Der Mantel der Vergangenheit. Doris Bender-Diebels

Der Mantel der Vergangenheit - Doris Bender-Diebels


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Man wusste in der Leitstelle durchaus von ihrer ehemaligen Freundschaft. Er wollte damit nichts zu tun haben.

      Seine Frau Marianne, ihrerseits mit Regina befreundet, verstand nicht, warum er sich nicht für Harry einsetzte. »Du musst was für ihn tun, wenn das stimmt, was man Harry vorwirft. Schwarzschlachten machen die meisten Bauern. Du hast genügend kameradschaftliche Parteigenossen, auch bei der Gestapo, die ihm helfen könnten.«

      Aber wenn Harry nicht mitspielte, nutzte all das nichts.

      Harry wurde bleich. Wer konnte von der Schlachtung vor zwei Nächten wissen? Regina und er hatten alle Fenster verdunkelt, der Sau gaben sie Bier mit Schlafmittel, damit sie einschlief und nicht quieken konnte, als er mit dem großen Hammer kam. Die Gefahr spürten die Tiere sofort. Mit Reginas Hilfe nahm er den Hals des Tieres zwischen die Schenkel, und drosch mit kräftigen Schlägen auf die Stirnplatte. Dann ließen sie das Blut aus der durchschnittenen Halsschlagader ab. Nach dem Töten mussten sie das Tier einen Tag an einer Leiter in der angrenzenden alten Scheune in einen Topf ausbluten lassen. Gestern Nacht zerteilten sie es und packten die Teile in vier saubere Kartoffelsäcke. Zur Vorsicht vor Kontrollen versteckten sie die Säcke bis zur heute geplanten Verarbeitung unter den Misthaufen im Garten.

      »Nun, über was denkst du nach, Harry«?

      »Ich frage mich, wer darauf kommt, dass ein Schwein fehlt. Zurzeit sind wir doch in Deutschland gesegnet mit Schweinen.« Sein Sarkasmus wirkte bei Günther nicht.

      »Aber mal ehrlich. Wer behauptet denn, dass ich geschlachtet habe. Schau mal in deine Unterlagen, wann sind die letzten Ferkel gemeldet worden? Und wie war der Bestand der Sauen an dem Tag? Ich erinnere mich nämlich genau daran, das war vor zwei Jahren. Da besaß ich fünf Sauen, davon lag für zwei Sauen die amtliche Erlaubnis zum Schlachten vor, blieben also noch drei im Stall, wovon eine leider nur zwei lebende Ferkel bekam. Die ich auch ordnungsgemäß gemeldet habe. Und das sind heute wieder fünf Schweine nach Adam Riese.«

      Günther blätterte in der Akte. Was Harry sagte, entsprach den Eintragungen. Aber wieso zum Teufel behauptete Parteigenosse Helmut Schneider, der Postbote, Harry habe sechs Schweine? Er hätte sie gesehen, als er neulich Briefe zum Hof brachte. Es gab keinen Grund, Helmut zu misstrauen. Bisher stimmten dessen Informationen immer.

      Trotzdem wurde Günther unsicher. Vielleicht täuschte sich Schneider ja doch? Er wusste selbst, dass viele Bauern Schweine ohne Genehmigung schlachteten.

      Denunzianten waren aber meist nicht die anderen Bauern, sondern neidische Mitbürger. Helmut trug erst seit kurzem die Post hier in Hamm aus. Vertretungsweise für einen erkrankten Kollegen.

      »Vielleicht warf deine Sau damals ja nicht nur zwei, sondern drei Ferkel. Hat das niemand kontrolliert?«

      »Stimmt, hat niemand kontrolliert. Wem glaubst du mehr, deinem Spion oder mir?«

      Günther überlegte, was am besten wäre: Den Hof durchsuchen lassen und nichts finden? Dann wäre er in Hamm bei vielen Bauern unten durch. Denn Harry war bei den meisten Hammer Bürgern beliebt und angesehen, auch ohne Parteibuch. Konnte er die Sache unter den Tisch kehren? Das würde er am liebsten tun. Aber das könnte für ihn selbst zum Problem werden. Die Anschuldigung des Postboten gab es schriftlich. Er bestand darauf, seinen Angaben nachzugehen. Und wenn seine Aussage stimmte, dann war Harry nach dem Kriegswirtschaftsgesetz strafbar geworden, weil er dem Volk Fleisch entzog. Er würde sich vor Gericht verantworten müssen. »Harry«, er wandte sich ihm zu, »die kommen gleich mit Bollo. Ich kann nichts tun. Du hast es nicht anders gewollt.«

      Grußlos ging Günther zurück zum Auto, stieg ein und fuhr langsam los. Bollo ist alt, und wenn Harry wirklich geschlachtet hat, dann wird er das tote Schwein ja vom Hof geschafft haben. Für blöd halte ich ihn nicht, sagte er sich. Ein unsicheres Gefühl blieb.

