Lågomby. Felix Maier-Lenz

Lågomby - Felix Maier-Lenz


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von ihnen stellte sich in typisch nordschwedischem Gegrummel als Kommissar Bengt Holmgren vor. Der andere begann ohne große Umschweife den Tatort zu untersuchen.

      Während Lennart noch einmal alles zusammenfasste, was er dem Kommissar am Telefon bereits erzählt hatte, beobachtete Marie die Männer mit einer merkwürdigen Distanz. Bengt Holmgren war ein mittelgroßer, eher zurückhaltend wirkender Mann in Jeans und Sweatshirt. Das Auffälligste an ihm waren seine froschgrünen Gummistiefel, die am oberen Rand der Schriftzug Nokia zierte. Nebeneinander sahen er und Lennart wie ein Vorher-Nachher-Bild aus: Der Kommissar mit seinem leicht zerzausten Vollbart und der praktischen Alltagskleidung vor, Lennart mit akkurat geschnittenen Haaren und einem stylischem Outfit nach der Verwandlung zum Hipster.

      Wie Holmgren war auch dessen Kollege Rasmus, der offensichtlich für die kriminaltechnische Untersuchung des Tatorts zuständig war, bis auf die Gummihandschuhe vollkommen alltäglich in Jeans und Outdoorjacke gekleidet.

      ‚Das mit den weißen Overalls gibt es also auch nur im Fernsehen‘, ging es Marie durch den Kopf.

      Während Lennart sprach, sah Bengt immer wieder zu Marie hinüber. Dabei wurde sein Gesicht zunehmend besorgter. Marie richtete ihren Blick auf den Boden. Sie musste all ihre Konzentration aufbringen, um der Unterhaltung der beiden folgen zu können. Plötzlich horchte sie auf.

      Bengt nickte Richtung Leiche und sah Lennart fragend an. Der schüttelte nur den Kopf.

      Marie trat einen Schritt an den Kommissar heran. „Ich kenne die Frau.“

      Verwundert richteten sich drei Augenpaare auf sie.

      An diesem Abend empfand Marie das helle Licht, das auch zu später Stunde noch in ihr Wohnzimmer fiel, zum ersten Mal als beruhigend.

      Dennoch fiel es ihr schwer, die Ereignisse des Tages – mehr noch, die Ereignisse seit ihrer Ankunft in Lågomby – zu verdrängen. Die Augen der Toten hatten sich unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt. Aber auch der nächtliche Besuch der unbekannten Frau war ihr nun präsenter als jemals zuvor. Ohne es sich selbst richtig erklären zu können, fühlte Marie sich irgendwie mit der Fremden verbunden.

      Ob sie gestürzt war? Womöglich noch in der gleichen Nacht, in der sie zum Haus gekommen war? Dagegen sprach, dass Marie am nächsten Tag geglaubt hatte, sie noch einmal im Ort zu sehen. Da war sie allerdings sehr weit weg und Marie sich selbst nicht sicher gewesen.

      Trotzdem schien es nun offensichtlich, dass die Frau Hilfe gebraucht hätte – die Marie ihr verweigert, oder zumindest nicht angeboten hatte. Vielleicht hatte sie sich verlaufen. Vielleicht hatte sie sich verletzt. Vielleicht war sie deswegen gestürzt. Vielleicht hätte Marie ihr helfen können, wenn die Frau nicht gleich davongelaufen wäre?

      Wie lange hatte die Leiche wohl schon da gelegen, im Wald hinter ihrem Haus? Marie schauderte. Sie zog die Vorhänge zu und kontrollierte aus einer unbestimmten Angst heraus, ob die Tür abgeschlossen war.

      Auf dem Sofa richtete sie sich – ohne auf das Programm zu achten – darauf ein, vor dem laufenden Fernseher einzuschlafen. Als ihr das nicht gelang, ertappte sie sich dabei, wie sie auf ihrem Telefon Alex‘ Nummer aufrief. Doch sie unterdrückte diesen Impuls sofort wieder und stand stattdessen auf, um sich eine Flasche Wein zu öffnen.

       Mittwoch

      Schwungvoll rollte der kleine Corsa durch den Kreisverkehr. Marie drehte eine Extrarunde, um sich zu orientieren, dann nahm sie die Ausfahrt mit dem Richtungshinweis „Norwegen“.

      Die Polizeistation von Lågomby lag etwas außerhalb des Zentrums, am nordwestlichen Ende der Storgata, kurz bevor diese wieder in die Landstraße Richtung norwegischer Grenze mündete. Schon nach wenigen hundert Metern erspähte sie ein graues 50er-Jahre-Gebäude mit der Aufschrift Polis. Sie bog auf den Parkplatz ein, lenkte ungebremst auf einen der freien Plätze und hielt dort ruckartig.

