich war es vor allem Feindesland. Meine guineischen Cousinen und Cousins, wie überhaupt alle Afrikaner, scherzten, man könne Deutschland ruhig auf den Frankfurter Flughafen beschränken und den Rest gerne von der Landkarte streichen, dort lebten eh nur Nazis.

      Heute reden sie ganz anders.

      Zuallererst weil sich Deutschland verändert hat. Die Leute, denen ich 1991 in den Schweinfurter Straßen begegnet bin, sind heute überwiegend alt. Ihnen folgte eine neue Generation, die Deutschland ein komplett anderes Gesicht verliehen hat. Deutschland hat sich innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre mehr verändert als Frankreich. Vielleicht ist dieser Eindruck subjektiv, aber ich glaube, Deutschland ist jünger geworden. Als das Land 2008 wieder in mein Blickfeld rückte, war ich sehr angetan, damals lebte ich noch in den Niederlanden. Berlin war mittlerweile die sexyste Stadt der Welt, dort fühlte ich mich überall wohl, und auch wenn es auf den Straßen weniger Schwarze als in Paris gab, waren sie im deutschen Fernsehen entschieden stärker vertreten als im französischen.

      Zu jener Zeit lebte ich seit über zehn Jahren in Amsterdam, wo die Stimmung immer mehr kippte. Mir wurde zunehmend klar, dass ich meinen Sohn dort nicht großziehen konnte. Die Populisten gewannen Sitze im Parlament und hatten nur ein Thema: die nationale Identität und natürlich die Einwanderung. Man muss schon hart im Nehmen sein, wenn man Geert Wilders über Islam, Muslime und Niederländer besonders marokkanischer Herkunft reden hört. Zu jener Zeit um 2008 traute ich oft meinen Ohren nicht. Gleichzeitig wunderte ich mich, dass sich nur wenige zu seinen Standpunkten äußerten und widersprachen. Heute gehören seine Reden von damals zum Mainstream, aber 2008 war Wilders für mich ein Verrückter, und das Schweigen, mit dem die Leute aus meinem Umfeld diesen Wahnsinn quittierten, war für mich nur in Holland vorstellbar. Immer öfter, vielleicht auch aus dem Kontrast heraus, erschien mir Deutschland als eine logische Alternative. Ich konnte die deutsche Presse nicht verfolgen, weil ich kein Deutsch sprach, aber mir erschienen die politischen Diskussionen zivilisierter als in Holland oder Frankreich. Wenn ich meinen deutschen Freunden die niederländische politische Situation beschrieb oder vom Erstarken des Front National in Frankreich berichtete, waren sie erschüttert, als ob sie so etwas in Deutschland für unmöglich hielten. Je öfter ich Deutschen begegnete, und je öfter ich mit ihnen die europäische Politik diskutierte, desto klarer wurde mir die Besonderheit Deutschlands. Die Deutschen waren so sehr von ihrer Nazi-Vergangenheit traumatisiert, dass sie nicht Gefahr liefen, dem je wieder auf den Leim zu gehen.

      Im Gegenzug dazu schien sich in den 2000er Jahren überall sonst die Büchse der Pandora zu öffnen, und heute, über zehn Jahre später, scheint alles möglich zu sein. Wenn meine guineischen Cousinen und Cousins Deutschland nicht mehr verteufeln, dann nicht nur, weil sich Deutschland zum Besseren verändert, sondern weil sich der Rest Europas zum Schlechteren gewandelt hat. Ich habe Frankreich und Holland hautnah erlebt, ich habe beschlossen, dort nicht mehr zu leben. Aber die anderen europäischen Länder, die ich aus der Ferne beobachte, finde ich auch nicht besser. Sie scheinen alle von ein und derselben Sache besessen zu sein: der nationalen Identität, der Immigration. Man spricht schon gar nicht mehr von Immigration, sondern vom »Problem Immigration«. Unmöglich, das Wort »Problem« wegzulassen. Man spricht zudem von fast nichts anderem mehr als von Flüchtlingen, Immigranten, Muslimen – all jenen, die Europa nicht haben will. Unwichtig, dass es sich hierbei um eine kleine Minderheit handelt, dass Europa einer der wohlhabendsten Kontinente der Welt ist, dass sich seine Bevölkerung auf etwas mehr als 500 Millionen Einwohner beläuft und es daher absurd erscheint, dass diese Bevölkerung 2015 ernsthaft Angst vor drei Millionen Flüchtlingen hat. Als würde sich eine Gruppe von fünfhundert Personen vor dem Eintreffen drei neuer Menschen fürchten. Das Problem ist nicht die Anzahl der Flüchtlinge. Nur zwei pro Monat wären schon zwei zu viel. Deutschland hat auf dem Höhepunkt der »Flüchtlingskrise« ein positives Zeichen gesetzt. Für ein so reiches Land kam es nicht in Frage, Menschen in Not nicht aufzunehmen. Und wenn es sich um Muslime handelte! Die ganze Welt hat das »Wir schaffen das« der deutschen Kanzlerin vernommen. Angela Merkel hatte diese Worte anlässlich einer Pressekonferenz, auf der sie viel anderes gesagt hat, ganz spontan geäußert, aber diese Aussage war so bedeutsam, dass sie in den südlichen Ländern plötzlich zur populärsten westlichen Politikerin wurde. Um es ganz konkret mit Frankreich zu vergleichen, das sich für ein gastfreundliches Land hält: Mannheim, wo ich lebe, hat 2015 vierzehntausend Flüchtlinge, vor allem Syrer, aufgenommen. Die Stadt hat dreihunderttausend Einwohner. Im selben Jahr hat der französische Präsident François Hollande sich einverstanden erklärt, dreißigtausend


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