Lågomby. Felix Maier-Lenz
halbwegs ernst mit ihrem Neuanfang meinte.
Eigentlich hatte Marie sich auf einen ruhigen und kurzen Abend zuhause gefreut. Sie war müde und hatte gehofft, dass die Aufregung des ersten Arbeitstages ihr über die Verwirrungen des nächtlichen Zwielichts hinweghelfen würden. Doch Lennart überredete sie, ihren Einstand gemeinsam in Mickes Bar zu feiern. Ihr war klar, dass dieses Arbeitsverhältnis nicht nur eine wichtige, sondern aktuell auch die einzige Säule ihres neuen Lebens darstellte. Da wollte sie nicht gleich am ersten Abend ablehnen.
Also betrat sie, nach einem kurzen Abstecher in den örtlichen Supermarkt, bei dem sie sich neben zwei Flaschen Wein vor allem mit frischem Obst und Gemüse eindeckte, hinter Lennart die Bar.
Schon auf den ersten Blick stellte sie überrascht fest, dass der Raum viel gemütlicher war, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Möbel, Fußboden und selbst die Wände waren aus massivem dunklem Holz gefertigt. Trotzdem wirkte es nicht schwerfällig oder düster, was vermutlich an den zahlreichen kleinen Lampen lag, die ringsherum an den Wänden angebracht waren und alles in ein weiches, angenehmes Licht tauchten. Gleich links neben dem Eingangsbereich, der durch eine Zwischentür vom Hauptraum getrennt war, befand sich ein großer runder Tisch. Auf der rechten Seite an der Wand standen mehrere separate Sitzbereiche, wie man sie aus amerikanischen Diners kennt, die Sitzbänke grün bezogen. Zwischen dem Eingang und der großen Bar, welche beinahe die komplette gegenüberliegende Seite einnahm, befanden sich zwei enorme Tragebalken, die aussahen, als wüchsen zwei stattliche Tannen in die Decke. Um die Balken herum waren Tischgruppen platziert, auf denen Teelichter in schlichten Gläsern brannten. Am linken Ende der Bar dampfte es aus einer Durchreiche, die wohl in die Küche führte. Im ganzen Raum gab es nur zwei Fenster, durch deren grüne Verglasung kaum Tageslicht nach innen drang.
Das wirklich Überraschende für Marie war aber nicht, dass Mickes Bar nicht die heruntergekommene Spelunke war, die sie sich vorgestellt hatte, sondern dass die Kneipe fast bis auf den letzten Platz gefüllt und die allgemeine Stimmung der Gäste heiter, fast schon ausgelassen war. Auf einen Blick sah Marie mehr Menschen, als sie gestern bei ihrem Spaziergang durch den Ort getroffen hatte.
„Hierhin habt ihr euch also alle verkrochen“, murmelte sie leise vor sich hin.
Aus den Boxen klang eine Musik, die sie spontan als schwedischen Country definieren würde, und direkt an der Bar tanzte sogar ein älteres Paar dazu. Wobei tanzen vielleicht etwas zu viel gesagt wäre. Die beiden lehnten eng aneinander und wippten zum Rhythmus der Musik hin und her.
Was Marie wiederum nicht überraschte, war der Altersdurchschnitt der Gäste, den sie mit ihren 34 Jahren sicherlich um einiges unterschritt.
Dafür überkam sie umso mehr Erstaunen, als sich nach den ersten Schritten Richtung Raummitte ihre Perspektive plötzlich radikal änderte und der dunkle Fußboden mit rasender Geschwindigkeit auf sie zuzukommen schien. Sie war so vertieft in die Betrachtung der Bar gewesen, dass sie die zwei Stufen übersehen hatte, die vom Eingangsbereich in den Hauptraum hinunterführten. Ihr von den vielen Eindrücken der letzten Tage offenbar überlastetes Gehirn war nicht in der Lage, rechtzeitig einen rettenden Reflex an den Rest des Körpers auszusenden und so war Marie ungebremst dem Boden entgegengesegelt.
„Hoppla!“ Lennart hatte sich zu ihr umgedreht.
Marie glaubte, einen Anflug von Belustigung in seinem Gesicht zu erkennen. Ihr Knie schmerzte, doch sie beeilte sich aufzustehen, noch bevor Lennart ihr zu Hilfe kommen konnte.
‚Was für ein Auftritt.‘ Sie warf einen verstohlenen Blick in den Raum, wo sich in diesem Moment niemand rührte und alle Augen auf sie gerichtet waren. Dann setzte sie ein Lächeln auf.