      Sie war am Morgen nur kurz ins Büro gefahren, um Lennart Bescheid zu sagen, und dann direkt weitergefahren, weil Kommissar Holmgren sie zu einem Gespräch gebeten hatte. Lennart hatte das Büro schließen und sie begleiten wollen. Doch Marie hatte darauf bestanden, alleine zu gehen. Warum, wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass sie sich in ihrem neuen Leben möglichst selbstständig bewegen wollte. Es fühlte sich wichtig an, nicht auf ständige Assistenz angewiesen zu sein, egal ob diese professioneller, sprachlicher oder emotionaler Natur war. Sie wollte ernstgenommen werden und sich auf keinen Fall als die arme Deutsche, die traumatisiert aus der Begegnung mit der Moorleiche hervorging, einen Namen machen. Auch wenn da vielleicht sogar etwas dran war.

      Marie stellte den Motor ab und blieb noch einen Moment hinterm Steuer sitzen. Dann stieg sie aus und ging langsam auf das unscheinbare Gebäude zu. Vom Regen des Vortages waren nur noch einige Pfützen am Bordsteinrand übrig. Der Himmel war bereits wieder blau und die Luft roch frisch. Schon als sie die wenigen Stufen zum Gebäude hinauf ging, ertönte der Türsummer. Sie sah sich unbehaglich um und blickte in eine Kamera, die direkt über dem Eingang platziert war. Dann drückte sie die schwere Tür auf. Sie betrat einen Vorraum, der von einem müde dreinblickenden Pförtner bewacht wurde. Noch bevor Marie sich mit einem sorgfältig eingeübten Satz vorstellen konnte, ertönte ein fröhliches „Hier!“ aus dem dahinter liegenden Gang. Der Pförtner nickte knapp und Marie ging weiter.

      In einem Türrahmen wenige Meter entfernt wurde sie von einer jungen Frau mit kurzem, schwarz gefärbtem Bob und rot-weiß gepunktetem Rockabilly-Haarband erwartet. Mit unverhohlener Neugier sah sie Marie an und stellte sich als Holmgrens Assistentin Liza vor. Ohne Nachfrage schenkte sie Marie in einer kleinen Kaffeeküche eine Tasse ein, schob sie damit über den Flur und ein paar Türen weiter in ein Zimmer, direkt vor den Schreibtisch des Kommissars. Bengt sah auf.

      „Ah, Marie. Bitte, setz dich doch. Wie geht‘s dir heute?“, begrüßte er sie in seinem leicht schleppenden Dialekt. Marie nickte nur und nahm Platz.

      „Du bist noch nicht lange in Schweden, nicht wahr?“

      Bengt strahlte sie an, als hätte er in ihr eine alte Freundin wiedergetroffen. Genau wie Lennart überraschte der Kommissar sie mit seiner offenen Art. Ihre Schwedisch-Lehrerin zuhause hatte ihre Landsleute immer als introvertiert und zurückhaltend beschrieben. Offensichtlich hatte es sie noch nie nach Lågomby verschlagen.

      Marie schüttelte den Kopf. „Ich bin am Sonntag angekommen.“

      „Und – wie gefällt es dir?“

      Marie schaute ihn irritiert an. War das sein Ernst? Und was sollte diese Plauscherei überhaupt? Sie zuckte vage mit den Schultern.

      Bengt wurde ernst. „Das ist keine schöne Sache. So etwas ist hier noch nie passiert. Also fast nie. Nicht, dass du glaubst, hier liegen überall Leichen im Wald rum.“

      Er lachte verlegen.

      „Weiß man denn schon, wer die Frau ist?“

      Bengt seufzte. „Nein. Bislang hat sie niemand erkannt. Wir checken im Augenblick die Vermisstenanzeigen aus ganz Schweden.“

      „Aber ich hab sie doch gesehen. Samstagnacht. Gleich nach meiner Ankunft. Und am nächsten Morgen im Ort noch einmal, glaub ich.“

      Bengt hob die Augenbrauen und sah sie eindringlich an.

      „Du bist die Einzige, die glaubt, sie gesehen zu haben. Und du bist dir nicht sicher.“

      Er seufzte noch einmal, schwerer als zuvor. Marie lehnte sich vor und sah dem Kommissar fest in die Augen.

      „Doch. Ich bin mir sicher. Es war dunkel, aber ich hab sie trotzdem erkannt.“

      Bengt spitzte die Lippen und zog scharf die Luft ein.

      Maries Gedanken schweiften ab: War diese nordische Eigenart immer zustimmend, oder konnte sie auch skeptisch gemeint sein? So oder so wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Kommissar ihre Aussage nicht ganz


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