Der Mantel der Vergangenheit. Doris Bender-Diebels

Der Mantel der Vergangenheit - Doris Bender-Diebels


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fürchterliche Gestalt da oben ist«, beharrte Rosa und entwand sich der Umarmung. Ihre sonst meist lachenden blauen Augen blitzten die Mutter wütend an. Hanne Martens kannte ihre Tochter und wusste, dass Rosa keine Ruhe geben würde, wenn sie nicht sofort mit ihr auf die Suche nach dieser Gestalt ging.

      »Na gut, ich ziehe mir erst mal was an, und dann können wir gemeinsam gucken.«

      Rosa beruhigte sich. Gleich würde Mutti schon sehen, dass sie sich nichts eingebildet hatte. Schnell griff sie sich Eimer und Putzlappen und wischte den Urin vom Boden auf. Mit einer Taschenlampe bewaffnet stiegen sie und ihre Mutter kurz darauf die Stufen zum Speicher hoch.

      »Siehst du, hier ist doch niemand«, sagte Hanne mit beruhigender Stimme, während sie in den hinteren Raum leuchtete, den Mauerreste vom Klo trennten. Eine Taube schreckte auf und flatterte durch das offen stehende Dachfenster davon. Sonst befand sich da wirklich keine Seele. Rosa verstand die Welt nicht mehr. Diese Gestalt musste noch hier sein. Ich bin doch nicht verrückt, wie die alte Frau Prack, dachte sie, die, wie Mutti ihr erzählte, immer noch ihren Sohn vor sich sah und mit diesem sprach, obwohl er schon seit vielen Jahren tot war. Den silbrigen Knopf in ihrer Tasche vergaß Rosa in der Aufregung völlig.

      »Komm, jetzt machen wir erst mal Frühstück, sogar mit einem Ei«, versuchte Hanne ihre Tochter von dem Schrecken abzulenken. Eier gab es sonst nur an Sonntagen. Dazu ließ sich Rosa gern überreden. Auch Iris zeigte sich jetzt am Tisch, vom Kaffeegeruch angezogen.

      Nach dem Frühstück machte Rosa sich auf den Weg zur Schule, immer noch aufgewühlt von dem Erlebnis auf dem Speicher. Sie war sich sicher, die Gestalt gesehen zu haben, und ihre Gedanken liefen in abenteuerliche Richtungen. Auf der Straße wartete Brunhilde. Wie an jedem Tag. »Komm, gib mir die Hand«, forderte Brunhilde die Freundin auf. Sie war größer und etwas kräftiger als Rosa und meinte, sie daher beschützen zu müssen. Rosa hasste es, von ihr an die Hand genommen zu werden.

      »Lass das«, blaffte sie, »wenn du das nicht lässt, dann kannst du bis zum Ende der Schulzeit alleine gehen, du blöde Kuh. Ich will nicht an die Hand genommen werden, merke dir das.« Rosa schäumte vor Wut. »Du bist nicht meine Mutter, ich habe schon eine!«

      Brunhilde schnaubte und lief schneller voraus.

      Das muss ich Esther erzählen. Die wird mir glauben. Und bestimmt werden wir zusammen herausfinden, was oder wen ich gesehen habe, dachte Rosa. Ihre Neugier gewann langsam wieder die Oberhand.

      2

      Düsseldorf-Hamm, 20. März 1943

      Wie so oft in diesem Jahr fand Harry Molter auch in der vergangenen Nacht kaum Schlaf. Mittlerweile musste er zu jeder Tages- und Nachtzeit darauf gefasst sein, vom durchdringenden Sirenenton der Bomberwarnung aufgeweckt zu werden. Und dann war Eile nötig. Nach dem Schließen der Bunkertür blieb keine andere Wahl, als sich eine andere Schutzmöglichkeit zu suchen. Die Tür durfte bis zur Entwarnung nicht mehr geöffnet werden. Und das hatte seinen Grund. Denn wenn just in diesem Moment eine Granate in das Bunkerinnere gelangte, bedeutete das den Tod aller darin Schutz suchenden Menschen. Die Vorstellung, mit seiner Familie vor der verschlossenen Bunkertür zu stehen, entfachte in ihm immer wieder Angst und ließ ihn nachts nicht mehr in einen tiefen und erholsamen Schlaf sinken. Eine untergründige Beklemmung nagte in ihm, wie in vielen Zeitgenossen, seit sie spürten, dass Deutschland angreifbar war.

      Kappes-Hamm, wie der Stadtteil wegen des großflächigen Anbaus von Kohl auch genannt wurde, hatte seinen Dorfcharakter bewahren können. Enge Gassen zwischen Backsteinhäusern, Feldwegen und Straßen verbanden den Zugang zum Rhein durch das Deichtor und setzten sich über den Deich fort bis in die Rheinwiesen. Nicht weit entfernt befuhren Züge die Hammer Eisenbahnbrücke auf die linke Rheinseite nach Neuss. Pioniere der Wehrmacht bewachten zwar das Rheinufer, waren aber im Vergleich mit den amerikanischen Streitkräften auf der anderen, der Neusser Rheinseite für eine Abwehr nicht gut gerüstet.

