Der Mantel der Vergangenheit. Doris Bender-Diebels
Geräusch näher kommender Schritte aus dem vorderen Keller ließ sie innehalten.
Rosa und Esther drehten sich um. Eine Person blieb im Durchgang zum hinteren Kellerraum stehen, schaute sie an. Rosa leuchtete mit der Taschenlampe in seine Richtung und erkannte den alten Mann, den ›Gelben‹. Als er die Kinder erblickte, wandte er sich kurz um und ging dann zurück durch den ersten Keller in Richtung Treppenaufgang. Esther lief hinterher und prallte gegen ihn, als der Mann plötzlich stehenblieb. Nun ging alles ganz schnell: Der Gelbe versetzte Esther einen leichten Schubs, sie fiel hin. Er rannte weg, die Treppen hoch und hinaus auf den Hof. Dort stolperte er und wäre fast gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen und lief weiter über die Steine zur Brache. Esthers Herz pochte. Sie rappelte sich auf und folgte ihm in den Hof, als sie plötzlich ein rotes Büchlein auf dem Boden liegen sah. Ihre Wangen glühten.
»Guck mal, der hat was verloren.« Esther hob es auf. Das kleine Buch mit rotem Buchdeckel musste dem Mann beim Stolpern aus der Manteltasche gerutscht sein.
»Mach mal auf!« Rosa, die ihr gefolgt war, hüpfte von einem Bein aufs andere, gespannt wie noch nie.
Esther öffnete das Buch. Es bestand nur aus fünf Seiten, alle weiteren hatte jemand herausgerissen. Der Einband trug einen Adler auf der Vorderseite. Sie blätterten die zweite Seite auf.
»NATIONALISTISCHE ARBEITERPARTEI DEUTSCHLAND«, las Esther vor.
»Mitglied: Richard Augsburger, Wohnhaft: Neckarstraße 11, Düsseldorf«, las sie weiter. Ihr verschlug es fast die Sprache.
»Boah … guck mal, das ist ja die Adresse von hier, vom Trümmerhaus.«
Sie blickten sich erstaunt an.
»Komm schnell, das müssen wir den anderen zeigen«, rief Rosa aufgeregt. »Vielleicht sind Rita und Walter ja auf der Straße.«
Sie klappten das Buch zu und verließen den Hof durch den Ausgang zur Neckarstraße.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lungerte eine Gruppe älterer Nachbarskinder vor einem der Hauseingänge herum. Zu ihnen gehörte die vierzehnjährige Rita, Esthers Schwester. Sie hatte schon einen heimlichen Freund, Walter, mit dem sie oft eng umschlungen im Hafen spazieren ging. Alle wussten das. Er war sechzehn und stand auch dabei, zusammen mit seinem Freund Stefan.
Diese Größeren besaßen die Arroganz der Pubertät von Leuten, die, wie sie sagten, schon allerhand mitgemacht hätten. In gewisser Weise war das richtig, denn der Krieg und die Zeit unmittelbar nach dem Zusammenbruch hatten ihnen die Kindheit gestohlen und sie mit dem brutalen Zwang zum Überleben viel zu rasch älter werden lassen. Sie rauchten, tranken Bier, konnten alles irgendwie besorgen, wollten ein paar Mark verdienen und taten so, als kannten sie das Leben in- und auswendig und als könne sie nichts mehr zum Staunen bringen. Das Wichtigste für sie war Fußball, die Fortuna, Toni Turek und das Stadion. Auch wenn sich Rosa und Esther bei den Großen wohlfühlten, bekamen sie oft, vor allem von Stefan und Walter, zu spüren, dass sie nicht ernst genommen wurden. Dann lachten die beiden Jungs über die Kleinen und den Kinderkram in ihren Geschichten. Doch heute glaubten Rosa und Esther, sie mit ihrem Fund beeindrucken zu können.
»Sollen wir euch mal zeigen, was wir gerade im Hof vom Trümmerkeller gefunden haben?« Rosa zog stolz das rote Büchlein und den Knopf aus ihrer Jackentasche.
»Auweia, das ist doch ein Parteibuch der Nazis«, rief Stefan aus, »mein Vater hat auch so eins. Im Schrank versteckt! Die darf man heute nicht mehr zeigen, hat er gesagt. Aber in ein paar Jahren könne man die für viel Geld verkaufen.«
Rita war neugierig geworden. »Lass mal gucken, das habe ich noch nie gesehen.«
Stefan gab ihr das Buch. Sie blätterte darin herum. Es war Mitgliedsbuch und Personalausweis in einem. Wieso lag ein rotes Parteibuch im Trümmerhof? Vor einigen Tagen war sie mit Stefan und Walter noch dort gewesen, aber da hatte kein Buch gelegen, der leuchtend rote Einband mit Adler und Hakenkreuz wäre ihnen aufgefallen.
