Ende gut, alles gut. u.a.
erst, wenn du gelandet bist. Melde dich, wenn du abfliegst«, bat Cindy. »Bitte . . .« Sie schluckte hörbar. »Dann bist du zwar noch nicht da, aber ich weiß, dass du wenigstens in der Luft bist. Auf dem Weg zu mir.«
»Traust du mir nicht?« Michelle reagierte, als hätte Cindy ihr etwas ganz Unglaubliches unterstellt. Und dabei stand sie hier, in einem Park in Miami, und schwindelte Cindy vor, sie wäre noch in Anaheim.
Na ja, sie schwindelte nicht wirklich. Selbst die Aussage, dass sie nicht wusste, wann sie fliegen würde, war nicht falsch, denn sie würde ja gar nicht fliegen, also konnte sie auch nicht wissen, wann. Gleichzeitig wusste sie aber auch, dass das Haarspalterei war. Etwas, das sie sich in langen Jahren im Geschäftsleben hatte angewöhnen müssen und eigentlich nie gemocht hatte.
Sie wusste, dass sie Cindy durchaus hätte die Wahrheit sagen können, ohne etwas zu verschweigen, und dass sie es nicht tat. Vielleicht ging sie deshalb so in die Luft. Weil sie eigentlich Schuldgefühle hatte. Denn sie wusste noch nicht einmal, warum sie Cindy die Tatsache, dass sie bereits hier war, verschwieg. Sie wusste nur, dass etwas tief in ihr drin das verlangte, ohne ihr eine Erklärung abzugeben.
»Nein, natürlich traue ich dir«, widersprach Cindy sofort vehement. »Ich . . . ähm . . .«, auf einmal schien es, als wäre sie abgelenkt, »muss jetzt auflegen.«
Candice? dachte Michelle. Aber selbstverständlich sagte sie es nicht. Sie hätte auch fragen können, wo Cindy jetzt war. Vielleicht war sie schon im Club, zog sich bereits für ihren Auftritt um . . .
Nein, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Was, wenn Cindy sich jetzt gerade vor Candice splitterfasernackt auszog, um das hautenge Kleid anzuziehen? Ohne Unterwäsche, denn so trug Candice diese hautengen Kleider auch immer. Das ging gar nicht anders, weil sich bei dieser Art Bekleidung sonst selbst das textilärmste Höschen abzeichnete.
»Tschüss, mein Liebling«, rief Cindy offenbar schon im Gehen. »Bis morgen dann!«
Michelle war froh, dass sie dieses morgen nicht auch noch bestätigen musste, denn danach war die Verbindung gekappt und Cindys Bild vom Display verschwunden.
Dennoch starrte sie noch eine Weile darauf, als würde sie erwarten, dass Cindys Gesicht wieder erscheinen würde. Aber sie hatte keinen Grund, noch einmal anzurufen. Warum sollte sie?
Mit einer Bewegung, als würde sie damit ein Kapitel beenden, steckte sie das Handy wieder in ihre Tasche.
Jetzt musste sie eine Entscheidung treffen, ob sie wollte oder nicht.
5
S ieht immer noch genauso aus wie damals.
Als Michelle das Lokal betrat, war es wie ein Déjà-vu, das keine guten Gefühle in ihr auslöste. Doch es war kein Déjà-vu, denn sie war ja tatsächlich schon einmal hiergewesen. Ein einziges Mal. Und das hatte sie verdrängt, soweit sie konnte.
Den Flügel und die Bühne im Hintergrund hatte sie damals gar nicht so richtig wahrgenommen. Sie war auf etwas anderes konzentriert gewesen. Auf Cait. Automatisch pressten ihre Kiefer sich aufeinander.
»Guten Abend.« Eine junge Frau, die zur Begrüßung der Gäste am Eingang stand, lächelte sie freundlich an. »Eine Person?«
Michelle nickte, während ihr Blick noch immer durch den langgestreckten Raum schweifte. Die Tische im Vordergrund waren schon recht gut besetzt. Ein paar Personen aßen bereits, die meisten unterhielten sich jedoch nur, lachten und erwarteten offensichtlich einen schönen Abend. Oder hatten ihn schon. Mit der Frau, die ihnen gegenübersaß.
»Haben Sie eine Reservierung?«, fragte die junge Frau jetzt.
»Nein.« Michelle schüttelte den Kopf. »Ich habe mich spontan entschieden herzukommen.«
Wie merkwürdig das klang. Normalerweise war sie überhaupt nicht spontan. Sie liebte Überraschungen nicht, egal, ob man sie ihr bereitete oder sie sie anderen bereiten sollte. Planung war ihre Devise. Nur so erreichte man die Ergebnisse, die man erreichen wollte.