      Hier war Harry aufgewachsen und mit seinen achtunddreißig Jahren einer der jüngeren Bauern, die selbständig einen Hof führten. Er liebte seine Arbeit auf dem Feld und mit den Tieren. Steckrüben, Kohl und Kartoffeln – den Molters gehörten seit vier Generationen viele Hektar Ackerland. Den Spargelanbau mussten sie mit Beginn des Krieges leider aufgeben. Ein paar Schweine fanden im Innenhof ihren Platz in einem Stall.

      »Jung, denk immer daran, auf dich kommt es an, dass die Menschen auch im Krieg was zum Beißen haben. Gerade jetzt sind sie auf unsere Arbeit und die Ernte angewiesen«, erinnerte ihn sein Vater erst noch vor drei Wochen beim gemeinsamen Abendessen an seine Pflicht als Landwirt.

      Und dann lag er vier Tage später tot im Stall. Ein Schlaganfall sei es gewesen, behaupteten die Ärzte. Seitdem ruhte die Verantwortung allein auf Harrys Schultern. Von seinen beiden jüngeren Brüdern kamen schon lange keine Feldpostbriefe mehr. Sie waren – der eine auf dem Vormarsch in Frankreich, der andere in der Nähe von Prag – gefallen.

      Groll und Müdigkeit kosteten viel Energie und entfachten seine Selbstzweifel, die oftmals in Selbstgesprächen endeten. Er bemühte sich, die Angst vor der Familie zu verbergen.

      »Wie soll ich das alleine schaffen, wenn ich die Arbeit immer wieder unterbrechen muss wegen der Brandbomben, die auf unsere Felder und Häuser fallen? Wenn Zwangsarbeiter als Ersatz für kräftige Landarbeiter, die zum Wehrdienst eingezogen worden waren, schwere Arbeiten auf den Feldern verrichten müssen? Wenn deren Körper jedoch wegen Unterernährung so ausgemergelt sind, dass sie die Arbeit kaum bewältigten?«

      Seine Gedanken kamen ins Jetzt zurück. Heute war ihr Hochzeitstag, aber schöne Empfindungen wollten dennoch nicht kommen. »Der Krieg zerstört alles, was normales Leben sonst bedeutet: Seine Freude mit Menschen teilen, die man liebt, Freunde und Nachbarn haben, mit denen man feiert, denen man seine Pläne anvertrauen kann, Frieden …«

      »Harry wo bist du?«, Reginas Ruf unterbrach die Grübelei.

      »Ich komme schon.«

      Harry ging zum Haus, wo seine Frau vor der Tür auf ihn wartete. In der Hand trug sie den ›Schweineeimer‹ mit den wenigen Speiseabfällen, die in diesen Kriegszeiten für die Tiere noch abfielen und zu den Rübenschnitzen in die Tröge verteilt werden mussten.

      »Kommst du mit in den Stall, Harry? Wir müssen füttern.«

      Harry atmete tief durch. Seine Sorgen und Gedanken durften ihm den elften Hochzeitstag nicht verderben. Gerade heute sollten sie sich nicht in seinen Kopf eingraben.

      »Ich folge dir doch überall hin, meine Liebste und Schönste«, flüsterte er Regina mit seinem besten Lächeln zu. »Seit elf Jahren lauf ich dir hinterher.«

      »Nicht erst seit elf Jahren, mein Lieber, schon vor zwölf Jahren wolltest du was von mir. Erinnerst du dich nicht mehr?«

      »Wie könnte ich das vergessen?« Harry musste grinsen. Er dachte daran zurück. Der Hund von Reginas Familie flitzte auf ihn zu, als er über den Gartenzaun ihres kleinen Häuschens am Rand des Dorfes kletterte. Er erwischte ihn am Hosenbein und riss den Stoff an der Naht in voller Länge auf. Harry stand mit nacktem Bein auf Freiers Füßen.

      »War das peinlich. Und du standest am Fenster und konntest dich nicht mehr einkriegen vor Lachen.«

      Mehr als der Stoff kam nicht zu Schaden. Die anschließende Nacht wurde jedoch für beide »der Himmel auf Erden«. Regina gab ihm am nächsten Morgen eine Hose ihres Vaters, damit er nicht halbnackt durch das Dorf nach Hause laufen musste.

      Mit einem Kuss beendeten sie die gemeinsame Erinnerung an ihre ›himmlische‹ Vergangenheit. Regina Molter seufzte. Sich in dieser Zeit einen Himmel auf Erden zu wünschen, schien überheblich oder vermessen im Angesicht der Kriegsschicksale zahlreicher Menschen … der Soldaten, Familien, der Ausgebombten.

      Sie hakten sich unter und gingen zum Stall.

      »Gut, dass du mich zum Lachen gebracht hast, Schatz. Wir haben es doch immer noch besser als viele andere Familien. Unsere Mädchen sind gesund. Und sie lieben das Leben, trotz Bombenhagel und Bunker.« Sie löste sich von ihm und setzte den Schweineeimer ab.

      Erneut streckte


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