Lågomby. Felix Maier-Lenz
vor allem das durchgängig geschäftige Treiben im 24-Stunden-Waschsalon gegenüber offenbart hatte.
Marie unterdrückte ein Seufzen. Eigentlich gefiel ihr der verwilderte Charme des Grundstücks sehr, er hatte schon fast etwas Märchenhaftes. Trotzdem fühlte sie sich fremd bei diesem Anblick. Fremd und einsam.
Sie kramte eine Jogginghose aus ihrer Tasche, schlüpfte hinein und ging die Treppe nach unten. Der Eindruck der vergangenen Nacht war hier noch merkwürdig präsent. Sie sah sich um, in der irrationalen Erwartung, die unbekannte Frau auf dem Sofa sitzend vorzufinden.
Doch das Sofa war leer und der ganze Raum wirkte so, als hätte hier schon lange niemand mehr gesessen. Wie im oberen Stockwerk war auch hier unten alles funktional und doch gleichzeitig gemütlich eingerichtet, skandinavisch eben. Die sorgfältig platzierten Dekorationselemente, die nicht darüber hinwegtäuschen konnten, dass das Haus unbewohnt wirkte, hatte Marie gleich bei ihrer Ankunft beiseitegeräumt. Der große, altmodische Kamin in einer Ecke des Wohnzimmers und ein ausladender Schaukelstuhl direkt daneben hatten ihr dagegen sofort ein heimeliges Gefühl vermittelt.
Auf der Küchenzeile stand ein Korb mit Kaffee, Saft und drei Packungen unterschiedlichen Knäckebrots. Davor lag ein kleiner Zettel: ‚Välkommen till Lågomby!‘
Im Kühlschrank fand Marie Milch und Margarine sowie ein riesiges dreieckiges Stück Käse. Dankbar schmiss sie die alte Filtermaschine an und beschloss, sich vom Zwischenfall in der Nacht nicht weiter verrückt machen zu lassen.
Während der Kaffee durchlief, schlenderte Marie durch den Garten. Der Rasen war vermoost, musste aber vor nicht allzu langer Zeit noch gemäht worden sein. Weich und ein wenig glitschig gab er unter ihren Füßen nach. Hier und da hatten sich Pilze den Weg durch die Moosschicht gebahnt, die meisten davon bereits ledrig überspannt oder komplett zerfleddert.
Die Obstbäume sahen trotz ihres unverkennbaren Alters erstaunlich gesund aus. Marie betrachtete die noch kleinen kugeligen Fruchtkörper daran und stellte beschämt fest, dass sie nicht einmal wusste, um welche Obstsorten es sich handelte.
Sie blieb stehen und sah zum Haus hinüber. Ein einfaches Holzhaus, das in klassisch schwedischem Rot gestrichen war. Niedlich wirkte es. Doch die Vorstellung, dass das jetzt ihr Zuhause sein sollte, war irgendwie grotesk.
Mit einem Mal kam Marie sich unheimlich albern vor. Was hatte sie eigentlich erwartet? Einen großen Befreiungsschlag – aber von was? Von Alex, vom unausgesprochenen Druck durch Freunde und Eltern, von sich selbst?
Denn während die Freunde, die Marie größtenteils noch aus Schulzeiten kannte, sich langsam aber sicher in Richtung Karriere, Familie oder Selbstverwirklichung verabschiedet hatten, hatte Marie das Gefühl, dass sich ihre Vorstellungen und Ziele nach und nach eher auflösten statt festigten.
Ein Neuanfang im Süden wäre ihr eigentlich lieber gewesen als Schweden. Bei Sonne am Strand ließ es sich sicherlich gut Zukunftspläne schmieden. Doch die wenigen Job-Angebote rund ums Mittelmeer waren hart umkämpft und ihre Berufserfahrung für eine solche Konkurrenz nicht ausreichend. Daher hatte sie nicht lange gezögert, als sie bei einer ihrer zäh dahinplätschernden Schichten über diese Stellenausschreibung gestolpert war. Irgendwas musste der Norden Europas schließlich haben, dass er sich schon seit Jahrzehnten als Sehnsuchtsort des deutschen Mittelstandes hielt. Und wo sollte man sich besser von einer dysfunktionalen Beziehung lösen als im emanzipierten Schweden?
Zugegeben: Lågomby war nicht gerade der Nabel der Welt, nicht einmal der Nabel Nordschwedens. Trotzdem war die Leitung der hiesigen Tourismusabteilung für Marie eine lang ersehnte Gelegenheit, sich aus der Stagnation in einem mittelklassigen süddeutschen Reisebüro zu befreien und endlich selbst Verantwortung zu übernehmen. Als Deutschlandexpertin sollte sie die Region um Lågomby endlich auf die Landkarte des nordeuropäischen Tourismus‘ hieven. Denn trotz des anhaltenden Skandinavien-Hypes konnte die Gegend sich bei den Rentner-Campern und Bullerbü-Romantikern bislang nicht durchsetzen – zu dunkel, zu kalt, zu entfernt von der Küste, für die einen zu weit im Norden, für die anderen nicht weit genug.
