Der Mantel der Vergangenheit. Doris Bender-Diebels
Seine Augen tauchten lange in ihre. Das Glück zu fühlen und es im Blick des Anderen zu sehen, rieselte durch ihre Körper wie ein warmer Regen im Sommer.
Für diese eine Minute vergaßen sie ihre Sorgen, als gäbe es nur sie beide auf einer Insel des Friedens.
»Was meinst du, sollen wir heute Abend mal einen Spaziergang am Rhein machen? Wenn es keinen Bombenalarm gibt, könnten wir bis Himmelgeist laufen. Das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht.«
Harrys Hand fuhr zärtlich durch ihre roten Locken. Er setzte noch einen Kuss auf ihre Stupsnase, die sie so keck aussehen ließ.
»Wir können uns höchstens mit den Kindern hinter den Deich ins Gras setzen und Brote mitnehmen als kleines Picknick, mein Schatz«, antwortete Regina. »Falls es wieder Alarm gibt, sollten wir doch in der Nähe des Bunkers bleiben.«
»Du hast Recht, man vergisst das nur zu gerne«, gab Harry zu.
Die Zeit, die sie dort verbringen mussten, wurde inzwischen immer länger. Und der Alarm kam häufig. Die Kinder fanden es besonders schlimm. Auch wenn sie zu Kleidung, Handtuch und Seife außerdem Bücher mitnehmen durften, konnten diese nicht den Lärm, den Schweißgestank und das Geschrei im Schutzraum vergessen machen, während draußen Bomben und Luftminen explodierten. Und die Enge kam als Problem hinzu. Zu Hause wachten sie oft nachts auf und weinten, weil die Aufenthalte im Bunker sie selbst in ihren Träumen verfolgte.
Das Ehepaar füllte die Tröge. Das Grunzen und Schmatzen der Tiere, die sich nun auf die gekochten Rübenschnitze und Kartoffelschalen stürzten, war die vertraute Hintergrundmusik ihrer Arbeit. Regina sah den Schweinen beim Fressen zu. Sie liebte diese Tiere ganz besonders. In drei Wochen würden Ferkel auf die Welt kommen. Die brächten wieder Leben in den Stall. Auch Agnes und Martina konnten mit ihren zehn Jahren schon mehrmals bei Geburten helfen oder zusehen, und sie liebten die neugeborenen Ferkel. »Laufende Fleischklößchen mit Steckernase«, nannten sie die Kleinen mit unschuldiger Grausamkeit.
Als Kind hätte sich Regina nie vorstellen können, auf einem Bauernhof zu leben. Sie hatte Köchin gelernt und bis zur Hochzeit in einem bekannten Hotel in Düsseldorf gearbeitet. 1933 wurde sie Mutter von Zwillingen. Ihren Beruf durfte sie danach nicht mehr ausüben. Neben der Versorgung der Kinder ging sie der Schwiegermutter zur Hand und übernahm Stall- und Gartenarbeiten. So war es üblich für Frauen in einer Bauernfamilie.
Wehmut mischte sich in die frohe Stimmung, die sie eben noch bei den Gedanken an den bevorstehenden Neuzugang im Schweinestall gefühlt hatte. Mittlerweile waren die Tröge geleert, und die Schweine liefen nach draußen in den eingezäunten Hof, wo sie Stroh und Gras fanden.
»Komm, lass uns gehen, die Kinder haben bestimmt schon das Frühstück vorbereitet«, bat Regina ihren Mann, der ihr folgte.
»Jetzt freue ich mich auf ein gutes Frühstück mit Marmelade«, meinte der, »wobei – ein Schinkenbrot wäre mir lieber.«
»Das glaube ich dir gerne. Und zum Mittag ein saftiges Kotelett, nicht wahr?«, lachte Regina. Beim Gedanken daran lief auch Regina das Wasser im Mund zusammen.
»Die Zeit dafür wird wieder kommen, Schatz«, tröstete sie ihren Mann.
Sie verließen den Stall. Gerade fuhr ein Auto in den Hof. Die beiden schauten sich an. Der Ortsbauernführer des Bezirks stieg aus dem kleinen Volkswagen. Sie waren mal dicke Freunde gewesen, Harry und er. In Hamm aufgewachsen, gingen sie einst zusammen zur Schule. Doch dann wurde Günther ein eiferndes Mitglied der NSDAP. Anfangs verhielt er sich, wie Harry es nannte, noch zivilisiert. Zu dieser Zeit trafen sie sich gelegentlich im ›Hammer Krug‹ auf ein Bier. Solange sie nur über alte Erinnerungen und die unmittelbare Landarbeit sprachen, blieb die Stimmung freundlich. Seit Günther allerdings in der Partei Karriere machte, schnellte der rechte Arm immer schneller hoch, selbst dann, wenn es nicht verlangt wurde. Nachdem er aber am neunten November 1938 bei den Plünderungen und Schmierereien jüdischer Geschäfte die Schläger der SA anfeuerte, war für Harry die Freundschaft beendet. Das verzieh er Günther nie. Damals erkannte er mit Schrecken die menschenverachtenden Ziele dieser Partei. Vorher kümmerten ihn allgemeine Politikfragen nicht besonders. Er wählte vor der Machtübernahme die Zentrumspartei. Mit deren Politik für die Landwirtschaft war er zufrieden gewesen. Nach dem Pogrom gegen jüdische Bürger wollte Harry mit Günther kein privates Wort mehr sprechen und ging ihm aus dem Weg.
