Lågomby. Felix Maier-Lenz

Lågomby - Felix Maier-Lenz


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oder umkehren sollte.

      Plötzlich stockte ihr der Atem. War das nicht die Frau von letzter Nacht?

      Marie stutzte. Dann ging sie los, auf die Frau zu.

      Doch als die Unbekannte schließlich doch noch zielstrebig in einem Hauseingang verschwand, hielt Marie inne.

      Verunsichert blieb sie stehen. Vielleicht hatte ihre erste Nacht in Lågomby sie doch mehr verwirrt als sie sich selbst eingestehen wollte.

       Montag

      Am Abend nach ihrer Stadterkundung hatte Marie sich erschöpft schon früh schlafen gelegt. Sie war davon ausgegangen, wie üblich am nächsten Morgen mit dem ersten Tageslicht aufzuwachen. Dabei hatte sie nicht bedacht, dass dieses Tageslicht hier Anfang Juni beinahe die ganze Nacht hindurch schien. Müde hatte sie stundenlang in die schummrige Luft ihres Zimmer gestarrt, immer noch verwundert über die Diskrepanz zwischen der nächtlichen Uhrzeit und dem Zwielicht, das an den Seiten der Vorhänge vorbei ins Zimmer fiel. Erst am frühen Morgen war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen, aus dem ihr Wecker sie wenig später jäh herausriss. Gerädert wühlte sie sich aus dem Bett.

      Die Kombination einer Dusche und einer ersten Tasse Kaffee auf der kleinen Veranda vor ihrem Haus ließ sie die anstrengende Nacht beinahe vergessen. Normalerweise war sie ganz gut darin, sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Wie sonst hätte sie die letzten Jahre unter ihrem Arschloch von Chef überstanden. Und hier oben gab es wahrlich einige gute Aspekte, auf die man sich konzentrieren konnte. Wenn man die Natur liebte. Und außergewöhnliche Lichtverhältnisse. Und Einsamkeit. Und das Fehlen jeglicher Urbanität.

      Marie zwang sich, diesen Gedankengang nicht weiterzuverfolgen. Sie ahnte, dass er unweigerlich dazu führen würde, dass sie am Ende den Blick auf ihren Waschsalon vermissen würde.

      Beim Zusammensuchen ihrer Unterlagen merkte sie langsam Nervosität in sich aufsteigen. Nicht nur wegen des neuen Jobs, damit hatte sie gerechnet. Aber auch die Aussicht, Lennart Sandberg zu treffen, verursachte ein neugieriges Ziehen in ihrem Bauch, das sie nicht erwartet hatte. In den vorausgegangenen Wochen hatte sie mit Lennart einen schon geradezu vertrauten Mailkontakt gepflegt, und er war es auch gewesen, der ihr mit seiner charmanten Art die letzten Zweifel in Bezug auf diese etwas ungewöhnliche Stelle genommen hatte. Sie warf einen letzten kurzen Kontrollblick in den Spiegel, bevor sie das Haus verließ und die wenigen Minuten bis in den Ortskern fuhr.

      Einen großen Unterschied zu gestern konnte sie nicht ausmachen, als sie kurz darauf vor dem Rathaus parkte. Obwohl es Montagmorgen war, waren kaum Menschen zu sehen. Entschieden ging sie auf die kleine Touristeninformation zu.

      Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, wurde diese schwungvoll aufgerissen. Ein Mann mit sorgfältig gestyltem mittellangem blondem Haar, einem dichten, aber nicht minder gepflegten, Bart und einem herzlichen Lächeln stand vor ihr. Marie musste sich ein Grinsen verkneifen. Schwedischer konnte man wohl kaum aussehen.

      Sie streckte ihre Hand aus. „Guten Morgen. Ich bin Marie Falk.“

      Innerlich atmete sie kurz auf. Zumindest ihren ersten schwedischen Satz hatte sie halbwegs flüssig über die Lippen bekommen.

      Lennart lächelte sie herzlich an und nahm ihre Hand.

      „Schön, dass du da bist. Komm rein.“

      Damit zog er sie auch schon in das kleine Büro hinein.

      „Hast du dich schon etwas von der langen Reise erholt?“

      Marie zögerte kurz. Sollte sie Lennart von dem nächtlichen Zwischenfall erzählen? Aber was für einen Eindruck würde ihm das von seiner neuen Chefin vermitteln? Und eigentlich kannte sie ihn ja kaum.

      „Das Licht hier oben ist bestimmt ziemlich ungewohnt für dich, oder?“, unterbrach Lennart ihren Gedankengang.

      Marie nickte, dankbar für diesen Ausweg.

      „Vielen Dank für den schönen Begrüßungskorb!“

      Bis hierhin hatte sie sich die Sätze in ihrem noch etwas unerprobten Schwedisch zurechtgelegt. Ab jetzt war alles Neuland für sie.