»Mensch, das ist ja wahnsinnig. Das gehörte einem Herrn Richard Augsburger. Guckt mal, ein Foto von dem ist da drin, mit Hakenkreuz an der Jacke. Der sieht jung aus. Das Buch ist von 1932.«
»Wir haben noch etwas gefunden, den Knopf hier. Da steht auch was drauf: M O T Z.«
Rosa legte den Knopf in ihre Handfläche, so dass die anderen ihn sehen konnten.
»Das ist doch ein Knopf von einem Soldatenmantel«, erklärte Walter. Er kannte solche Knöpfe vom alten Mantel seines Vaters. »Verkauft ihr mir das Parteibuch? Ich sammle so was.«
Rosa schüttelte den Kopf. »Das Buch brauchen wir noch. Das ist nämlich wichtig. Der Mann auf dem Foto sieht so ähnlich aus wie der Gelbe, der ist nur älter als der auf dem Foto und hat einen gelben Pferdeschwanz.«
»Hä? Der Gelbe? Wer ist das denn? Erzählt mal.«
Rita war gespannt. Was hatten denn die beiden Kleinen mit einem Mann mit langen gelben Haaren zu tun? Sie wusste, dass Rosa und Esther manches Mal fantastische Geschichten erzählten über fremde Leute, die ihnen verdächtig vorkamen. Dann beobachteten sie die Person und sammelten sogenannte Beweise dafür, dass ein Verbrechen, wie sie es nannten, im Gange war. Die Geschichten wirkten oft übertrieben. Dumme Kindergeschichten, also kaum zu glauben. Aber das rote Buch lag in ihrer Hand, und das bewies, dass es diesmal keine Fantasien der beiden waren.
Stefan sah sich das Buch noch einmal an. »Rosa, was macht denn der sogenannte Gelbe im Trümmerkeller?«
Rosa zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Der sucht was. Ich habe da auch schon Silberlöffel gefunden«, erklärte sie.
Walter griff nun zu dem Büchlein. »Und wo habt ihr den Gelben sonst noch gesehen?«
»Im Trümmerhof, aber der Mann geht immer zur Gilbachstraße raus, klettert hinten vom Hof über die Steine, die da herumliegen und läuft raus auf die große Wiese hinter dem Gestrüpp.«
»Wenn euer Gelber wirklich ein Nazi gewesen ist und hier wohnte und nun zur Gilbach hinaus schleicht, dann könntet ihr doch mal herausfinden, ob der jetzt dort in der Gegend wohnt. Ihr müsst aber vorsichtig sein. Kapiert? Der kann gefährlich sein. Wer weiß, was der sucht?«
Stefan hatte schon einiges über die Nationalsozialisten gehört und gelesen. Manchmal erzählte sogar sein Vater davon, jedoch nicht gern. Es hieß immer nur, die Nazis seien scharfe Hunde gewesen und hätten mit jedem, der den Mund aufmachte, kurzen Prozess gemacht. Oder es hieß, das war die schlimme Zeit. Allerdings lebte sein Vater doch auch in dieser Zeit. Er spürte, dass niemand etwas Genaues sagen wollte. Daraus schloss er, ohne es wirklich zu verstehen, dass von einem Typen wie dem Mann mit den gelben Haaren eine Gefahr ausgehen musste.
Er redete weiter zu den Mädchen: »Ein Nazi, der sich im Keller seines ehemaligen Wohnhauses herumtreibt, könnte etwas suchen, was er in der Kriegszeit dort versteckte. Vielleicht auch Waffen. Dieser Keller ist ja als Unterkunft sogar noch fast bewohnbar, wenn man sonst kein Dach über dem Kopf hat, so wie einige andere im Viertel auch. Also Vorsicht, verstanden, ihr Dötze?«
»Ja, ja … wir sind ja keine kleinen Kinder mehr, schon gar keine Dötze«, fauchte Rosa zurück. »Krieg dich wieder ein, ich habe es ja nicht böse gemeint«, entschuldigte sich Stefan.
»Wenn der Gelbe uns was tun will, rufen wir euch. Wir sind vorsichtig, versprochen. Aber nichts den Eltern sagen! Wir müssen jetzt auch gehen. Tschühüüs!«
Rosa nahm das rote Buch und den Knopf, und die Mädchen gingen die Straße hinunter, setzten sich auf die hohe Bordsteinkante, die den Fahrweg säumte. Das war der Treffpunkt für die jüngeren Mädchen der Nachbarschaft. Sie packten ihre Glanzbilder aus und saßen nicht lange dort, als auch Brunhilde und ihre Kusine sich mit ihren Bildern dazu gesellten. Das Tauschgeschäft konnte beginnen.
Rita und die beiden Jungen standen noch eine Weile zusammen und sprachen über die Kinder und ihren Fund.
»Lasst uns mal ein Auge auf die beiden haben. Wer weiß, was das für ein Typ ist, dieser Gelbe«, schlug Rita vor. Unsere Eltern müssten auch Bescheid wissen. Was meint ihr?«