Regenschatten. Seraina Kobler

Regenschatten - Seraina Kobler


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Mal in diesem Jahr, offene Schuhe an den noch bleichen Füssen. Ich dachte mir, dass sie doch eigentlich singen oder wenigstens vergnügt summen müssten. Aber stattdessen saßen sie unbeeindruckt vor ihren kunstvoll in die Crema des Kaffees geschäumten Milchblumen, als wäre nichts Besonderes geschehen.

      Am Abend zuvor hatte ich Spätschicht im Rivera gehabt, einer Bar an der Sihl, die man nur fand, wenn man sie kannte. Ein gusseisernes Tor verschloss tagsüber den unscheinbaren Eingang in den Hinterhof und die Treppe, die durch verwinkelte unterirdische Gänge in das Gewölbe führte. Bald nach der letzten Runde drehte ich die im Gemäuer versteckten Neonröhren voll auf. Mit einem Schlag war es taghell. Die blinden Stellen auf der Spiegelwand wurden sichtbar. Jetzt fiel auf, dass es keine Fenster gab, sondern nur samtene Vorhänge, die in dem grellen Licht ihre dämpfende Wirkung verloren. Die Vorstellung war vorbei. Ich wischte die dickbauchigen Flaschen ab, in denen wir die Essenzen für die unterschiedlichen Mixturen aufbewahrten. Sie enthielten nur Wasser, Alkohol und eine Grundzutat. Zitronengras, Bergamotte, Rosenholz, Ingwer, Zimt. Nachdem wir die letzten Gäste verabschiedet hatten, kippte ich das Eis aus dem silbernen Kübel in den Schüttstein und Oskar begann, den Umsatz aus der Kasse zu zählen. Als sich die Geldscheine in ordentlichen Häufchen vor ihm stapelten, klingelte sein Telefon.

      Er fragte mich, ob es in Ordnung sei, wenn noch ein Freund reinschaue. Ich war ziemlich müde, aber Stella bestand darauf, dass wir den Laden nur zu zweit dicht machten. Oskar war mir zuliebe auch schon länger geblieben. Ich zuckte mit den Schultern. Dann stellte ich die Flaschen zurück auf die Tabletts aus schwarzem Holz. Stella hatte, als sie das Rivera übernahm, alles in einem kräftigen Graublau übermalt. Sie inszenierte eine nahezu perfekte Illusion. Die kniehohen, mit Messing verbrämten Tische harmonierten mit den antiken Sesseln, die mit Plüsch, Tweed und glänzendem Leder bezogen waren. Es war zwar gewollt, dass die Bar mit ihren vielen Schubladen und den elfenbeinfarbenen Etiketten, den dunklen Flaschen, den durchsichtigen Gläsern mit Rinden und Harzen, Pflanzenpulvern und getrockneten Blüten einer Apotheke aus dem vergangenen Jahrhundert glich. Dennoch wirkte es nicht bemüht. Das lag vielleicht daran, dass keines der vielen Utensilien je ohne Funktion blieb. Wir sollten nicht einfach Getränke kultivieren, sondern etwas, was kaum mehr zu finden war: Sorgfalt, mit einer Prise Magie. Obwohl das Rivera in keinem Stadtführer je erwähnt wurde und seit Jahren unter dem Radar der Veranstaltungskalender flog, bildete sich an den Wochenenden eine Warteschlange bis beinahe zum Busbahnhof.

      Vorsichtig griff ich nach einer der dänischen Keramikvasen am Eingang. Efeuranken und üppige Ranunkeln wippten, als ich sie hinter die Bar neben den Mörser und Stößel aus rauem Granit stellte. Für einen Augenblick meinte ich, Davids Gesicht im Profil schon einmal gesehen zu haben. Das konnte aber auch nur an der Wollmütze liegen, unter der seine Haare hervorschauten. Erst später an diesem Abend würde mir auffallen, dass seine Augen leuchtend grün waren und Punkte hatten, die in der gleichen Farbe schimmerten wie der schwere Whisky, den wir als Basis benutzten. Nachdem wir die Kelche für den Champagner, die Kristallgläser und Karaffen alle abgewaschen hatten und die Barhocker umgekehrt auf dem sauberen Tresen standen, begann Oskar von seiner Theorie zu erzählen. Ich kannte sie bereits und Davids Reaktion ließ darauf schließen, dass es ihm ebenso erging. Immerhin waren sie im gleichen Bergdorf aufgewachsen – und seitdem Freunde. Oskar hatte das Betriebskonzept so sehr verinnerlicht, dass er der festen Überzeugung war, nicht einfach ein Barkeeper zu sein, sondern ein Mixologe, eine Art Alchemist für Stimmungen. Vielleicht wollte er den unterbezahlten Job im Nachtleben mit Bedeutung aufladen, damit er nicht darüber nachdenken musste, was er sonst noch mit seinem Leben anfangen könnte. Vielleicht glaubte er aber auch wirklich daran.

      Stellt euch vor, sagte Oskar, man könnte Gefühle destillieren. Es knackte, als er von einem großen Block Eis abschlug. Stellt euch vor, wie sie sich beim Einkochen vermischen und alles Unnötige verdampft. Während er das sagte, ließ er seine Hände durch die Luft fahren, als würde er einen Hefeteig kneten. Es bliebe nur die reine Emotion übrig.

      Je nachdem, sagte David, wäre das der heilige Gral oder die Büchse der Pandora. Dann kostete er von dem roséfarbenen Getränk, das Oskar ihm hingestellt hatte. Oder beides in einem, sagte er und schob mir das Glas zu. Ich nippte daran und hielt es prüfend in die Höhe.

