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Regenschatten. Seraina Kobler
und erst am Montag mit Glitzer im Haar wieder ausgespuckt.
Wenn ich danach mit Nachwehen wie Schwindelgefühlen, einer depressiven Verstimmung und Übelkeit im Bett lag, blätterte ich in den Katalogen. Ich stellte mir vor, was ich brauchen würde, um mit nur einem Rucksack als Gepäck den Kontinent abzulaufen. Gewissenhaft wog ich die Vor- und Nachteile von Gaskochern gegenüber Benzinern ab. Verglich das Gewicht von Daunenschlafsäcken, die mit Federn von artgerecht gehaltenen Gänsen aus kleinen osteuropäischen Bauernhöfen gestopft waren, mit dem von Kunstfasern und suchte mir nach dem Zwiebelprinzip die richtige Kleidung aus Merinowolle, Faserpelz und recyclebarem Isolationsmaterial zusammen. Manchmal bestellte ich tatsächlich das eine oder andere. Und wenn der Postbote ein paar Tage später die Pakete vor die Haustür stellte, hatte ich im ersten Moment schon wieder vergessen, was darin sein könnte.
So war ich zu dem Schlafsack, der ultraleichten Matte und den anderen Dingen wie der Edelstahl-Thermoskanne, einer winzig kleinen Taschenapotheke oder der hochfunktionalen Regenjacke gekommen, die ich bislang eher gehortet hatte, als sie wirklich zu benutzen und nun mit einer gewissen Genugtuung in den Rucksack packte. David hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls angezogen und die zweite Kanne Kaffee blubberte gerade auf dem Herd, als ich ihm sagte, dass ich nun fertig sei und wir los könnten. Wenig später saßen wir in seinem ratternden Bus, der eher an eine Wellblechhütte auf vier Rädern erinnerte, als an ein Fahrzeug. Tatsächlich war David viel damit unterwegs. Manchmal fuhr er am Abend einfach los, um am nächsten Morgen neben einem rauschenden Wasserfall aufzuwachen, bevor er wieder zurück zur Arbeit fuhr. Im Sommer nach Lenas Tod hatte er ganz im Bus gelebt. Nach einem kurzen Halt in seiner Wohnung hatten wir alles beisammen, was wir glaubten, für die zwei Tage auf dem Berg zu brauchen. Wir fuhren auf der Autobahn, sahen den See, passierten die Fähre und die zwei bewaldeten Inseln, wo glänzende Motorboote vor Anker lagen, deren Besitzer sich auf dem sanft schaukelnden Bug liegend bräunten, oder in der Strandbar saßen und frittierte Pangasiusfilets aus asiatischen Aquaparks mit vorgeschnittenem Eisbergsalat an dickflüssiger Fertigsauce aßen.
Als wir in eine breite Ebene einbogen, änderte sich nicht nur die Landschaft, die nun von flachen Feldern geprägt wurde, sondern auch die Überbauungen. Verwaschene Wohnblöcke mit Wänden aus Beton, die aussahen, als wären sie von einem schimmelfarbenen Ausschlag bedeckt, lugten zwischen den schroffen Felswänden hervor, die an uns vorbeiflogen. Es sei doch gut, sagte David. Wieder mal rauszufahren und so. Ich nickte und dachte daran, dass diese Gewerbegebiete, die Werkhöfe und ländlichen Einkaufszentren mit fußballfeldgroßen Parkplätzen davor bei mir eigentlich schon immer leichte bis mittelschwere Tristesse ausgelöst haben. Vielleicht lag das daran, dass Karlina und ich nach der Scheidung meiner Eltern einige Jahre in einer Wohnung am Rand des Industriequartiers gelebt hatten, wo je nach Wetterlage morgens schon der Geruch der benachbarten Schweinemast herüber wehte. Meine Mutter arbeitete in einem nahen Ausflugsrestaurant als Kellnerin. Speckplatte und grüner Veltliner, geschwollene Füße und Venen, die sich fächerartig unter ihren Nylonstrümpfen auszubreiten begannen. Obwohl sie jeden Monat stattliche Unterhaltsbeiträge von meinem Vater bekam, wie wir beide wussten.