„Hallo! Ich bin Marie, die Neue.“
Hier und da konnte Marie den Ansatz eines Nickens erkennen. Ansonsten verzog niemand der Anwesenden die Miene. Erleichtert stellte sie fest, dass die meisten Gäste sich schnell wieder ihren eigenen Gesprächen und Gläsern zuwandten.
Lennart grinste und führte Marie zu einem der Tische am Rand.
„Keine Sorge – das passiert mindestens einmal im Monat. Meistens zwar erst, nachdem Solveig ihren Selbstgebrannten hervorgeholt hat, aber so hast du es wenigstens schon hinter dir.“ Er lachte.
„Dann hab ich ja alles richtig gemacht.“ Marie verzog das Gesicht und schob sich auf die Sitzbank. „Wer ist Solveig?“
Wie aufs Stichwort trat eine ältere Frau an den Tisch und nickte Marie mürrisch zu.
„Solveig, das ist Marie. Sie übernimmt die Leitung der Tourismusabteilung“, erklärte Lennart. „Marie, Solveig ist Micke.“
Solveig runzelte die Stirn missbilligend. Aber Lennart lachte erneut und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf den Arm.
„Nicht im wörtlichen Sinne natürlich. Sie und ihr Ex-Mann Micke haben das Lokal vor 40 Jahren aufgebaut. Aber der Nichtsnutz ist schon ein Jahr später abgehauen. Ist auch besser so – nicht wahr, Solveig?“
Die Miene der alten Dame hellte sich merklich auf. Ganz offensichtlich hatte Lennart damit ein Lieblingsthema von ihr angesprochen.
„Verdammt richtig, Lennart! Hätte er noch ein Jahr gewartet, hätte er die Bar höchstpersönlich in den Konkurs gesoffen. Nur schade, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, ehe ich ihn rausschmeißen konnte.“ Sie zwinkerte Marie zu. „Was kann ich dir bringen, Kleines?“
„Ich …“ Marie stockte. „Was trinkt man denn hier?“
„Alfredssons“, antworteten Solveig und Lennart wie aus einem Mund.
„Unsere Brauerei ist der Stolz der Region“, erklärte Lennart.
Er lächelte auf eine Weise, die Marie als so etwas wie liebevollen Spott deutete und die sowohl seine Verwurzelung im Ort als auch eine Reflektion dessen durchscheinen ließ.
Nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft musste Marie sich eingestehen, dass sie diese Reise unter normalen Umständen – ohne Trennung, ohne Sinnkrise und mit einer gründlicheren Vorbereitung – vermutlich nie angetreten hätte. Und trotzdem – ob es nun Abenteuerlust, Gleichgültigkeit oder Lennarts durchaus angenehme Anwesenheit war – sie konnte in diesem Moment keine Spur von Reue in sich finden.
Lennart hatte sich inzwischen wieder Solveig zugewandt. „Also zwei Alfredssons und zweimal …“
„… den Kartoffelauflauf mit Lachs. Schon notiert, mein Junge.“ Damit verzog Solveig sich Richtung Küche.
Marie betrachtete Lennart unauffällig. Normalerweise konnte sie es nicht ausstehen, wenn jemand einfach für sie mitbestellte. Doch seine ungezwungene Art gefiel ihr. Und an diesem Abend war sie froh, keine komplizierte kulinarische Entscheidung treffen zu müssen.
„Solveig ist so etwas wie der soziale Mittelpunkt Lågombys. Es sich mit ihr zu verscherzen, wäre also unklug.“
„Kann ich mir gut vorstellen.“
In diesem Moment klingelte Maries Handy. Sie beeilte sich, es aus ihrer Tasche zu nehmen, um nicht noch mehr aufzufallen. Von ihrem Display aus strahlte ihr ein Bild des Anrufers entgegen – Alex. Ein Foto aus einer Zeit, als sie selbst noch an diese Beziehung geglaubt hatte. Oder hatte sie das insgeheim nie wirklich getan? Hatte es sie vielleicht gerade deshalb so zu Alex hingezogen, weil sie wusste, dass mit ihm keine Zukunft möglich war? Dieser Frage wich Marie aus, seitdem sie in Rostock auf die Fähre gefahren war. Überrascht stellte sie nun fest, dass der Anblick seines Fotos kaum Schmerz in ihr hervorrief. Eher wirkte es unpassend, in dieser fremden Umgebung an ihn erinnert zu werden. Anscheinend hatte sie sich innerlich schon mehr von ihm verabschiedet, als ihr selbst bewusst gewesen war.
Sie drückte den Anruf weg, schaltete ihr Handy aus und lehnte sich über den Tisch zu Lennart hinüber.
„Also – nachdem ich mich schon selbst so charmant vorgestellt habe, erzähl mir doch bitte mal, mit wem ich es hier zu tun habe.“
Solveig