Lågomby. Felix Maier-Lenz

Lågomby - Felix Maier-Lenz


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Glas. „Skål!“

      Sie lächelte. „Skål!“

      „Die meisten hier sind Bauern, Rentner und ehemalige Bergarbeiter. Dass wir hier ein kleines Altersproblem haben, ist dir ja wahrscheinlich schon aufgefallen. Für junge Leute gibt es hier nicht viel.“ Lennart strahlte sie an. „Aber das wollen wir ja ändern.“

      „Moment – wir wollen den Tourismus ankurbeln.“

      Lennart winkte ab. „Mehr Tourismus, mehr Arbeitsplätze, mehr Lebensqualität – ist doch alles das Gleiche.“

      Marie wollte gerade ansetzen, um ihm zu widersprechen, doch Lennart nickte schon in Richtung des großen Tisches direkt neben dem Eingang. Dort saß eine Gruppe älterer Männer, für die Lennart das deutsche Wort „Stammtisch“ verwendete. Es waren Mitarbeiter von Alfredssons. Mit einem Anflug von Stolz erzählte Lennart, dass zu den besten Zeiten des Unternehmens halb Schweden Lager aus Lågomby getrunken hatte. Der Gründer, Pärre Alfredsson, hatte die Brauerei während des zweiten Weltkriegs aufgebaut. Bei den Minenarbeitern, die hier oben im Norden vor allem Eisenerz, aber auch Gold, Silber, Kohle und einige andere wertvolle Schätze aus dem Boden geholt hatten, war er auf eine durstige Kundschaft gestoßen. Mit dem Ende des Krieges nahm der Bergbau sogar noch zu und die neu angeheuerten Kumpels aus dem Süden begannen, Alfredssons auch in ihren Heimatregionen zu verbreiten. Fast 30 Jahre ging es stetig bergauf mit der Brauerei und dementsprechend auch mit Lågomby. Erst mit der großen Eisen- und Stahlkrise in den 1970ern begann auch der Bierdurst nachzulassen.

      Marie folgte Lennarts Ausführungen leicht amüsiert. Es war unverkennbar, dass sich zu seinem beruflichen Interesse an der wirtschaftlichen Situation der Region auch eine gehörige Portion Lokalpatriotismus mischte.

      „Wer ist denn der eine da?“ Sie nickte neugierig in Richtung eines Mannes, der sich in seiner äußeren Erscheinung von den anderen Gästen am Stammtisch abhob. Er war ungefähr so alt wie Marie, trug ein gut geschnittenes, blaues Hemd mit einer grauen Anzugsweste darüber und eine moderne Brille mit unauffälligem schwarzem Gestell. Sein hellbraunes Haar war kurz geschnitten und adrett frisiert.

      „Ah, ein Blick fürs Wesentliche!“ Lennart lachte. „Das ist Jonas Alfredsson, Pärres Enkel. Sein Vater Stig leitet die Brauerei, noch.“

      „Wieso noch?“

      „Naja, Stig geht glaub ich auch schon auf die 70 zu.“

      „Verstehe. Dann ist Jonas hier sowas wie der Kronprinz?“

      Lennart nickte. „Eigentlich schon. Aber er macht kein Geheimnis daraus, dass er die Brauerei ganz neu ausrichten möchte. Und auf dem Ohr ist Stig taub. Auch wenn die Zahlen gegen ihn sprechen.“

      Er unterbrach sich, als die Tür geöffnet wurde und ein Bär hereinpolterte – das hätte Marie zumindest geschworen, wenn man sie in dieser Sekunde gefragt hätte. Der Mann maß an die zwei Meter und schien auch von der Breite nur mit Mühe durch den Türrahmen zu passen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass er schon weit jenseits der 80 sein musste.

      Er grummelte etwas in die Runde und ging mit gesenkter Stirn auf den Stammtisch zu, wo er in stummer Einvernehmlichkeit begrüßt wurde.

      „Das ist Ove“, erklärte Lennart. „Er ist so was wie ne Institution hier. Ove ist als kleiner Junge zu den Alfredssons gekommen. Seine Eltern sind früh gestorben. Pärre und er waren unzertrennlich, wie Brüder. Er hat die Brauerei quasi mit aufgebaut.“

      „Und jetzt? Der muss doch schon lange in Rente sein.“

      Lennart hob die Augenbrauen und zog die Luft ein. Marie registrierte darin die typisch nordschwedische Eigenschaft einer wortlosen Bestätigung – ähnlich, nur viel beiläufiger, wie ihre Schwedisch-Lehrerin zuhause es ihr vorgemacht hatte.

      „Ove in Rente? Vorher geh ich in Ruhestand! Offiziell ist er immer noch Braumeister. Aber ich glaube, er ist eher so was wie der Berater der Familie.“ Er beugte sich vor und senkte die Stimme etwas. „Er hat immer mal wieder Probleme mit Alkohol gehabt. Jetzt ist er aber schon lange trocken.“

      „Bist du sicher?“ Maries Blick war wieder zu dem alten Mann gewandert, der gerade das Bier seines Nachbarn mit einem einzigen Schluck leerte.

