Deutsche Geschichte (Band 1-3). Ricarda Huch
Vertreter der christlichen Ideen hatte wohl manchen Anreiz, die Juden als Glaubensgenossenschaft anzugreifen, ihren Gottesdienst ebenso wie den heidnischen zu verbieten, allein er bewährte sich als Nachfolger der Kaiser ohne Fanatismus. Wie der Gotenkönig Theoderich es abgelehnt hatte, den Juden das christliche Bekenntnis aufzuzwingen, weil niemand wider seinen Willen zum Glauben gelange, so erlaubte ihnen auch Gregor die ungestörte Ausübung ihrer Religion. Neue Synagogen zu erbauen verwehrte er ihnen allerdings, wie die Kaiser getan hatten, nicht aber, die alten, baufälligen zu erneuern. An Hand dieser Bestimmungen fanden die Juden bei den Päpsten Schutz, wenn sie ihres Glaubens wegen angegriffen wurden, ebenso im fränkischen Reiche bei Karl dem Großen und seinen Nachfolgern. Sie genossen ein hohes Wergeld und brauchten sich dem Gottesurteil nicht zu unterwerfen, es kam sogar vor, daß sie christliche Sklaven hielten. Karl der Kahle hatte einen jüdischen Leibarzt; die schöne Begabung der Juden für die Heilkunst, die sowohl mit ihrem Scharfblick und ihrer Gabe der Einfühlung wie mit ihrer warmherzigen Neigung zu helfen zusammenhängen mag, bewirkte jederzeit, daß einzelnen Bevorzugten Vertrauensstellungen eingeräumt wurden. Der berühmte Abt von Fulda, Hrabanus Maurus, unter dessen schroffer Rechtgläubigkeit der unglückliche Mönch Gottschalk so bitter zu leiden hatte, verschmähte es nicht, sich von einem im Gesetz erfahrenen Juden über die Auslegung biblischer Bücher nach der mosaischen Tradition unterrichten zu lassen. Die Bestimmung einer Synode, wonach jeder, der aus Haß oder Habgier einen Heiden erschlage, als Mörder betrachtet werden und Kirchenbuße leisten solle, wurde von dem Abt Regino von Prüm auf die Juden ausgedehnt. Ebenso nahm Bischof Burkhard von Worms Bestimmungen zum Schutze der Juden in seine berühmte Gesetzessammlung auf. Man betrachtete die Juden nicht nur als das Volk, das Christus gekreuzigt hatte, sondern ebensowohl als das, dessen Geschichte im Alten Testament auch für die Christen die Heilige Geschichte war und dem man, in Hinblick auf seine großen Propheten und Lehrer, eine besondere Weisheit zuschrieb. Dieselbe unbefangene Duldsamkeit wie das karolingische Zeitalter charakterisiert das der Ottonen. Der Freund, der Kaiser Otto II. nach der unglücklichen Schlacht bei Cotrone in Süditalien sein eigenes Pferd zur Flucht gab, der voll Sorge dem Fliehenden nachblickte und den, da die Schiffer sich weigerten, den flüchtigen Kaiser aufzunehmen, der Zurückbleibende traurig fragte, was nun aus ihm werden solle, war ein Jude, namens Calonymus, der in Mainz zu Hause war und als ein weiser Rabbi hoch in Ehren stand. Eine andere Überlieferung erzählt, der Jude habe dem Kaiser, dessen Pferd störrisch gewesen sei, sein eigenes angeboten mit den Worten: »Wenn sie mich töten, denke an meine Kinder.« Tatsächlich gab es sowohl in Mainz wie in Lucca eine jüdische Familie namens Calonymus.
Abgesehen von einer einmaligen Vertreibung aus Mainz durch Heinrich II., haben die Juden unter den sächsischen und salischen Kaisern unbelästigt im Reiche leben können. Konrad II. hatte einen jüdischen Leibarzt. Die erste große Verfolgung brachten die Kreuzzüge mit sich, durch die fanatisierte Massen in Bewegung gesetzt wurden. Ein gelegentlicher Ausspruch, man solle doch die Feinde Christi im Lande bekämpfen, anstatt nach Palästina zu reisen, wurde wiederholt und fand Beifall in den unteren Schichten des Volkes, vollends das Wort eines angesehenen Führers, des Herzogs von Niederlothringen, Gottfried von Bouillon: er wolle das Blut des Erlösers am Blute Israels rächen und nichts übriglassen von allen, die den Namen der Juden trügen. Von den Judengemeinden in Frankreich trafen Warnungen ein vor den aufgeregten Scharen französischer, englischer und lothringischer Kreuzfahrer, die von dort nach Deutschland vordrangen, so daß sich Calonymus, der Vorsteher der Judengemeinde in Mainz, mit der Bitte um Schutz an Heinrich IV. wendete, der damals in Italien war. Dem Gesuch willfahrend, befahl der Kaiser allen Bischöfen, Fürsten und Grafen des Reichs, auch Gottfried von Bouillon, die Juden zu beschützen, ihnen beizustehen und Zuflucht zu gewähren, damit keiner sie anrühre, ihnen Böses zu tun. Alle gehorchten, ohne doch das nahende Unheil aufhalten zu können. Die Juden fühlten sich offenbar im Schutze des Kaisers und in der durchaus nicht unfreundlichen Gesinnung der Bürger so sicher, daß sie von der Wut des Überfalls wehrlos überrascht wurden. Es kam vor, daß Juden erschlagen wurden, die friedlich in ihrem Weinberg arbeiteten. In Speyer allerdings, wo die Kreuzfahrer zuerst einbrachen, verhinderte der Bischof Johannes, ein treuer Anhänger des Kaisers, durch strenges Eingreifen großes Unglück: den