Nach dem Frühstück erkundete Marie die Gegend zu Fuß. Der Björnväg, an dessen Ende ihr Haus stand, lag weit im Osten Lågombys und wurde durch Wald vom Ortskern getrennt. An diesem Teil der Storgata, die das Städtchen mit der Landstraße verband, lag sonst nur noch eine Tankstelle sowie die Fernbushaltestelle des Ortes. Erst einige hundert Meter weiter bildete der Sveaväg auf der rechten Seite mit unscheinbaren Häuschen und einfachen Siedlungen den eigentlichen Stadtrand.
Auf der linken Seite der Storgata, Richtung Landstraße hin, ragte eine alte Fabrik auf. Die gleichmäßig heruntergekommenen Gebäude ließen keine Zweifel daran, dass sie ihre beste Zeit schon eine Weile hinter sich hatte.
Im Vorbeigehen spähte Marie durch den einfachen Maschendrahtzaun, der das Gelände umgab. Sie suchte und fand den altmodisch anmutenden Namenszug des Betriebs über dem Haupteingang: Alfredssons.
Marie nickte innerlich. In Vorbereitung auf ihren Umzug hatte sie bereits von der alten Brauerei gelesen. Alfredssons war trotz beträchtlicher Umsatzeinbußen in den vergangenen Jahren neben der Stadtverwaltung, der Forstwirtschaft und den kümmerlichen Resten alter Bergbaubetriebe der einzige größere Arbeitgeber in Lågomby. Das Hauptgebäude war auf einem Hügel errichtet worden und strahlte trotz seines Alters noch einen fast majestätischen Stolz aus. Einige der anderen Gebäude dagegen schienen kaum genutzt oder sogar stillgelegt zu sein.
Marie ging weiter bis zur Nygata, die Adresse ihres neuen Arbeitsplatzes. Hier manifestierte sich das Zentrum in einer winzigen Ansammlung an Lokalitäten. Auf der einen Seite ein kleiner Supermarkt, ein noch kleinerer Spielplatz und etwas abgelegen eine schon deutlich in die Jahre gekommene Eishalle. Auf der anderen Seite befand sich eine Kneipe mit dem klangvollen Namen Mickes Bar und der Rathausplatz, an dessen Rand ein unscheinbares Flachgebäude stand, das den Schriftzug Kommunhus trug.
In einem plötzlichen Anflug von Aufregung blieb Marie stehen und betrachtete ihren neuen Arbeitsplatz. Schick war sicherlich etwas anderes. Trotzdem gefiel ihr der Gedanke, von nun an direkt im Rathaus zu arbeiten. Sie überquerte die Straße und ging neugierig auf das Gebäude zu. Im Erdgeschoss befand sich ein Ladenbüro, dessen verschlossene Tür mit dem blau-weißen i und der Bezeichnung Turistbyrå geziert war. Marie legte die Hände über die Augen, lehnte sich gegen die Scheibe und spähte hinein. Einen Moment verharrte sie so. Dann sah sie sich ein wenig irritiert um. Sie lief weiter zum Haupteingang des Rathauses, suchte hier nach einem Verweis auf ein weiteres Büro, konnte aber nichts finden. Auf ihrem Smartphone glich sie die Adresse mit den Angaben in Lennarts letzter E-Mail ab.
Sie spürte Ernüchterung in sich aufsteigen. Fast musste sie über sich selbst lachen, als ihr dämmerte, dass ‚Leitung der Tourismusabteilung‘ in einem Ort wie Lågomby einer Mitarbeiterin der Touristeninformation gleichkam.
Noch einmal trat sie an die Scheibe des kleinen Büros und sah hinein. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür und schaute über den leeren Platz.
„Herzlichen Glückwunsch, Marie, ganz große Entscheidung!“
Eine Weile blieb sie so stehen. Ein Auto kam die Straße entlang, verlangsamte gerade lang genug, dass sein Fahrer ihr einen neugierigen Blick zuwerfen konnte, und fuhr dann weiter Richtung Storgata.
Sie holte tief Luft. Zumindest die war fraglos besser als zuhause, sauberer und irgendwie weicher. Sie stieß sich von der Tür ab und stapfte los. So leicht würde sie sich nicht demotivieren zu lassen.
Die Nygata war als Hauptachse des Ortes angelegt. Ganz an ihrem Ende, noch hinter der Eishalle, stand eine Kirche. Entsprechend war die Verlängerung der Straße dort mit dem separaten Namen Kyrkväg versehen worden. Marie umrundete die Kirche und bog dahinter in den Bergväg ein, der sich an einem Hügel entlang zurück zur Storgata schlängelte. Hier im Westen des Ortskerns hatte sich ganz offensichtlich die bessergestellte Gesellschaft Lågombys niedergelassen. Interessiert betrachtete Marie die ungewöhnlich großen Holzhäuser, die zwar nicht mehr ganz frisch wirkten, aber noch immer mit ihrem schlichten Design beeindruckten.
In der Entfernung kam ihr jemand vom unteren Ende der Straße