      Das Auto mit einem Beamten der Gestapo und zwei Hilfspolizisten fuhr auf den Hof, vorbei an Günthers Auto, das ihnen dabei entgegen kam.

      Harry blieb zurück. In seinem Kopf rauschte es, und ein schmerzhafter Druck verstärkte sich hinter seinem rechten Auge.

      Als der Gestapobeamte und die Polizisten aus dem Wagen stiegen und nicht Bollo, sondern der neue junge Polizeihund Hasso heraus sprang, brach ihm der Schweiß aus. Dessen Nase entging sicher nichts.

      Mittlerweile war auch Regina wieder nach draußen gekommen und zu Harry gegangen. »Was ist denn hier los? Mein Gott, du bist ja ganz weiß im Gesicht und deine Hände zittern.«

      Sie ahnte die Gefahr und ließ die Polizisten nicht aus den Augen. Ihr Herz hämmerte. Harry zog seine Frau zur Seite.

      »Die suchen das tote Schwein. Es kann sein, dass sie mich verhaften. Die werden mich ins Polizeipräsidium bringen, und wenn es sehr schlecht läuft, muss ich ins Gefängnis. Wenn ich gefragt werde, habe ich ohne deine Zustimmung und Hilfe geschlachtet, merke dir das. Dann können sie dich nur als Zeugin befragen.«

      Die Polizisten hielten dem Hund einen mit Schweineblut getränkten Lappen unter die Nase und schickten ihn auf die Suche. Hasso lief los, die Nase nur kurz über der Erde. Die Leine zwischen ihm und dem führenden Polizisten spannte sich, so schnell verfolgte der Hund eine Spur, die ihn in Richtung Schweinestall laufen ließ, dann drehte das Tier abrupt ab und näherte sich zügig dem Misthaufen. Er bohrte die Nase tief in den Mist, verharrte dort, hob den Kopf und bellte. Das war‘s. Einer der beiden Polizisten nahm eine Mistgabel, der andere die Schaufel. Nach wenigen Minuten kamen die Säcke zum Vorschein, die sofort geöffnet wurden.

      »War das dein Schwein?« Der Polizist zeigte auf den Fund.

      »Ja«, bestätigte Harry leise.

      »Dann verabschiede dich von deiner Frau, Molter, wir nehmen dich mit ins Präsidium.«

      »Packen Sie ein paar Sachen für Ihren Mann ein zum Wechseln. Wie lange das Verhör dauern und wann er verurteilt wird, weiß man nicht«, forderte einer der Polizisten mit harter Stimme Regina auf, die fassungslos dastand.

      Sie rannte ins Haus, wobei ihr die Tränen über die Wangen rannen. Agnes und Martina, die gerade am Frühstückstisch Platz nehmen wollten, rissen die Augen auf.

      »Mama, was ist denn mit dir, du weinst ja. Was ist los?«

      »Ich kann euch das nicht so schnell erklären, Kinder. Ich muss für den Papa ganz schnell Sachen einpacken. Die Polizei ist da. Bleibt bitte hier, wir gehen gleich raus.« Sie lief zum Schrank, warf schluchzend einige Kleidungsstücke in eine Tasche und betrat zusammen mit den Kindern erneut den Hof. Dort warteten die Polizisten mit Harry vor dem Polizeiauto.

      Harry nahm seine weinende Frau in den Arm. »Ich komme bestimmt bald zurück. Sei vorsichtig. Wenn du Hilfe brauchst, dann wende dich an Günther. Er ist der einzige, der was für euch tun kann, wenn sie mich ins Gefängnis sperren und du belästigt wirst. Ich liebe dich.«

      »Ich will mitfahren zum Präsidium. Sie können dich doch nicht einfach wegbringen«, schrie Regina unter Tränen. Die Polizisten zogen sie von Harry fort. In diesem Moment liefen die beiden Mädchen auf Harry zu. Die Polizisten griffen seinen Arm und drängten ihn zum Auto. Harry wehrte sich, blieb stehen. Er wollte nicht ohne Abschied von seinen Kindern ins Auto steigen.

      Diese klammerten sich an ihn, tränenüberströmt, schluchzend.

      »Papi, Papi, bleib hier, warum nehmen die dich mit? Papi!«.

      Harry versuchte, sie zu beruhigen. »Ich komme wieder, ganz bestimmt!«

      Die Polizisten ließen ihn los.

      Er durfte die Mädchen umarmen und ihnen einen Kuss geben, dann drückten sie ihm den Kopf herunter und schoben ihn ins Auto.

      »Ich komme zurück!«, rief er ihnen durch die noch offene Tür zu.

      Regina stellte sich zu den weinenden Kindern und nahm sie in die Arme. Das Auto fuhr los. Auf der Rückbank sitzend konnte er durch das kleine Rückfenster seine Familie sehen, Regina und die Mädchen, die am Hoftor standen und deren Gestalten immer kleiner und kleiner wurden bis er sie nicht mehr sehen konnte.

      3

      Düsseldorf,


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