Deutsche Geschichte (Band 1-3). Ricarda Huch
zum Zeichen, daß nur er, nicht mehr die Stadt, Gerichtsherr sei. Die steinernen Riesen in Zerbst, Halberstadt, Bremen, Ritter mit edlem lockigem Haupt, die das Schwert gerade aufgerichtet in der Hand halten, stammen aus dem 15. Jahrhundert und sind Nachbildungen älterer Figuren aus Holz, die bei einem Brand oder sonst zugrunde gegangen waren. Zuweilen fanden Hinrichtungen vor dem Rolandsbilde statt. Die Gerichtssitzungen wurden anfangs unter freiem Himmel abgehalten, später, als es Rathäuser gab, unter den offenen Lauben derselben und noch später in einem Saal im Innern des Hauses. Das älteste erhaltene Rathaus soll das der Unterstadt von Gelnhausen sein; es ist ein schlichter romanischer Bau, von dem man annimmt, daß er im Jahre 1170 entstanden ist. Während die Marktplätze der alten gewachsenen Städte sehr verschiedenartig, malerisch gegliedert sind, hat die Regelmäßigkeit der östlichen Kolonialstädte, die alle nach dem gleichen Muster angelegt sind, zuweilen etwas Ödes. Wie schön auch diese sein können, beweisen die Märkte von Breslau, imponierende saalartige Plätze, deren einer durch die fabelhafte Pracht des Rathauses belebt wird. Eine unerschöpfliche Erfindung hat im Norden, Süden, Osten und Westen des Reichs Rathäuser von verschiedenartigem Reiz aufgerichtet. Wie ein wohllautender Reim der Pfarrkirche Sankt Martin gegenüber umrandet das Braunschweiger Altstadt-Rathaus die Ecke des Platzes, zierlich und schnurrig ist das von Osterode am Harz, das von Michelstadt im Odenwalde, phantastisch prächtig sind die nordischen Ziegelbauten von Stralsund, von Tangermünde, bäuerlich behäbig die schwäbischen und fränkischen Fachwerkhäuser. Im Inneren führen schöngeschwungene Holztreppen zu den Sälen, wo die Ratsmänner tagen, wo bald die Täfelung der Wände wohnliche Stimmung, bald Malerei das Gefühl erhabener Feierlichkeit verbreitet. Die Rathäuser, deren Schönheit wir jetzt bewundern, sind ebenso wie fast alle die Wohnhäuser, die erhalten sind, erst um die Wende des 15. Jahrhunderts oder später errichtet. Im heroischen Zeitalter der Städte waren die meisten Häuser niedrig, eng, mit Stroh gedeckt, nur einige Reiche und Mächtige bauten sich steinerne, turmartige Häuser, in denen sie das Recht hatten, sich mit den Waffen zu verteidigen, so daß das Wort galt: mein Haus ist meine Burg. Kunst und kostbare Ausstattung wurden verschwenderisch auf die Kirche verwendet, das Haus Gottes und das Haus aller Bürger. Die Pfarrkirche lag gewöhnlich etwas abseits vom Markte, aber so, daß die Türme den Platz beherrschen; der Lärm des Verkehrs soll die Andacht nicht verwirren. Schauerliches Schweigen, kühle Dämmerung, in die es glühend tropft aus den bunten Fenstern, umfängt den Beter. Von den Pfeilern blicken die großen Heiligen, die kämpften und litten und nun in ewiger Glorie wohnen, ringsherum liegen die Toten, Söhne der Stadt, ruhend von ihrer Arbeit. Hier beginnt das Drüben, wo alle Rätsel gelöst, alle Sünden getilgt, alle Tränen getrocknet werden. Vom Turm läutet die Glocke, die der städtische Meister gegossen hat; jeder Bürger kennt ihre Stimme wie die Stimme einer Mutter. Weiter entlegen vom Markt steht in den größeren Städten der Dom, die Kirche des Bischofs, und stehen in fast allen die Kirchen der Franziskaner und Dominikaner.
Wenn der Kaiser seine Reichsstadt besucht, wird er zuerst in die Kirche geführt, abends vielleicht in ein Gildehaus oder in das Hochzeitshaus, wo er mit den schönen Bürgersfrauen tanzt und mit den Ratsmännern trinkt. Bei einem besonders angesehenen und wohlhabenden Bürger stieg er ab; Ludwig der Bayer wohnte in Nürnberg bei Heinrich Weigel auf dem Milchmarkt oder bei Albrecht Ebner auf dem Salzmarkt.
Einen großen Raum bedeckte das Spital mit den dazugehörigen Gebäulichkeiten. Es war fast immer dem Heiligen Geist geweiht; die Leitung stand entweder bei der Geistlichkeit und der Stadt zusammen oder bei der Stadt allein. Es nahm Kranke, Arme, Wöchnerinnen, alte Leute, Pilger, Wanderer auf und beherbergte sie je nach den Umständen für einige Nächte oder für Lebenszeit. Gewöhnlich war das Spital sehr reich; es besaß Dörfer, die regelmäßige Abgaben leisteten, aber auch einzelne Höfe und Gerechtsame, und es verfügte über Stiftungen, infolge welcher die Insassen an gewissen Tagen weißes Brot oder Wein und Bier oder Bäder erhielten. Einige Herren aus dem Rat hatten die Verwaltung des Spitals zu überwachen. Das Leprosenhaus, das dem heiligen Georg geweiht war, pflegte der Ansteckung wegen vor den Toren zu liegen; mit ihm war wie mit dem Spital eine besondere Kirche oder Kapelle verbunden.