Harry ahnte nichts Gutes, als Günther nun auf ihn zukam.
»Geh schon mal zu den Kindern, ich komme gleich nach, das wird ja bestimmt nicht lange dauern«, bat er Regina. Sie nickte, schaute sich aber noch einmal um und runzelte nachdenklich die Stirn, bevor sie das Haus betrat.
Was will Günther denn hier, überlegte Harry. Irgendetwas musste passiert sein. Freiwillig käme Günther nicht auf seinen Hof. Zwei Jahre zuvor kam ein Gestapobeamter mit Hilfspolizisten auf den Hof und beschuldigte Harry, er habe Waffen in einem der Felder vergraben. Sie gruben das Kartoffelfeld um in der Hoffnung, etwas zu finden, weswegen sie ihn hätten bestrafen können. Sie fanden nichts und zogen am nächsten Tag maulend ab. Wer ihn denunzierte, konnte Harry nie in Erfahrung bringen. Das Kartoffelfeld bot ein schreckliches Bild, wie von hundert Wildschweinen durchwühlt.
Dieses Ereignis ging ihm durch den Kopf, als Günther Schmitz näher kam. In seinem Bauch grummelte es.
»Hallo Harry« Günther streckte ihm die Hand entgegen und verzichtete auf den deutschen Gruß.
»Hallo« erwiderte Harry, ohne die Hand des anderen zu nehmen. »Was willst du?«
Günther presste die Lippen aufeinander und atmete tief durch die Nase ein. »Hör mal«, sagte er dann leise und drehte den Kopf seitlich, fast vertraulich. »Jemand hat dich bei mir und der Gestapo angezeigt. Wegen Volksschädigung. Die werden heute noch mit zwei Polizisten und einem Polizeihund kommen, du kennst ja den alten Bollo. Die werden den Hof durchsuchen. Der Bollo ist schon sehr alt, der bedeutet sicher keine Gefahr.«
Er schaute Harry an, wartete auf dessen Reaktion. Als diese unterblieb, redete er weiter: »Ich bekam schon gestern die Nachricht, konnte dich aber nicht sofort informieren. Ist was dazwischen gekommen, was auch sehr dringend erledigt werden musste. Du weißt doch, wie die Gauleiter so sind. Wenn die sich was ausgedacht haben, dann muss es manchmal ganz schnell gehen mit der Umsetzung. Und unser Gauleiter Florian ist besonders ungeduldig.«
»Mach doch keine große Einleitung, komm schon zur Sache«, fauchte Harry.
»Ich bin als Ortsbauernführer beauftragt worden, der Sache nachzugehen«, fuhr Günther fort. »Ich mach das wirklich nicht gerne. Wenn da was dran ist, solltest du mir das jetzt sagen, Harry. Vielleicht kann ich dann was für dich tun. Denn wenn das stimmt, was gegen dich vorgebracht wird, dann sieht es wirklich nicht gut aus, das kann ich dir sagen.« Günther hielt inne.
Harry sah ihn an. Er gab sich nach außen ganz gefasst, aber ihm wurde fast schwindlig vor Aufregung und Angst.
»Jetzt sag doch endlich, was los ist. Ich habe noch einiges zu tun, muss noch den Stall ausmisten und aufs Feld. Falls du dich noch daran erinnern kannst, welche Arbeit auf einem Hof ansteht«, stichelte Harry. Er versuchte, seine Nervosität zu verbergen. Sein Herz klopfte, als er an jene Sau dachte, die er vorgestern Nacht geschlachtet hatte.
»Und musst du noch die Schweine füttern?« Günthers Augen lauerten. Er war gekränkt, seine Warnung und Hilfsbereitschaft liefen ins Leere. Er wollte sie als ein Angebot aus alter Freundschaft verstanden wissen. Harry konnte mit dem, was gegen ihn vorlag, seine Existenz und die Freiheit von Regina und den Kindern aufs Höchste gefährden. Entweder ist er naiv, dachte Günther, oder er will sich nicht helfen lassen. Wie auch immer, das ist seine Entscheidung. Dann kann ich auch nichts für ihn tun.
»Aber du kamst ja gerade aus dem Stall, nicht wahr?«, fuhr er fort, »wie ist das denn, wenn man abends noch sechs Schweine hat und morgens plötzlich nur noch fünf? Gefiel es einer Sau nicht mehr bei euch? Vielleicht ist sie auf der Suche nach einem Eber abgehauen und hat sich in Luft aufgelöst?«
Günther redete sich in Rage. Dass Harry ihm den Handschlag verwehrte und seine Warnung in den Wind schlug, nagte an ihm. Und er ärgerte sich darüber,