Der Mantel der Vergangenheit. Doris Bender-Diebels
aber er musste sich ja unbedingt durchsetzen. Er kannte doch die Gefahren, die das mit sich bringen würde. Politik interessierte ihn nicht. Ihm wurde übel, und er erbrach Galle in den Toilettentopf. Er hatte den Tag über ja noch nichts gegessen oder getrunken. Er ging zur Tür und klopfte laut dagegen. Das musste er mehrmals machen, es dauerte lange, bis jemand kam und die Klappe öffnete. »Was willst du?«
»Wasser!«
Wortlos verriegelte der Wärter das Fenster. Nach einer gefühlten Ewigkeit sperrte er es wieder auf und reichte ein Glas Wasser hindurch. Ohne ein Wort zu sagen, stieß er die Öffnung abermals zu. Harry trank hastig das Wasser. Es rann kühl seine Kehle hinunter, ohne seinen Durst gänzlich zu löschen. Vor Erschöpfung fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Düsseldorf, 21. März 1943 – Gestapoleitstelle
Schwaches Tageslicht drang durch das vergitterte Fenster, das nur einen kleinen Ausschnitt des wolkenverhangenen Himmels freigab. Die Klappe in der Zellentür wurde geöffnet, und jemand reichte ihm Wasser und zwei Scheiben Brot herein.
»Beeil dich mit Essen, um neun will der Herr Kriminalkommissar Augsburger noch mit dir sprechen. In zehn Minuten hole ich dich ab.« Der Wärter schloss die Luke. Der Name Augsburger trieb Harrys Herzschlag an. Er wusch sein Gesicht und die Hände an dem kleinen Waschbecken in der Zelle und verrichtete seine Notdurft. Er trank nur das Wasser. Ein paar Bisse ins trockene Brot genügten ihm, Hunger spürte er nicht mehr. Kurz danach öffnete sich die Zellentür. Ein Wärter trat mit einem knappen »Guten Morgen« ein. Dann nahm er Harrys Arm und dirigierte ihn aus der Zelle hinaus zum Vernehmungszimmer. Augsburger empfing ihn im selben Zimmer wie tags zuvor.
»Na, wie hat das Frühstück geschmeckt? Brot mit Schweinebauch wäre besser gewesen, nicht wahr, mein Freund?« Hell auflachend klopfte er sich auf die Schenkel. »Die Hochzeitsnacht allein in der Zelle. Ja, ich habe in der Akte gelesen, ihr hattet gestern den elften Hochzeitstag.« Seine Lippen verzogen sich wieder zu jenem Grinsen. »Aber nach so langer Ehe ist es mit der Liebe bestimmt nicht mehr so doll, nicht wahr? Da kann man doch stattdessen eine Nacht in einer unserer hübschen Zellen verbringen, ohne was zu vermissen, ist doch so, oder?«
Er wartete keine Antwort ab, fuhr plötzlich in milderem Ton, fast schon freundlich fort: »Ich möchte dir helfen. Der Günther, dein Freund, oder soll ich sagen, dein ehemaliger Freund, hat mich gestern noch angerufen und gefragt, ob ich nicht was für dich tun könne, du seist doch kein übler Straftäter, der dem Führer habe schaden wollen mit dem Schwarzschlachten. Und so ein guter Bauer, du habest im Dorf nie schlecht über die Politik des Führers gesprochen, auch wenn du kein Parteigenosse bist. Ich habe dem Günther gesagt, sicher könne ich was tun, aber dann hätte ich auch was gut bei dir. Das hat er eingesehen. Wir sind uns schnell einig geworden. Günther wird auf deine Familie aufpassen, damit Regina nichts Unerfreuliches passiert. Du verstehst schon, was ich meine, oder? Ich kann ja nicht täglich auf deinem Hof nach dem Rechten schauen, habe ja genug zu tun. Aber ich mache dir einen Vorschlag: Du meldest dich freiwillig zur Wehrmacht, es werden Soldaten für den Endsieg gebraucht. Dann musst du nicht ins Gefängnis. Hier, ich lese dir mal die Kriegswirtschaftsverordnung vor, gegen die du verstoßen hast. Er legte ein Blatt auf den Tisch und begann zu lesen: »§1 Abs. (1) Wer Rohstoffe oder Erzeugnisse, die zum lebenswichtigen Bedarf der Bevölkerung gehören, vernichtet, beiseite schafft oder zurückhält und dadurch böswillig die Deckung dieses Bedarfs gefährdet, wird mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf Todesstrafe erkannt werden. Da siehst du, wie schwer deine Tat wiegt und was dir dafür blühen kann. Erfahrungsgemäß gibt es Richter bei den Sondergerichten, die das sehr hart bestrafen. Wenn du aber meinem Rat folgst, kommst Du stattdessen für kurze Zeit in eine Ausbildungseinheit der Wehrmacht und wirst dann dahin geschickt, wo du gebraucht wirst. Du wirst sozusagen vom Schädling zum Helden für Volk und Vaterland. Wir nennen das Frontbewährung. Offiziell! Mit hoher Wahrscheinlichkeit gibt es aber hinter der Front genug Arbeit. Hast ja keine soldatische Erfahrung. Und ich sorge dafür, dass du spätestens nach sechs Monaten wieder zurück sein wirst bei deiner Frau und den Mädchen. Dann bist du ein freier Mann, niemand wird von der Strafsache erfahren, in deiner Akte wird kein Eintrag darüber sein. Das ist doch besser, als ins Gefängnis zu gehen, zu den anderen Verbrechern, die dich als Volksschädling behandeln werden. Wer weiß, ob du aus der Ulmer Höh lebend raus kommst? Die Wärter dort …«, er zog die Augenbrauen hoch, »du weißt schon, hast es bestimmt schon gehört, brauch ich dir nicht erklären, spricht sich ja herum.«
Der Kommissar machte eine Pause und beobachtete die Wirkung seiner Worte. Harry verlor jegliche Farbe aus dem Gesicht. »Günther wird deine Regina schon aus alter Freundschaft beschützen.«
Harry überlegte. Warum wollte dieser Mann ihm etwas ersparen? Was hatte Günther denn überhaupt mit diesem Menschen zu tun? Eine Hand wäscht die andere?