Nicht nur die Krankenpflege nahm die Stadt der Kirche ab, sondern auch die Armenpflege, wenn auch die der Kirche weder ganz ausgeschaltet noch entbehrt werden konnte. Obwohl die Zünfte ihre Mitglieder nicht verelenden ließen, so gab es doch in den Städten sehr viel Arme; denn nicht alle Handwerker waren in Zünfte zusammengefaßt, und außerdem gab es Tagelöhner und eine Menge anderer Leute ohne bestimmten Beruf und regelmäßige Einnahme. Manche wurden in den Spitälern versorgt, manchen kamen Stiftungen zugute, die die wohlhabenden Bürger reichlich zu Lebzeiten oder im Testament anordneten. Die regierenden Familien fühlten sich sowohl für die Ordnung wie für die Verwirklichung der sittlichen Forderungen in ihrer Stadt verantwortlich. Die Kirchenväter hatten einst die großartige Auffassung vertreten, man solle nicht sagen, es seien nur die würdigen Armen zu unterstützen; denn die Armut sei es eben, die würdig mache. Dies göttliche Allerbarmen konnte wohl von der Kirche und von einzelnen, nicht von einer Stadtverwaltung geübt werden. Ihr kam es hauptsächlich auf Ordnung an, der zuliebe mit den sie Störenden nicht viel Federlesens gemacht wurde. Mit den einheimischen Armen wurde man einigermaßen fertig, lästiger war das von auswärts zuströmende Gesindel, das sich bedenklich vermehrte, als das Ostland aufhörte, Kolonisten an sich zu ziehen. Um die Heimatlosen wenigstens christlich zu bestatten, wenn sie starben, bildeten sich in den Städten Elenden-Bruderschaften. Im Jahre 1313 stiftete Bischof Albert von Halberstadt ein Grundstück für einen Friedhof, auf welchem, wie es in der Urkunde heißt, alle die Schwachen, Armen, Heimatlosen, die von Krankheiten heimgesucht und verlassen auf der Straße lagen, menschlichen Trostes beraubt, ruhen sollten. In Frankfurt am Main wurde im Jahre 1315 die erste Herberge für Landstreicher gegründet. Das fragwürdige Volk, das nicht ansässig war, wurde von Zeit zu Zeit aus der Stadt verjagt. Die Justiz war schnell und hart, ein geringer Diebstahl wurde oft mit dem Tode bestraft. Vielleicht aber war ein schneller Tod am Galgen oder durch das Schwert dem Verfaulen im Turm vorzuziehen. Dort ließ man wohl Unverbesserliche aus den regierenden Familien verschwinden. Im allgemeinen wurden die angesehenen Personen, wenn sie sich schwer vergangen hatten, im eigenen Hause in Haft gehalten. Ein eigentliches Gefängniswesen gab es nicht.
Umschlossen war die Stadt von der Mauer, die, wenn sie auch nicht von Anfang an zum Wesen der Stadt gehörte, doch ihr Wesen besiegelte. Sie rundete die Teile der Stadt zu einer Einheit ab, legte einen Gürtel um die Nachbarn, schirmte sie vor den Feinden draußen, verbürgte ihnen die Sicherheit, ohne die der friedliche und freie Charakter der Stadt sich nicht hätte entfalten können. Sie verlieh der Bürgerschaft das Gefühl der Unverletzlichkeit, das dem einzelnen Ritter sein Harnisch gab. Ehe die Städte frei waren, erstrebten die Bürger das Recht, die Mauern zu verteidigen, und wenn sie das besaßen, hatten sie schon die Hand auf die Freiheit gelegt. Ihrer Aufgabe, die Stadt vor Überfall oder Eroberung zu schützen, haben die Mauern in erstaunlich hohem Grade genügt. Unzählige Male haben sich Heere von Königen und Fürsten vor einer Stadt verblutet, fast immer mußten sie nach schweren Verlusten die Belagerung aufgeben. Wie stolz die Bürger auf ihre Mauer waren, zeigte sich nicht nur in der Sorgfalt, mit der ihr Zustand überwacht wurde, sondern auch in der das Auge erfreuenden Ausgestaltung. Die Türme, die die Mauer in gewissen Abständen durchbrachen, dienten dem Zweck der Verteidigung, und daß sie einen marschähnlichen, heroischen Rhythmus erzeugten, ist nur ein zufälliges Ergebnis; aber der Baumeister bemühte sich, auch in die Gestaltung der Türme Abwechslung zu bringen, und schmückte sie mit Wappen, Adlern, Kaiserbildern, Sprüchen. Mit besonderem Schwung gestaltete und schmückte man die Tore. Sie verkündeten dem Bürger, der seine Kühe aus- und eintrieb, dem Kaufmann, der seine Waren einführte, dem Feind, der die Stadt erstürmen wollte, dem Fürsten, der sie besuchte, daß hier eine mächtige Herrschaft beginne, die zu schützen, zu strafen und sich zu wehren wisse. Draußen dicht an der Mauer waren die Mühlen, ein wertvoller Besitz der Stadt, dann kamen Gärten, Äcker und Weiden, die wiederum durch eine Verschanzung geschützt waren. Die Dörfer in der Runde bildeten das nächste, sichere Absatzgebiet für die Waren der Stadt und mußten ihre Produkte auf die Märkte der Stadt bringen.
Das teuerste, bestgehütete Besitztum der Stadt waren ihre Privilegien von den Landesherren, ganz besonders die der Kaiser, auf denen die Reichsfreiheit beruhte. Es kamen Zeiten, wo die Leistungen der Reichsstädte fast die einzige sichere Einnahme des Kaisers ausmachten; auf ihre Anhänglichkeit konnte er immer rechnen.