      „Du wurdest hier schon neugierig erwartet. Liegt vielleicht auch daran, dass du seit 1985 die Erste bist, die freiwillig hierher statt weg zieht.“

      Lennart zwinkerte und Marie registrierte, wie gut es ihr tat, sein Lachen zu sehen. Kein Wunder, schließlich war die Begegnung mit Lennart ihr erster zwischenmenschlicher Kontakt seit Tagen.

      Sie standen in einem kleinen Raum mit zwei Schreibtischen, an denen man besucherfreundlich von beiden Seiten Platz nehmen konnte. An einer Seite stand ein Regal mit Landkarten und Prospekten, daneben eine mobile Schreibtafel und am hinteren Ende auf einem Sideboard war eine Kaffeebar aufgebaut, die mit ihren verschiedenen Keramikfiltern und bauchigen Glasbehältern an ein kleines Chemielabor erinnerte. Lennart deutete mit einer einladenden Bewegung auf den hinteren der beiden Schreibtische.

      „Bitte – dein Platz.“

      Marie sah sich um. Das war also tatsächlich alles. Sie ging um den ihr zugewiesenen Schreibtisch herum, nahm auf dem komfortabel aussehenden Bürostuhl Platz und starrte auf den schwarzen Bildschirm des Computers. Lennart reichte ihr eine Mappe mit Fakten und Hintergrundinformationen, die Marie den Einstieg erleichtern sollten. Dann begann er an der Kaffeebar zu hantieren.

      „Ich freu mich, dass ich jetzt nicht mehr alleine hier sitzen muss.“

      Marie lächelte schwach. Durch das große Fenster sah sie ein altes Paar mit Einkaufstüten, das die andere Straßenseite entlangschlurfte. Sonst war alles leer. Maries Blick wanderte an die gegenüberliegende Wand, an der auf einem altmodischen und bereits angegilbten Plakat der Bergbau als Prestigeprojekt dieser Region angepriesen wurde. Daneben ein gerahmtes Foto des ältesten Elchbullen in Nordschweden – zumindest wenn Marie die Bildunterschrift richtig verstand.

      Mit einem Mal fühlte sie sich, als würde der Boden unter ihr wegsacken. In ihrem Kopf formulierten sich alle möglichen Fragen gleichzeitig – was sie hier eigentlich machte – warum sie sich nicht besser vorbereitet hatte – und vor allem, wie um Himmels willen sie aus dieser Nummer wieder rauskommen sollte. Doch gerade als Marie sich selbst eingestehen wollte, dass sie kurz davor war, eine ernsthafte Panikattacke zu bekommen, wurde eine elegante Tasse in modernem Design vor sie auf den Tisch gestellt.

      „Erstmal ’n Kaffee, Chefin. Einen besseren wirst du hier in der Gegend nicht so schnell finden. Die Bohnen sind von einer kleinen Rösterei in Umeå. Und die Semlor hab ich selbst gebacken. Das Rezept ist von meiner Oma.“

      Lennart zeigte auf einen Teller voll mit Windbeuteln, ließ sich Marie gegenüber auf den Besucherstuhl fallen und strahlte sie an. Marie starrte auf das Gebäck. Dann musste sie unwillkürlich lächeln. Und schon der erste Schluck von Lennarts handgefiltertem Kaffee gab ihr das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu spüren.

      Im Laufe des Tages versuchte Marie, sich nicht vom Blick aufs große Ganze ablenken zu lassen. Sie konzentrierte sich auf die Details der einzelnen Arbeitsabläufe, die Lennart ihr mit seiner ruhigen und positiven Art erläuterte, als hätte er noch nie einen Gedanken daran verschwendet, ob es für ihn eine Karriere außerhalb dieses kleinen Ladenbüros mitten in der schwedischen Provinz geben könnte. Mehr als einmal lag ihr die Frage auf der Zunge, warum er nicht selbst die Leitung des Büros übernommen hatte, schließlich schien er sich perfekt mit der Gegend und den internen Abläufen auszukennen. Er kam ihr zuvor, als er erwähnte, dass Bürgermeister Lasse Ohlsson die Position als Schlüsselstelle für den angestrebten Aufschwung Lågombys einstufte und daher auf einen Expertenblick von außen bestanden hatte.

      Falls diese Entscheidung Lennart gekränkt haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken. Im Gegenteil: Er bemühte sich in seinen Auslegungen, Marie nicht nur die Strukturen der Gegend, sondern – nicht ohne selbst-ironisches Augenzwinkern – auch die Liebe zu seinem Heimatort zu vermitteln. Tatsächlich merkte Marie prompt, wie ihre Moral dadurch angehoben wurde. Man hatte ihr mit ihrer Anstellung eine Menge Vertrauen entgegengebracht


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