Deutsche Geschichte (Band 1-3). Ricarda Huch
Augen sichtbar aus. An einem Kronleuchter im Rathaus zu Goslar war der Vers angebracht: »O Goslar, du bist zugetan – Dem heiligen Römischen Reiche – Sonder Mittel und Wahn – Du kannst davon nicht weichen.« Über dem Ostentor in Dortmund stand: »Dus stat ist vry – Dem Riche holt – Verkoept das nicht umb alles Golt.« Ein Edelknecht des Burggrafen von Nürnberg, der mutwillig ein Adlerbild am Tore der Stadt Rothenburg beschädigt hatte, wurde hingerichtet; so heilig hielt man das kaiserliche Zeichen. Bei den häufigen Kämpfen zwischen Papst und Kaiser brachte die innige Beziehung der Städte zum Kaiser einen Gegensatz zur Kirche mit sich. In den Bischofsstädten bestand dieser Gegensatz ohnehin durch das Bestreben, sich von der Herrschaft des Bischofs frei zu machen, der noch dazu häufig zum Papst anstatt zum Kaiser hielt. Dem Kaiser zuliebe trotzten die Städte sogar dem Interdikt. Es war den Stadtbewohnern nicht gleichgültig, wenn die magische Hülle von Glockenklang und Gebet, die sie umschirmte, zerfiel, und ihre Giebel nüchtern und stumm in die Tageshelle starrten; sie wollten den Gottesdienst nicht missen, gaben aber deshalb nicht nach, sondern befahlen ihren Geistlichen, entweder ihn zu versehen oder die Stadt zu verlassen. Wie fest das Band zwischen dem Kaiser und den Städten war, zeigte sich zur Zeit Ludwigs des Bayern, wo die ihm anhangenden dem Kirchenbann verfielen. Damals wurde der Erzbischof von Magdeburg im Kerker mit eisernen Stäben totgeschlagen, in Berlin wurde ein Propst vor der Marienkirche, in Basel ein päpstlicher Gesandter getötet. Kein Wunder, daß die Kaiser sich in den Städten wohlfühlten und gern dort verweilten. Die städtischen Chroniken verzeichneten die Gespräche, Scherze und Neckereien, die im Ton humorvoller Vertraulichkeit zwischen dem Kaiser und der Bürgerschaft gewechselt wurden. Rudolf von Habsburg verstand es besonders gut, diesen Ton anzuschlagen, der ihm die Gemüter gewann; es ist merkwürdig, wie sich diese Gabe viele Jahrhunderte hindurch in seiner Familie erhalten hat. Einmal kam der König, so wird erzählt, in Basel mit einem Gerber ins Gespräch, der, schlecht gekleidet, über seiner schmutzigen Arbeit war. Im Verlaufe der Unterhaltung lud der Mann den König auf den nächsten Tag zum Mittagessen ein, und Rudolf sagte zu, in der Meinung, einer armen Hütte königliche Gnade zu erweisen. Jedoch empfing ihn in einem stattlichen, geschmackvoll eingerichteten Hause ein feingekleideter Mann mit einer schönen Frau, die ihn zu einer reich bestellten, mit kostbarem Geschirr geschmückten Tafel führten. Der überraschte König fragte den Gerber, warum er denn, da er augenscheinlich ein wohlhabender Mann sei, ein so schmutziges, übelriechendes Gewerbe treibe, worauf der Mann zur Antwort gab, eben diesem Gewerbe verdanke er seinen Wohlstand, und deshalb bleibe er dabei.
Nachdem die Arbeit des hörig gewordenen Bauern der Verachtung anheimgefallen war, bildete sich in der Stadt eine neue Wertschätzung der Arbeit und des freien Arbeiters. Der Handwerker, einst ein Abhängiger, Wehrloser, wurde Hausbesitzer, hatte sein eigenes Recht, wurde Mitherr an der Stadt, verteidigte seine Stadt mit eigenen Waffen. Wie groß auch immer die Kluft zwischen Armen und Reichen, zwischen dem Regimentsfähigen und dem Untertan war, die Stadtluft war doch ein Element der Freiheit für alle, für das neu entstehende Volk der Wohlhabenden und Gebildeten. Wenn die Fremden damals und künftig die Herrlichkeit des Reiches priesen, so dachten sie dabei hauptsächlich an die Städte, von denen jede ihr besonderes Antlitz, ihre besondere Schönheit, ihre besondere Anziehungskraft hatte. Nicht nur die Kaiser, auch die Fürsten, weltliche wie geistliche, hielten sich gern in den großen Städten auf, besaßen dort womöglich ein Absteigequartier. Dort entwickelte sich eine neue Art von Frömmigkeit, die von der Kirchlichkeit unabhängig war, sich sogar mit Feindseligkeit gegen die Kirche vertrug. Sie war nicht mehr nur Magie, sondern sie wurde Lebensdeutung, Durchdringung des Lebens mit sittlichen Gedanken. Der Goldgrund des Drüben löste sich langsam auf, wurde dünner und dünner und ließ die blendende Wirklichkeit hindurchstrahlen; auf die greifbaren Ziele des tätigen Menschen richtete sich der Blick.