Bürgern, die sich an den Gewalttaten der Fremden beteiligt hatten, ließ er die Hände abhauen. Nur elf Juden wurden in Speyer getötet. In Worms dagegen, wo der Bischof untätig blieb, sollen an 800 niedergemacht sein, noch mehr in Mainz, wo Erzbischof Ruthard eine nicht ganz aufgeklärte, zweideutige Rolle spielte. Er versprach denen, die dem Blutbade entronnen waren, dem Vorsteher Calonymus und 53 Gefährten, Schutz in seiner Pfalz, wollte aber nachträglich sein gegebenes Wort nur gelten lassen, wenn sie sich taufen ließen. Die Juden, edler gesinnt als der Bischof, zogen vor zu sterben. In Köln verbargen sich die Juden in den Häusern ihrer christlichen Freunde, ein Beweis für das gute Einvernehmen zwischen Juden und Bürgern, und erhielten dadurch ihr Leben, während ihre Häuser geplündert wurden. Um sie noch besser schützen zu können, brachte sie dann der Erzbischof in Burgen auf dem Lande unter; aber diese augenscheinlich in guter Meinung vollzogene Maßnahme erwies sich als unglücklich, denn ein Teil wurde dort von den Verfolgern aufgespürt und getötet. Daß dieser Angriff auf die Juden nicht etwa durch Abneigung gegen die Rasse, sondern durch erhitzten Glaubenseifer verursacht war, geht daraus hervor, daß denjenigen Juden, die sich taufen ließen, nichts zuleide getan wurde. Zum Glaubenshaß kam die Raublust der armen und bereits verwilderten Banden; Raublust war vermutlich auch die Triebfeder der Stadtbewohner, die mit jenen gemeinsame Sache machten. Das waren aber nur einzelne, im allgemeinen standen die Bürger wie die Fürsten auf seiten der Angegriffenen. Der Kaiser ging so weit, den Juden zu gestatten, daß die Zwangstaufe, die an verschiedenen vollzogen war, nicht gelten solle, sondern daß sie wieder nach dem Gesetz leben dürften, ein Zugeständnis, das den Papst erzürnte. Als Heinrich gegen das Ende seines Lebens in Mainz einen Landfrieden beschwören ließ, zählte er die Juden unter denen auf, die besonderen Schutz genießen sollten. Beim nächsten Kreuzzug, den Bernhard von Clairvaux anregte, ging die Gefahr für die Juden wiederum von den unteren Schichten aus. Ein Mönch, namens Radull, hetzte zum Judenmord auf und hätte mit Hilfe räuberischen Pöbels ein großes Blutvergießen angerichtet, wenn ihm nicht Bernhard entgegengetreten wäre. Er hielt aufklärende Predigten und erließ ein Rundschreiben, in dem er auseinandersetzte, wie sich Christen gegen Juden zu verhalten hätten. Man dürfe, sagte er, die Juden weder töten noch vertreiben; denn, dies setzte er aus eigener Auffassung hinzu, sie würden sich beim Herannahen des Jüngsten Gerichtes bekehren. Den Wucher der Juden erwähnte er nicht ohne hinzuzusetzen, daß die Christen da, wo es keine Juden gäbe, den Wucher noch ärger trieben. Infolge der hochherzigen Bemühungen unterblieben die Verfolgungen, so daß die Vorkehrungen der jeweiligen Stadtherren zum Schutze der Bedrohten sich als überflüssig erwiesen.
Damals, zur Zeit des zweiten Kreuzzuges, in der Mitte des zwölften Jahrhunderts, hatten die Juden sich bereits vorzugsweise dem Geschäft der Geldleihe zugewendet, und die Tatsache, daß es viele Menschen gab, die den Juden verschuldet waren, konnte den Antrieb bilden, Gläubiger unter dem Vorwande, sie seien Feinde Christi, zu ermorden, womit man seine Verhältnisse geordnet und sich zugleich ein Verdienst bei Gott und den Menschen erworben hätte. Dies Motiv trat aber in jener Zeit noch nicht sehr hervor, teilweise deshalb nicht, weil diejenigen Kreise, die den Kredit der Juden benützten, sie eher zu schützen suchten als mordeten, hauptsächlich aber, weil die Haltung eines Volkes immer von denjenigen bestimmt wird, die an der Spitze stehen. Ob es sich um eine Schule, eine Stadtgemeinde, eine Kirchengemeinde oder ein Land handelt, die Großmut oder Niedrigkeit, die Überlegenheit oder Beschränktheit des Führers wird den Charakter der Gruppe, des Landes bestimmen. Die Päpste des zwölften Jahrhunderts hielten immer noch, trotz ihrer veränderten Stellung zum Kaisertum, an den Bestimmungen Gregors I. über das Verhalten gegen die Juden fest, ja sie übertrafen ihren großen Vorgänger zuweilen noch an Milde. Sie blieben dabei, daß die Juden nicht zwangsweise getauft, nicht verwundet oder beraubt werden, keine Veränderung ihrer guten Gewohnheiten erleiden sollten. Man solle sie, verordneten sie, bei ihren Festen nicht stören, ihre Begräbnisplätze nicht beschädigen. Es versteht sich, daß die Päpste von den Juden stets mit scharfer Abneigung als von den Feinden des christlichen Glaubens sprachen, aber das hinderte sie nicht, bei Verfolgungen sich nachdrücklich für sie einzusetzen, wie sie es auch nicht, sowenig wie alle anderen Kirchenfürsten, hinderte, sich in Geldgeschäfte mit ihnen einzulassen. Von Gregor VII., dem großen Gegner Heinrichs IV., ist behauptet worden, ohne daß es im geringsten