Der Mantel der Vergangenheit. Doris Bender-Diebels
kamen an der Brache an. Auch keiner zu sehen. Sonst spielten um diese Uhrzeit meist Kinder hier. Aber es fiel ein leichter Nieselregen. Sie setzten sich auf einen Steinbrocken, der am Boden lag.
»Esther, ich muss dir was sagen. Was ganz Wichtiges, du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst.«
Esthers Augen wurden groß. »Was denn, ein Geheimnis?«
Rosa erzählte ihr von der Gestalt auf dem Speicher. Esther war beeindruckt. Ihr gruselte allein beim Gedanken daran, so etwas erleben zu müssen. Sie glaubte Rosa sofort. »Hast du die Gestalt denn danach noch einmal gesehen?«
»Nee, ich bin ja nur heute Mittag nochmal auf den Speicher gestiegen, dort war niemand. Aber ich weiß nicht, ob ich so jemandem noch einmal begegnen will. Das war so aufregend, und ich weiß ja nicht, was die oder der auf dem Speicher wollte.«
»Hast du jetzt noch mehr Angst, da hoch zu gehen?«
»Nur ein bisschen. Heute Mittag bin ich ganz langsam die Treppe hoch gegangen. Meine Mutter glaubt mir immer noch nicht.«
»Das mit dem Pinkelpott finde ich lustig«, kicherte Esther, »und stell dir mal vor, wie die blöde König im Nachthemd auf dem Podest ausrutscht und in die Pipipfütze fällt …« Beide Mädchen prusteten los.
»Sagst du mir, wenn du die Gestalt noch einmal siehst? Ich will die dann auch sehen.«
»Aber ob die noch mal zu uns auf den Speicher kommt, weiß ich ja nicht. Wenn die mir noch mal begegnet, dann müssen wir herausfinden, wer das ist. Ich habe ja gehört, dass sie geatmet hat. Das kann ja kein Geist gewesen sein.«
»Wenn das ein Mensch gewesen ist, war das bestimmt ein Mann.«
Rosa nickte. »Kann sein. Wenn der nicht auf dem Speicher schläft, wo könnte der denn dann schlafen?«
»Vielleicht in Hauseingängen oder in Kirchen? Rita hat mal erzählt, dass im Trümmerhaus in der Erftstraße jemand gesehen worden ist, der dort eine Zeit lang übernachtet hat.«
»Aber der Eingang ist ja jetzt zugenagelt worden. Wir müssen halt aufpassen und uns umhören. Und wir sollten die älteren Jungs fragen, ob die schon mal in Neckar 11 einen gesehen haben, der da geschlafen hat. Ich muss dich aber noch was fragen: Hast du schon mal den alten Mann gesehen, der so oft hier herumschleicht, als ob der was sucht?«
»Ja«, erinnerte sich Esther, »ab und zu habe ich den schon gesehen. Der hat eine komische Frisur, so gelbes Haar mit einem Zopf hinten.« Beide lachten, auch Rosa konnte sich an diesen Zopf erinnern.
»Ja, das ist er, den meine ich. Der sieht von hinten aus wie eine Frau.«
»Mein Papa hat den auch gesehen, als wir vorige Woche durch die Gilbachstraße gingen und hat den Kopf geschüttelt«, antwortete Esther. »Der ist bestimmt vom anderen Ufer, den haben sie auch vergessen zu vergasen«, sagte er.
»Was meinte er denn mit vergasen?«, wollte Rosa wissen. »Weißt du, was das ist … vergasen?«
»Nee, weiß ich auch nicht, irgendwas mit Gas jedenfalls«, sagte Esther. »Ich habe das auch schon mal gehört, als ein Nachbar so was zu meinem Vater gesagt hat, als die über den polnischen Mann gesprochen haben, der über uns wohnt und kaum deutsch spricht. Frag doch deinen Vater mal, was damit gemeint ist. Weißt du denn, wo der Mann wohnt?«
»Weiß ich nicht, warum willst du das denn wissen?« fragte Esther.
»Wir könnten herausfinden, wo der wohnt. Vielleicht hat der ganz in der Nähe eine Wohnung, in der Gilbachstraße vielleicht? Sollen wir ihn jetzt immer den Gelben nennen?« Rosa sah Esther an. Die nickte.
