Miau. Skye MacKinnon
unwahrscheinlich, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich muss mich um Wichtigeres als schmutziges Geschirr kümmern.
In meinem Büro lege ich wie immer die Füße auf den Schreibtisch und nehme die erste Akte vom Stapel. Darin starrt mich ein Foto des Mordopfers an. Auf dem Bild ist der Mann noch am Leben, aber sein Blick ist seltsam gejagt, angstvoll. Entweder hat er immer Angst gehabt oder speziell vor der Person, die das Foto gemacht hat. Ich setze neben das Bild ein kleines Fragezeichen. Das ist doch schon mal ein guter Ausgangspunkt für die Ermittlung.
Der Bruder des Opfers hat auf die nächste Seite eine kurze Aussage geschrieben. Laut ihm war Winston Kindler ein ruhiger, zurückgezogen lebender Mann mit wenigen Hobbies. Er ging gelegentlich angeln, sonst gab’s da kaum etwas. Keine Drogen, kein Alkoholmissbrauch. Keine Spielsucht – ein so langweiliger Typ, dass ich beim Lesen fast einschlafe. Alles, was Winston gemacht zu haben schien, war, in seinem Bonbonladen zu sitzen oder zu Hause. Ich denke, dem Laden muss ich als erstes einen Besuch abstatten.
Bis jetzt gibt’s jedenfalls keinen Grund, warum ihn irgendjemand hätte umbringen sollen.
Auf einem Notizblock schreibe ich ein paar Anweisungen für Benjamin: Bankkonten, Polizeiregister, Krankenakten.
Benjamin ist ein Dieb, der beste, und er wird leicht an diese Infos rankommen. Wir brauchen niemanden um diese Dokumente zu bitten. Ist doch viel leichter, sie zu stehlen. Vielleicht ergeben sich ein paar neue Anhaltspunkte, wenn er die Sachen besorgt hat, aber im Moment bleibt mir nichts übrig, als den Laden und den Tatort zu besichtigen. Hört sich nicht besonders spannend an. Jedenfalls nicht nach so viel Spaß wie ein guter Mord. Aber dann erinnere ich mich wieder an diesen wunderbaren Blankoscheck und bin auf einmal der Meinung, es gäbe kaum etwas Schöneres, als einen Süßwarenladen aufzusuchen.
Der Laden von Winston Kindler ist nicht geschlossen, wie ich das vermutet hatte. Nein, eine Schlange von Kindern windet sich davor bis um die nächste Straßenecke. Die meisten von ihnen warten geduldig, bis sie an der Reihe sind, aber viele hüpfen auch aufgeregt herum. Was in drei Teufels Namen geht hier vor? Ist denn heute keine Schule? Ich bin ja manchmal etwas desorientiert, aber glaube zu wissen, dass heute kein Wochenende ist.
Ich wende mich an ein Mädchen, das alleine dasteht und ein bisschen verloren wirkt.
„Was ist denn hier los?“ frage ich sie und deute mit dem Kopf in Richtung Laden.
Sie lächelt schüchtern. „Die verschenken da Süßigkeiten.“
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Tatsächlich? Weißt du, warum?“
Sie nickt. „Der Besitzer ist gestorben, und in seinem Testament hat er gesagt, die Süßigkeiten sollen alle verschenkt werden.“
Das Mädchen grinst breit und zeigt dabei schwarzgefärbte Zähne. Die Versuchung ist groß, ihr zu sagen, dass sie besser nichts Süßes mehr essen sollte, aber ich behalte den Gedanken für mich. Sie würde eh nicht auf mich hören.
Ich lasse sie stehen und gehe zum Eingang des Ladens. Einige Kinder beschweren sich laut von wegen Vordrängeln, wagen es aber nicht, mir das ins Gesicht zu sagen. Dabei versuche ich schon, meine Sprich-mich-nur-an-und-stirb-Aura auf ein Minimum zu reduzieren, aber es ist schwer, eine alte Gewohnheit aufzugeben. Je weniger Leute mich kennen, desto weniger können vor Gericht gegen mich aussagen. Oder mich umbringen.
Ich drücke mich an ein paar ungehobelten Jungs vorbei, bis ich im Laden stehe. Der Traum jedes Kindes! Große Gläser voller Bonbons in allen erdenklichen Farben türmen sich auf den Regalen und nehmen jedes verfügbare Plätzchen ein. Es duftet nach Schokolade und Lakritze und lässt mich vergessen, dass ich schon gefrühstückt habe.
Eine junge Frau steht hinter der Theke und wiegt Süßigkeiten auf einer uralten Messingwaage ab. Ich warte, bis sie die Bonbons in eine Papiertüte gefüllt und einem der Jungen ausgehändigt hat, bevor ich sie anspreche. Die Kinder hinter mir protestieren leise, dass ich mich in die Schlange gedrängelt habe.