»Die Tische an der Bühne sind alle reserviert.« Das Gesicht, das von halblangen dunklen Haaren eingerahmt wurde, schaute sie bedauernd an. »Wir haben heute Open Mic Night. Da sind die immer sehr begehrt.«
Open Mic Night. Das hieß also, Cindy war heute Abend nicht die einzige, die auf dieser Bühne auftreten würde. Michelle hatte sich schon gefragt, wie es zu diesem Auftritt gekommen war. Schließlich war Cindy keine professionelle Entertainerin. Noch nicht einmal eine Hobby-Entertainerin. Sie war gar keine Entertainerin. Warum sie sich plötzlich dazu entschlossen hatte, daran etwas zu ändern, konnte Michelle sich nicht erklären.
Es sei denn, Candice hatte etwas damit zu tun und sie dazu überredet. Candice stand immer im Rampenlicht. Das war für sie nichts Besonderes, sondern ihr normales Leben. Vielleicht hatte sie Cindy davon überzeugt, dass es auch ihr normales Leben werden sollte. Oder zumindest ein Teil davon. Weil Michelle sich nicht genug um sie kümmerte?
»Würden Sie mir bitte folgen?« Die junge Frau nahm eine Menükarte und ging Michelle voran ein paar Schritte in den Raum hinein.
Mechanisch folgte Michelle ihr, auch wenn sie einmal fast stolperte, weil ihr Blick immer noch auf die Bühne gerichtet war, die leer auf den Auftritt der ersten Person, die sich an diesem Abend dem offenen Mikrofon stellen wollte, wartete. Würde das Cindy sein?
»Bitte.« Mit einem einladenden Lächeln wies die sehr junge Frau – sie war höchstens Anfang zwanzig, vielleicht eine Studentin, für die das hier ihr Nebenjob war – auf einen kleinen Tisch, der in einer Ecke stand. »Mein Name ist Taylor, und ich bin heute ihre Kellnerin.« Sie machte eine kleine Pause, damit Michelle sich setzen konnte, bevor sie fragte: »Wissen Sie schon, was Sie trinken möchten?«
»Bourbon«, sagte Michelle automatisch. »On the rocks. Und seien Sie vorsichtig mit dem Soda.«
Taylor nickte, legte die Menükarte vor Michelle hin und drehte sich um.
Obwohl Michelle ihr hinterherschaute, als sie sich nun zur Theke begab, sah sie sie nicht wirklich. Sie war nur ein Teil dieses Raumes, der vor ihrem Blick verschwamm. Sie erinnerte sich. Sie wollte es nicht tun, aber sie konnte es nicht verhindern.
Als sie damals hier hereingekommen waren, Cait und sie, hatte sie sich nicht sehr intensiv umgeschaut. Es war Caits Aufgabe gewesen, sich um sie zu kümmern, so wie es ihre, Michelles Aufgabe gewesen war, sich in Orlando um Cait zu kümmern. Hier in Miami hatte sie nicht die Verantwortung.
Im Nachhinein war dieses Lokal ihr wie ein dunkler Vorhof zur Hölle erschienen, aber jetzt stellte sie fest, dass es gar nicht so dunkel war. Es war keine Schmusekneipe, die mit schummrigem Licht dazu einlud, hier das Vorspiel für spätere Sexgelage abzuziehen. Es war in erster Linie ein Restaurant, in dem Frauen allein unter Frauen sein konnten, für einen schönen Abend zu zweit.
»Haben Sie sich schon entschieden?« Taylor kehrte zurück, stellte den Bourbon vor Michelle hin und blickte sie fragend an.
Michelle schüttelte den Kopf »Ich glaube, ich will nichts essen. Ich habe keinen Hunger.« Das war eindeutig die Wahrheit, denn jeglicher Appetit, den sie eventuell hätte haben können, war ihr schon längst vergangen. »Später vielleicht.« Sie lächelte kurz, aber das Lächeln verschwand sofort wieder von ihren Lippen.
Taylor nickte berufsmäßig lächelnd, wie sie es auch getan hätte, wenn Michelle etwas bestellt hätte, und verschwand an die Tür zurück, um weitere Gäste zu begrüßen. Sie würde in kurzen Abständen wiederkommen, um entweder Michelles Glas aufzufüllen oder ihre Bestellung fürs Essen aufzunehmen, sobald Michelle Lust dazu hatte.
Anscheinend sollte die Open Mic Night nun beginnen, denn das Bühnenlicht strahlte auf, und der Raum wurde leicht verdunkelt. Eine etwas ältere Frau – möglicherweise die Besitzerin dieses Lokals – betrat die Bühne, nahm das Mikrofon und begrüßte die Gäste mit einem Scherz, der das Publikum zum Lachen brachte.
Michelle nicht, aber sie hatte auch gar nicht richtig zugehört.