Die Juden
Es ist kein Blatt in der Geschichte der Menschheit so tragisch und geheimnisvoll wie die Geschichte der Juden. Einzig ihre Stellung unter den Völkern als das auserwählte, aus welchem der hervorging, der für das Abendland den Mittelpunkt und die Grenzscheide der Völker bildet, dessen Name und Wort das Höchste, das Verehrungswürdigste bezeichnet; einzig zugleich als das verfluchte, das ihn ans Kreuz schlug. Waren sie auserwählt, weil in keinem anderen Volke eine so leidenschaftliche Spannung zwischen dem Guten und dem Bösen bestand? Und warum konnten sie, nachdem der Gottmensch in ihrer Mitte Fleisch geworden war, nachdem sie aufgelöst und in alle Teile der Erde zerstreut waren, nicht untergehen? Sollte ihnen die irdische Unsterblichkeit zuteil werden, weil sie an die jenseitige nicht glauben wollten? Sollte das Götter- und Sünderblut erhalten bleiben als ein Tropfen bald heilsamen, bald tödlichen Giftes für seine Nachbarn?
Eine sagenhafte Überlieferung erzählt, der Frankenkönig Karl habe den König von Babel gebeten, ihm einen weisen Juden zu schicken, worauf der Rabbi Machir, ein Mann voll ungewöhnlicher Weisheit, nach dem Westen gekommen sei. Aus Liebe zu ihm habe Karl ihm den dritten Teil der damals eroberten Stadt Narbonne und den Adel verliehen, dazu Privilegien für die dort wohnenden Juden. Gewiß ist, daß die Juden im karolingischen Reiche unbelästigt, nicht selten sogar begünstigt lebten, so daß die Christen über ihre ungerechte Bevorzugung klagten. Die stolze Welfin Judith, Ludwigs des Frommen Frau, soll eine entschiedene Vorliebe für sie gehabt haben. Wahrscheinlich haben Juden fortdauernd während der unruhig bewegten Jahrhunderte der Völkerwanderung in den halb zerstörten, verfallenen Städten des Römischen Reiches gewohnt. In Worms wurde zur Erklärung dafür, daß die Juden dort besonders gut gestellt waren, angeführt, sie seien schon vor Christi Geburt hingekommen, trügen also keine Schuld am Tode Christi. Ein Vorfahr der Kämmerer von Worms, deren Name und Güter später auf die Dalberg übergingen, sollte zur Zeit des Augustus römischer Hauptmann in Palästina gewesen und später nach der Provinz Germanien versetzt sein, wohin er Juden mitgenommen habe. Diese Familie rühmte sich der Verwandtschaft mit der Mutter des Erlösers. Zwar war den Juden erlaubt, Land zu besitzen, aber da sie keine christlichen Sklaven halten durften, konnten sie größere Güter nicht bewirtschaften. Dem Handwerk haben sich Juden in verschiedenen Ländern mit Glück gewidmet, aber im Römischen Reiche beschäftigten sie sich hauptsächlich mit Fernhandel, und das war es wohl auch, weswegen sie im allgemeinen gern gesehen und von den Königen oft gebraucht wurden. Unermüdlich durchwanderten sie die alten Handelsstraßen nach dem Osten und wieder nach dem Westen, erwarben in Byzanz kostbare Stoffe und Gewürze, auch die Pelze, die von Rußland dem großen Stapelplatz am Schwarzen Meer zugeführt und am Hofe der fränkischen Könige sehr begehrt wurden, kauften Sklaven in Böhmen und brachten sie nach Spanien. Da sie über die ganze Erde zerstreut waren, hatten sie überall gute Beziehungen, auch beherrschten sie verschiedene Sprachen und besaßen die Warenkenntnis, die für Handeltreibende nötig ist. Ihre Vertrautheit mit fremden Ländern war die Ursache, daß die Könige sie bei Gesandtschaften verwendeten. Karl der Große gab zwei Gesandten, die dem Kalifen Harun al Raschid Geschenke überbringen und vielleicht auch Handelsbeziehungen anknüpfen sollten, den Juden Isaak mit, der, da die beiden Franken unterwegs starben, als Haupt der Ambassade die Gegengeschenke Haruns zurückführte. Es war ein Elefant darunter, der in Italien überwintern mußte, weil man ihm nicht zumuten konnte, die verschneiten Alpen zu übersteigen. Von einem anderen Juden wird erzählt, daß er auf den Wunsch des Kaisers einem Bischof, dem er einen Schabernack spielen wollte, eine mit Wohlgerüchen und Essenzen hergerichtete Maus als ein seltenes, in Judäa aufgefundenes Tier anbot und den Leichtgläubigen dahin brachte, einen Scheffel Silber dafür zu zahlen. Die jüdischen Kaufleute hatten Schutzbriefe mit Geltung für das ganze Reich und waren vom Heerbann und von anderen persönlichen Dienstleistungen befreit. Die ersten Privilegien, die die sächsischen Könige den einheimischen Kaufleuten für den Besuch ihrer Märkte erteilten, waren immer zugleich mit an die Juden gerichtet, oft so, daß die Juden den Kaufleuten vorangestellt wurden. Im übrigen galten für die Juden die kanonischen Bestimmungen, die Gregor der Große festgesetzt hatte. Dieser hervorragende Papst hat Richtlinien für die Art, wie die Juden behandelt werden sollten, gegeben, die jahrhundertelang von seinen Nachfolgern beobachtet wurden. Allerdings hielt er sich dabei an die Gesetze, die vor ihm, im fünften Jahrhundert, von den Kaisern in bezug auf die Juden erlassen waren: sie wurden dadurch von allen Ämtern und Würden im Staate ausgeschlossen, damit sie in die höheren Gesellschaftsklassen