      Gin, sagte ich dann. Erdbeere, Kardamon, Piment und ein paar Flitter Gold. Eine perfekt geschnittene Limette schwamm auf dem Eis, so dass sich das Zitrusaroma mit der Kälte mischte und eine Art Filter bildete, durch den der Rest des Cocktails hindurch floss. Dadurch veränderte sich der prickelnde Geschmack im Laufe nur eines einzigen Schluckes, noch bevor er von den Knospen im Gaumen richtig lokalisiert werden konnte. Schmeckt nach Euphorie, sagte David.

      Das liegt an den Erdbeeren und dem Gin, sagte ich und trank rasch einen weiteren Schluck, um die Verwirrung zu kaschieren, die er in mir auslöste. Ich musste mir Mühe geben, David nicht die ganze Zeit über anzuschauen, sondern nur dann, wenn er etwas sagte oder sich eine neue Zigarette ansteckte. Ich war froh, dass Oskar die Gelegenheit ergriff, um eine seiner Bargeschichten zum Besten zu geben. Aus einer Zeit, in der eine Kalorie Brot mehr kostete, als eine Kalorie Gin. Und besoffene Mütter ihre Töchter erwürgten, für ein paar Gläser. Er drehte sich um und suchte nach einer neuen Basis. Diesmal entschied er sich für Wodka, dem er als Oberton arktische Hibiskusblüte verpasste. Sie waren der letzte Schrei, seit Gärtner auf Spitzbergen die heißen Quellen anzapften, um damit Beete und Gewächshäuser zu temperieren. Jetzt wuchsen sogar nur wenig südlich vom Polarkreis Bananen, Zitronengras und Koriander. Oskars norwegische Großmutter schickte ihm regelmäßig Pakete, deren Inhalt nun zu den kostbarsten Ingredienzien auf unserer Karte zählt. Was denkt ihr? Er nahm drei Reagenzgläser aus dem Eisfach, die an der Luft sofort beschlugen. Gibt es ein Recht auf Rausch?

      Es gab bestimmt viele Männer, die sahen besser aus als David. Doch vielleicht war es genau dieses Unperfekte. Die zu großen Zähne verliehen seinem Mund etwas Kindliches, was einen Kontrast zu dem dichten Bart bildete, der ihn umrahmte. Seine sehnigen Unterarme gingen in tellergroße Hände über. Und dann war da noch etwas, was über Äußerlichkeiten hinausging. Ich kann es kaum beschreiben. Noch immer nicht. Ich weiß nur, dass ich mich sofort zuhause fühlte. In dem, was ich in ihm zu sehen glaubte. In seiner Stimme. Seiner Erinnerung. Sie drangen durch mich hindurch, als wäre ich von einem Moment auf den anderen komplett durchlässig geworden.

      Vielleicht, sagte David, brauchen wir den Rausch, um die leeren Gesichter in der Straßenbahn ertragen zu können. Das Gefühl der Verbundenheit aus den langen Nächten in die Mitte der Gesellschaft zu tragen – vielleicht ist das tatsächlich die einzige Möglichkeit, etwas zu verändern. Oder nicht?

      Wir haben einfach keine echten Probleme mehr, sagte Oskar. Cheers. Darauf trinken wir! Er reichte uns die Röhrchen. Wir leerten sie in einem Zug. Der Wodka war ölig auf der Zunge. Brechreiz stieg in mir auf. Rasch schob ich die gezuckerte Hibiskusblüte in den Mund und kaute auf ihr herum, worauf Oskar warnte, wohl nicht ganz ernst gemeint, ich solle mich hüten. Die Blüte stehe in manchen Kulturen für Fruchtbarkeit – und Fernweh. Erst viele Slings später verabschiedeten wir uns von Oskar, der noch weiterziehen wollte. Als David mich endlich fragte, ob ich noch zu ihm mitkommen wolle, erfasste mich eine Welle aus absolutem Glück, die man klarer nicht hätte destillieren können.

      Beim Central begannen die Serpentinen, die zum Zürichberg hinaufführten. Ich wohnte damals noch nicht lange in der Stadt und in den ersten Wochen schaffte ich den Heimweg kaum, ohne absteigen zu müssen. Mittlerweile hatte ich mich an die Steigung gewöhnt, auch wenn sie an diesem Tag anstrengender als sonst erschien. In meiner Wohnung angekommen, streifte ich als erstes die feuchten Kleider vom Leib. Dann spülte ich eine Aspirin mit Leitungswasser herunter und drehte den Radioapparat auf. Es lief irgendein Popsong im Radio, den ich schon hundertmal gehört hatte, aber in diesem Moment plötzlich gut fand. Ich beschloss, den versäumten Schlaf nicht nachzuholen, sondern die letzten Wände fertig zu streichen.

      Viele Male versenkte ich die Malerrolle im Eimer, drückte die überschüssige Farbe durch das Netz und schaute zu, wie die Fäden wieder im Weiß aufgingen. Dann rollte ich eine Bahn Farbe von der Decke bis zur Leiste runter, die ich mit Klebeband abgedeckt hatte. Dabei übermalte ich die Jahre, die in den Wänden hockten. Bahn um Bahn verschwanden die gespachtelten Löcher, an deren Rändern der Gips abbröckelte, die hellen Flecken, Leerstellen. Von denen jede einzelne ihre Geschichte zu


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