»Der ist mir schon mal im Trümmerhof entgegen gekommen und meinte, ich solle abhauen, ich hätte da nix zu suchen. Und der guckte mich mit so zusammengekniffenen Augen an. Hast du mal diese Augen gesehen? Da kriegt man Angst. Ich glaube, die sind auch ganz gelb. Machst du mit, den genau zu beobachten? Alleine traue ich mich nicht. Stell dir vor, der sieht mich im Keller und schlägt mich dann vielleicht oder bringt mich sogar um.«
»Meinst du, das würde der machen? Das ist ja spannend.« Esther strahlte. Nach einem langweiligen Wochenende nun so etwas Aufregendes. Am liebsten wollte sie sofort aufstehen, den ›Gelben‹ suchen und beobachten, die Polizei rufen … »Ja, ich mache mit!« Das klang begeistert. »Aber was ist, wenn der eine Pistole hat? Mein Vater besitzt ein Schweizer Messer, soll ich das mitbringen?«
»Ja toll«, Rosa klatschte in die Hände, »hat der auch eine Taschenlampe?«
»Ja, hat er.«
»Bringst du die beim nächsten Mal mit? Dann haben wir zwei Lampen.«
Esther nickte, und Rosa entwickelte einen Plan:
»Dann müssen wir jetzt nur überlegen, wie wir ihn beobachten. Der darf uns ja nicht sehen. Wir sollten uns auf die Lauer legen, irgendwo im Gebüsch da vorne«, Rosa zeigte auf den Ausgang zur Gilbachstraße. »Und wir könnten auch in den zweiten Kellerraum gehen und suchen, was da noch sein könnte. Ich habe neulich, als ich im hinteren Raum stöberte, zwei silberne Esslöffel gefunden, mit eingeritzten Buchstaben im Löffelstil: Ein L und ein A. Vielleicht entdecken wir ja noch mehr Wertvolles. Rosa gefiel die Vorstellung, dort unter den Trümmern Reichtümer zu finden, die niemandem gehörten.
Mittlerweile regnete es leicht. Das machte das Sitzen ungemütlich. Sie standen auf und gingen in Richtung Gilbachstraße. Dabei erzählte Rosa ihrer Freundin andere Neuigkeiten der letzten Tage.
»Hast du von Winnie gehört? Der ist vom Eisenbalken in der Ruine Erftstraße gefallen. Meine Mutter hat sich sehr aufgeregt und geweint, als sie davon erfuhr. Sie kennt die Mutter vom Winnie gut.«
»Warst du dabei, als das passiert ist?«
»Nee … ich habe da gerade das Baby von Jasines verwahrt, die im Keller von Neckar 23 wohnt, die kennst du doch«, antwortete Rosa. »Aber die Jungs, die dabei gewesen sind, erzählten mir, wie die Mutter von Winfried geschrien hat, als man sie zur Unglücksstelle brachte und sie ihren Winnie da so liegen sah. Der sei ganz bleich gewesen und hätte im Blut gelegen«, fuhr Rosa fort. »Sie stürzte sich auf ihn, wollte ihn an sich ziehen und sein Gesicht streicheln, hat der Rudi erzählt, aber der Arzt und die Feuerwehrleute haben sie weggerissen und zum Rettungswagen gebracht. Da hat sie weiter geschrien. Dann gab der Arzt ihr eine Spritze. Sie wurde ins Martinus-Krankenhaus gebracht. Jetzt ist der Eingang zum Trümmerhaus mit Brettern zugenagelt. Schade. Bleibt nur noch unsere Neckar 11.«
»Und Winnie?«
»Der ist tot.«
»Wirklich? Warum ist der denn auf den Balken gestiegen?«, fragte Esther.
»War eine Mutprobe, machen die doch oft, die großen Jungs. Lass uns jetzt aber nicht mehr darüber sprechen«, bat Rosa. »Treffen wir uns morgen nach der Schule im Keller?«
Sie waren fast am Ende der Brache angekommen. »Du … es ist ja noch hell, lass uns doch jetzt mal schnell in den zweiten Keller gehen und suchen«, schlug Esther vor.
Rosa nickte ihr zu. Sie drehten um und liefen zum Rand der Ruine. Es war leicht, über die Steinhaufen zum schmalen Durchgang zu gelangen, der auf den Innenhof führte. Schnell erreichten sie ihn und stiegen hinunter in den hinteren Kellerraum.
»Guck mal, hier lagen die Silberlöffel herum. Vielleicht finden wir noch etwas.« Rosa zeigte in den Raum auf den Fundort der Löffel. Für solche Suchaktionen trug Rosa meistens die kleine Taschenlampe in der Rocktasche. So auch heute. Beide suchten im Lichtkegel der Lampe den Raum ab. Im hinteren Drittel lagen größere Steinbrocken aufeinander, dazwischen alte Decken, zerrissene uralte Kleidungsstücke, vom Staub bedeckt, manche von Ratten angenagt. Auch jetzt hörte sich ein Geräusch so an, als versuche eine Maus oder Ratte das Weite zu suchen.
Als Rosa sich bückte, sah sie wieder ein kleines rundes silbrig scheinendes Ding auf der Erde liegen. Sie hob es auf und staunte … es war ein Knopf, wie der, den sie auf ihrem Weg zum Speicher gefunden hatte. »Esther«, rief sie aufgeregt, »guck mal, was ich gefunden habe.«
Esther