„Das ist hier nur für Kinder, junge Frau“, sagt das Mädchen. Sie ist selbst kaum den Kinderschuhen entwachsen, höchstens siebzehn Jahre alt. Ihre Schürze ist übersät mit Staubzucker und Sirupflecken Sie sieht recht gewöhnlich aus, aber ihre Augen sind wach und funkeln.
„Ich bin nicht wegen der Bonbons hier“, sage ich und bemühe mich, dass man mir mein Bedauern nicht anhört. Hoffe aber, dass sie mir trotzdem ein paar Pfefferminzbonbons anbietet. „Ich bin hier wegen des Besitzers, Herrn Kindler.“
„So eine Tragödie“, murmelt sie. „Er war so freundlich zu allen. Ich weiß wirklich nicht, warum den irgendjemand umbringen wollte.“
„Du weißt, dass er ermordet wurde?“ frage ich, ein wenig überrascht.
Sie nickt. „Ja, sicher, wir waren Nachbarn. Ich habe seinen Leichnam gesehen.“ Sie erschaudert. „Das war wirklich kein schöner Anblick. Aber davon sollten wir besser nicht vor den Kindern sprechen.“
Ihr Blick schweift zu den Jungs hinter uns, die mit großen Augen zuhören. Das wird auf jeden Fall Thema Nummer Eins auf allen Schulhöfen der Stadt werden.
„Da hast du recht. Machst du bald Pause?“
Sie sieht auf ihre Armbanduhr, ein schweres, teures Exemplar. Nicht gerade üblich, so etwas am Arm einer jungen Verkäuferin zu sehen. Vielleicht ein Erbstück?
„Offiziell in einer Stunde. Aber bei dem Betrieb könnte das auch länger dauern. Die Nachricht hat sich schnell verbreitet, und bald wird jedes Kind in der Stadt auf dem Weg hierher sein. Würde mich nicht wundern, wenn ich den ganzen Tag hinter dem Ladentisch stehe oder eben bis alle Süßigkeiten verteilt sind. War eine nette Geste von Win … Herrn Kindler, das so zu bestimmen, aber für mich ist es ein hartes Stück Arbeit.“
Für den Bruchteil einer Sekunde zieht ein Schatten über ihr Gesicht, als sei sie nicht so überzeugt von ihrem ehemaligen Arbeitgeber. Ich notiere das im Geiste, auch die Tatsache, dass sie ihn beinahe beim Vornamen genannt hätte.
Widerwillig nicke ich. „Ich komme heute Abend wieder. Hier ist meine Karte, falls du früher fertig bist.“
Ich bin wieder mal froh, dass ich diese Visitenkarten habe drucken lassen. Da steht nicht viel drauf, nur meine Adresse und Telefonnummer. Kein Wort von Auftragsmorden. Das wäre denn doch geschmacklos.
„M.I.A.U.?“ fragt sie und runzelt die Stirn.
„Unser Firmenname“, antworte ich. „Es ist ein Kürzel“.
Ich sage ihr nicht, wofür es steht, das weiß ich selber nicht. Seit ich mir diesen blöden Namen ausgedacht habe, zerbreche ich mir den Kopf, was ich Kunden auf solch eine Frage antworten soll, außer, dass es ein dummer Witz war. Ich habe doch nie geglaubt, dass diese ganze Sache mit dem eigenen Geschäft überhaupt Erfolg haben würde. Sonst hätte ich schon einen etwas ernsthafteren Namen gewählt. Aber jetzt werde ich dieses M.I.A.U. nicht mehr los. Meister Im Anonymen Umbringen… oder so.
Sie stopft die Karte in ihre Schürzentasche und sieht mich genervt an, so als wollte sie sagen, ich solle mich vom Acker machen, damit sie den Kindern endlich weiter ihre Süßigkeiten geben kann.
„Bis später“, sage ich und spreche es mehr als Drohung denn Versprechen aus. Mir liegt es einfach nicht, nett zu anderen zu sein.
Die Leute, mit denen ich es zu tun habe, sterben meistens sowieso, es wäre also Verschwendung von Zeit und Emotionen, wenn ich so tun würde, als ob ich sie nett fände. Ich gehe professionell mit meinen Kunden um, bin aber sicher, dass mich keiner als „nett“ bezeichnen würde. Angenehm kühl, vielleicht. Frostig hilfsbereit. Solange sie mich bezahlen, ist es mir egal, was sie denken. So was von egal.
Ich verlasse den Laden und wünschte fast, ich hätte mir eine Tüte der Minzbonbons mitgenommen. Der Duft da drinnen hat meinen Appetit geweckt. Das Frühstück ist schon Geschichte. Mein Stoffwechsel spielt seit einiger Zeit verrückt. Ich esse dreimal so viel wie früher. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir