Lågomby. Felix Maier-Lenz
sie niemals vergessen. Nicht ihre totale Überraschung, als sie Marie im Haus gesehen und nicht ihr leeres Starren, als Marie sie wenige Tage später im Wald gefunden hatte. Beim Gedanken daran lief Marie noch einmal ein leichter Schauer über den Rücken. Sie spürte Bengts Blick auf sich und bereute sofort, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle hatte.
„Und was ist mit der Wunde am Kopf?“, bemühte Marie sich wieder zu den Fakten zurück zu kehren.
„Das untersuchen wir noch.“
„Ist sie gestürzt?“
„Wenn, dann nicht dort. Am Fundort waren keinerlei Hinweise darauf zu finden.“
„Also hat sie jemand dort hingelegt.“ Maries Augen weiteten sich. „Dann war es Mord?!“
Bengt räusperte sich. Es war ihm anzusehen, dass er seine letzten Sätze am liebsten zurückgenommen hätte. Er betrachtete Marie mit ehrlicher Besorgnis.
„Ich habe dich hierher gebeten, weil ich dir die Möglichkeit geben wollte, ganz offen über das zu sprechen, was du gesehen hast.“
Marie wusste nicht so recht, was sie dazu sagen sollte.
„So etwas ist nicht leicht, für niemanden“, fügte Bengt hinzu.
Marie sah ihn nur unverwandt an. Sie wollte jetzt kein Mitleid, sondern Erklärungen.
„Ich bin okay“, murmelte sie schließlich und ließ ihren Blick auf die Tischplatte zwischen ihnen sinken.
Bengt nickte, als wüsste er genau, was in ihr vorging.
„Oft spürt man die Nachwirkungen von so einem Ereignis erst viel später, das ist ganz normal.“
Er beobachtete Marie, doch die reagierte auch darauf nicht.
„Ich möchte dir nur sagen, dass du jederzeit zu uns kommen kannst. Wir haben hier Spezialisten. Die kennen sich bestens mit Traumata dieser Art aus.“
Marie probierte es mit einem Lächeln, ließ es aber gleich wieder bleiben, als sie merkte, wie gequält es sich anfühlte. Die Situation war ihr unangenehm. Warum interessierte sich Holmgren überhaupt für sie? Er sollte sich lieber um die unidentifizierte Leiche kümmern.
„Vielen Dank. Aber ich bin wirklich okay.“ Sie rückte an den Rand ihres Stuhls vor. „War das alles?“
Bengt lächelte. „Ja. Ja, das war schon alles.“
Marie stand auf. An der Tür hielt sie noch einmal inne.
„Kommissar Holmgren?“
„Bengt. Nenn mich Bengt. Das machen hier alle.“
Marie nickte. „Sagt ihr mir Bescheid, wenn ihr wisst, wer die Frau ist?“
Bengt verzog das Gesicht.
„Das geht leider nicht. Nicht, solange die Ermittlungen laufen.“
Marie lächelte schwach.
„Und wenn es mir helfen würde? Das Ganze zu verarbeiten, meine ich.“
Bengt sah sie erstaunt an. Dann lächelte er zurück.
„Ich kann nichts versprechen, Marie. Aber wir sehen uns die nächsten Tage bestimmt noch.“
Marie nickte und verließ das Büro.
Marie ließ das Auto auf dem Polizeiparkplatz stehen und schlenderte ein bisschen ziellos durch die Straßen. Lennart hatte ihr eindringlich versichert, dass er den Vormittag problemlos alleine übernehmen könne und sie sich bloß nicht beeilen solle.
Das Treffen mit dem Kommissar hatte sie aufgewühlt. Bis jetzt hatte sie sich an die Möglichkeit geklammert, dass die Frau durch einen unglücklichen Sturz im Wald ums Leben gekommen war. Nun war klar, dass die Polizei von Mord ausging.
Zudem ärgerte Marie sich darüber, dass Holmgren – Bengt – ihre Aussage gar nicht richtig ernst genommen hatte.
Aber was hatte sie auch erwartet? Selbst wenn es stimmte, dass die Frau am Haus die gleiche war wie die unbekannte Tote, half das bei der Suche nach ihrer Identität kein bisschen weiter.
Marie sah sich um. Hier am nordwestlichen Stadtrand hatte sich während des Bergbau-Booms nach dem zweiten Weltkrieg eine Wohnsiedlung für die Arbeiter gebildet. Sie fand einen kleinen Supermarkt und ging hinein – jetzt brauchte sie dringend etwas Süßes.
Tatsächlich ließ das skandinavische Süßigkeitensortiment sie für kurze Zeit ihren Unmut vergessen. Statt der üblichen Auswahl an Gummibärchen und Schokoriegeln erstreckte sich vor ihr eine ungewohnte Vielfalt an Lakritzmischungen, sauren Fruchtgummis, Zuckerstangen und Schokoladensorten, die sie noch nie gesehen hatte. Marie entschied sich für eine ungefährlich wirkende Tüte mit sauren Drops.
Auf dem Weg zur Kasse fielen ihr zwei Mädchen auf, die sich laut lachend unterhielten und sich im Vorbeigehen an einem mannshohen Kühlschrank bedienten, in dem kleine runde Plastikdosen in unterschiedlichsten Farben ausgestellt waren. Neugierig betrachtete Marie den Inhalt des Kühlschranks. Sie öffnete ihn und nahm eine Dose mit der Aufschrift Original heraus. Am Rand befand sich ein Aufdruck, der den Warnungen auf Zigarettenschachteln ähnelte. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass ihre Lehrerin etwas über diese „schwedische Unart“, wie sie es nannte, erzählt hatte. Snus war ein speziell präparierter Tabak, den man sich in kleinen Päckchen zwischen Oberlippe und Zahnfleisch schob.
Zuhause war Marie die klassische Party-Raucherin gewesen. Zumindest als sie noch auf Partys gegangen war. Mit einem verheirateten Mann ließ man sich schließlich nicht allzu oft in der Öffentlichkeit blicken. Die letzten Jahre hatte sie keine Zigarette mehr angerührt. Trotzdem ging sie nun mitsamt der kleinen Dose zur Kasse. Schließlich wollte sie sich nicht den Sitten des Landes verschließen.
Die Kassiererin scannte die Ware und bat um Maries Personalausweis. Marie sah sie überrascht an. Das war ihr schon ewig nicht mehr passiert. Sie kramte hektisch in ihrem Portemonnaie und fragte sich, ob sie sich nun geschmeichelt fühlen sollte oder nicht. Endlich fand sie ihren Ausweis, reichte ihn der Kassiererin und wartete gespannt ab, wie die reagieren würde. Die Frau starrte erstaunlich lange auf Maries Geburtsdatum. Dann reichte sie ihr wortlos den Ausweis zurück, kassierte das Geld und wandte sich gelangweilt ihren Nägeln zu.
Draußen öffnete Marie neugierig die Dose. Die Portionen waren wie Mini-Teebeutel abgepackt und strahlenförmig aufgereiht. Marie roch daran und hielt die Dose dann angeekelt von sich weg. Der Tabak gab einen feuchten und stechenden, fast Urin-artigen Geruch von sich. Etwas zögerlich nahm Marie einen Beutel und schob ihn sich unter die Oberlippe. Sie spielte mit der Zunge daran herum, um ihn an eine passende Stelle zu schieben, doch es fühlte sich weiterhin an wie eine unglücklich positionierte Zahnspange. Dass sich so überhaupt eine Wirkung entfalten würde, konnte sie sich kaum vorstellen.
Zurück am Auto hatte Marie einen Plan gefasst. Die Identität der toten Frau ließ ihr keine Ruhe. Immer wieder beschäftigte sie die Frage, wer sie war und was sie in der Nacht an ihrem Haus gesucht haben konnte. Könnte das vielleicht sogar etwas damit zu tun haben, dass sie jetzt tot war?
Sie wollte unbedingt mit Lennart darüber sprechen. Er war in Lågomby aufgewachsen und gut vernetzt. Entschlossen startete sie den Wagen und fuhr los.
Sie war erst auf halber Strecke, als ihr plötzlich schlecht wurde. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, während sich in ihrem Bauch alles drehte. Sie schaffte es gerade noch, rechts ranzufahren, lehnte sich über den Beifahrersitz und übergab sich durch die geöffnete Tür in den Straßengraben. Erschöpft blieb sie einen Augenblick quer über die beiden Sitze ausgestreckt liegen. Das war knapp gewesen. Dann fischte sie den ausgelutschten Beutel Tabak unter der Lippe hervor. Angewidert warf sie das Ding in den Graben. Sie raffte sich auf, schloss die Tür und fuhr langsam weiter.
Im