»Du hast jetzt zwei Stunden Zeit, dir das zu überlegen. Höchstens zwei Stunden, nicht länger. Dann lass ich dich holen. Ich lege dir ein Blatt hierhin, und wenn du dich entschieden hast für die Wehrmacht, dann stelle den Aufnahmeantrag. Da muss drinstehen, dass du dich freiwillig meldest. Dann können wir uns das andere Verfahren ganz ersparen. Und unser Richter, der für dich zuständig ist, freut sich über jeden neuen Soldaten. Ich hoffe, du hast mich verstanden!«
»Kann ich darüber mit meiner Frau sprechen?«
»Nein, kannst du nicht. Du musst schon selbst entscheiden.« Damit wandte Augsburger sich um und verließ grußlos den Raum.
In Harrys Kopf drehte sich alles. Klar denken fiel ihm schwer. Könnte er sich doch nur mit Regina beraten. Zwei Stunden Zeit, um solch eine schwer wiegende Entscheidung zu fällen! Bisher entschieden sie sämtliche wichtigen Dinge zusammen. Sie waren nicht immer einer Meinung, konnten aber jedes Mal Kompromisse finden, wenn das notwendig gewesen war.
4
Düsseldorf-Bilk, März 1951
Das ehemalige Wohnhaus in der Neckarstraße 11 war nur noch eine Ruine. Die Seitenwände und die vordere Hausfassade hatten den Bombenangriff überstanden. Die Rückseite war bis auf die erste Etage zerstört, das Dach weggerissen bis auf verbrannte Reste. Die frühere Eingangstür ließ sich nicht mehr schließen. Durch den Spalt drückten sich Kinder in den Innenhof und liefen von dort aus über acht Stufen hinab in die Kellerräume. Im Hof oder gar in den Kellerräumen zu spielen, verboten die Eltern natürlich. Es sei zu gefährlich. Aber sie konnten es nicht verhindern. Die Kinder und Jugendlichen kannten viele Wege, in das Trümmerhaus zu gelangen, ohne erwischt zu werden.
So auch die besten, gleichaltrigen Freundinnen Rosa und Esther. Beide besuchten sie die Katholische Volksschule und teilten die gleichen Leidenschaften: Fußball, Völkerball und sonstige Spiele, die man zusammen mit anderen Kindern draußen spielen konnte. Beide vertrauten einander, tauschten Geheimnisse aus. Die Zahl der Familien, die im Hafenviertel wohnten, nahm nach Kriegsende stetig zu. Daher konnten Rosa und Esther sicher sein, neue Spielgefährten auf der Straße und im Trümmerhaus anzutreffen.
Die älteren Jungen trugen gammelige Matratzen in die Keller und machten es sich darauf gemütlich. Hier rauchten sie gesammelte Tabakreste und Stumpen. Man lungerte einfach nur herum. Die Themen, über die sie sich unterhielten, wechselten meist vom allgemeinen Fußball zu speziellen Ansichten über den besten deutschen Torwart Toni Turek bei der Fortuna Düsseldorf und endeten mit Bemerkungen zu den Mädchen aus der Clique. Über ein anderes Thema, die Heimkehr ihrer Väter aus dem Krieg, sprachen sie kaum miteinander. Da verarbeitete jedes Kind, jeder Jugendliche seine eigenen Erfahrungen, gute wie schlechte. Man wollte sich nicht schämen, wenn häufiger Streit das Familienleben nach der Heimkehr des Vaters prägte.
»Gut, dass du da bist«, begrüßte Rosa ihre Freundin, die vor dem Trümmerhaus schon auf sie wartete. Sie umarmten sich. Eine beste Freundin zu haben, fand sie wunderbar.
»Was sollen wir denn jetzt machen? Wozu hast du Lust? Sollen wir mal gucken, wo die Jungs sind? Vielleicht können wir mit denen Fußball spielen«, fragte Esther. »Nein, lass uns lieber zur Brache gehen und uns dort auf die Steine setzen. Ich muss dir was ganz Unheimliches erzählen.« Rosa fasste ihre Freundin an der Hand, bevor sie antworten konnte, und zog sie mit sich in den Trümmerhof. Niemand