      „Naja …“ Lennart runzelte die Stirn, sichtlich irritiert.

      „Vielleicht will er die neue Charge testen?“

      Marie nickte nur, konnte aber an den Reaktionen der anderen Gäste erkennen, dass sie ebenso überrascht waren wie Lennart. Solveig bedachte Ove mit einem strengen Blick und knallte ungefragt ein großes Glas Wasser vor ihn auf den Tisch. Ove ignorierte sie, nahm das Wasser aber und trank.

      Wenig später brachte Solveig zwei dampfende Teller zu Marie und Lennart. Marie merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Seit einem – erstaunlich leckeren – Tankstellen-Hotdog vor zwei Tagen hatte sie nichts Warmes mehr gegessen. Umso mehr genoss sie Solveigs Auflauf.

      Ihr entging nicht, dass Lennart immer wieder einen prüfenden Blick in Richtung Stammtisch warf. Als Marie gerade die letzten Reste von ihrem Teller kratzte, stand Ove auf, hob die Hand zu einem knappen Abschiedsgruß in die Runde und ging zur Tür. Marie beobachtete, wie Jonas Alfredsson zügig sein Glas leerte, einen Geldschein auf den Tisch legte und Ove hinterhereilte.

      Sie merkte auch, dass Lennart das Geschehen am Stammtisch beschäftigte. Er sah Ove nachdenklich hinterher und wirkte sichtlich erleichtert, als Jonas ihm folgte. Er seufzte, fing sich dann aber schnell wieder und lächelte Marie zu.

      „Noch ein Bier?“

      „Unbedingt.“ Marie legte zufrieden ihre Gabel beiseite, schnappte sich die leeren Gläser und ging damit zu Solveig an die Theke.

       Dienstag

      Über Nacht hatte sich eine dichte Bewölkung ausgebreitet, die nebelartig bis knapp unter die Baumspitzen vor Maries Fenster heranreichte und eine fast schon heimatlich-vertraute Dunkelheit erzeugte. Ein leichter Brechreiz und pochende Kopfschmerzen hatten sie früh am Morgen aus einem unruhigen Schlaf geholt. Schweden und Trinkfestigkeit – diese Gleichung hatte Marie nicht überrascht. Aber wie sehr der adrett wirkende Lennart diesem Klischee entsprach, hatte sie dann doch nicht erwartet.

      Wohlwissend, dass Liegenbleiben ihren Zustand nicht verbessern würde, stand Marie schwerfällig auf und schlurfte hinunter in die Küche. Wenig enthusiastisch knabberte sie an einem unbelegten Stück Knäckebrot, um ihren Magen auf die zwei Aspirin vorzubereiten, die direkt im Anschluss folgten. Schließlich brachte sie die Energie auf, Kaffee zu machen – und als sie den Duft über der dampfenden Tasse einatmete, ging es ihr augenblicklich ein wenig besser.

      Durchs Küchenfenster sah sie, dass es inzwischen zu nieseln begonnen hatte. Es wirkte nicht so, als wolle es damit jemals wieder aufhören. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch über zwei Stunden Zeit hatte, bis ihr zweiter Arbeitstag begann. Sich nochmal schlafen zu legen lohnte sich da nicht wirklich, zumal Marie aus Erfahrung wusste, dass bei ihr nichts besser gegen Kater half als Bewegung.

      Sie ging nach oben ins Schlafzimmer und wühlte in den Reisetaschen, die sie noch immer nicht ausgepackt hatte. Achtlos warf sie ein paar Sachen aufs Bett, bis sie fand, was sie suchte. Sie schlüpfte in ihre Trainingsklamotten.

      Von Lennart wusste sie, dass hinter dem Haus ein Waldpfad begann, der direkt zum See führte. Auf der Veranda zog sie ihre Laufschuhe an und blickte in den Himmel. Das deprimierend trübe Wetter ließ den Tag sogar dunkler erscheinen als die klaren Nächte, die Marie hier zu Beginn erlebt hatte. Sie schloss die Tür, drehte den Schlüssel um, verbarg ihn unter dem großen Stein und bog um die Hausecke.

      Ohne Lennarts Hinweis wäre ihr der Pfad vermutlich gar nicht aufgefallen. Vor ihr lag ein dichter Wald aus Kiefern und vereinzelten Fichten, zwischen den Stämmen hatte sich einiges an Unterholz angesammelt und der Boden war mit einem Gestrüpp aus Büschen bedeckt. Nur an einer Stelle fielen die Büsche unnatürlich gerade nach unten ab und eröffneten den schmalen Zugang zu einer Art Trampelpfad.


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