Der Parkplatz an der Talstation war bereits so überfüllt, dass David den Bus etwas außerhalb des Dorfes neben eine Weide stellte. Die Kühe drängten sich in den Schattenwurf des einzigen Baumes, den sie innerhalb der elektrischen Zäune erreichen konnten. Bald würden sie zu hecheln beginnen. Bevor ich mich ärgerte, dass der Bauer wohl erst etwas unternehmen würde, wenn die Milchleistung zurückginge, schnappte ich mir den Rucksack aus dem Kofferraum und ging voran in die Richtung, wo die Kabinen der Gondelbahn an einem dicken Seil den Berg hinauf schwebten.
Es kitzelte im Bauch, wenn der Sessel über die Rollen an den Masten ratterte. Wir waren nach der ersten Station umgestiegen, um mit der Bahn bis über die Baumgrenze zu fahren, damit wir uns vor der Dämmerung noch einen geeigneten Schlafplatz suchen konnten. Der Wind pfiff in den Ohren und die Häuser unten im Tal wurden zu Häuschen, bis sie nur noch so groß wie Kieselsteine waren, die jemand zufällig hingeworfen hatte. Der breite Fluss, die Straßen, die Masten, die den Strom von den Stauseen in die Städte brachten, alles wurde zu einem einzigen Gewächs, das ganz hinten am Horizont mit einem großen See verschmolz.
Als wir dann da lagen, von der Nacht verschluckt, hoch oben unter dem Sattel, wo der Himmel wie eine weit geöffnete Tür ist, musste ich wieder daran denken. An das Netz, das die Lichter der Schaufenster, Scheinwerfer und Straßenlaternen bildeten. Wenn ich mir unsere Stadt vorstellte, blieb wenig Schwarz übrig. Vielleicht noch der See. In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass wir mit der absoluten Dunkelheit, dem Verschwinden der Sterne und den schwarzen Löchern nicht nur eine tröstliche Verbindung, sondern auch ein wenig die Ehrfurcht verloren haben. David zeigte auf die leuchtend helle Kassiopeia über uns, dabei streifte er kurz die Außenseite meiner Hand und ich merkte, dass es nur diese winzige Berührung brauchte, um uns zu einem einzigen Körper zu verbinden.
Später in dieser Nacht bin ich nochmals aufgewacht. Der Himmel war auf einmal ein bedrohlich hoher Raum. Davids Arm wog schwer auf meiner Schulter. Wir lagen noch immer nebeneinander, Bein an Bein, Bauch an Rücken. Auf unsere Matten gebettet, die wir zwischen die scharfen Felskanten gelegt hatten. Auf die vielen Schichten aus Stein, die sich im Laufe der Zeit überlagert hatten. Und ich spürte, dass sich auch in mir etwas verschob, wie Gneis, der erst durch die Verschmelzung von anderen Gesteinen entsteht und nur unter starkem Druck und hohen Temperaturen. Vielleicht war es das Kind, das durch seine feine Blase hindurch Dinge emporhob, die viel zu lange gelegen hatten.
Der Kaffee schmeckte bitter, doch ich wollte nicht zurück in die Gaststube gehen, wo die Wirtin zu laut mit dem Geschirr klapperte, und sie um eine frische Tasse bitten. Stattdessen setzte ich mich auf die Bank vor der Hütte, stellte die Tasse weg und kramte den Lederbeutel mit dem Tabak hervor. Nebenan plätscherte ein Holzbrunnen, Kinder rannten um einen stilisierten Riesentannenzapfen, der neben einem überdimensionalen Tonkrug stand und wohl alpines Flair verbreiten sollte. Nach zwei Zügen wurde mir schlecht. Eigentlich mochte ich sowieso nicht mehr rauchen. Und das unerwartete Gewusel an der Bergstation war mir unangenehm.
An den Ständen vor den Hotels hingen Mützen mit Gesichtern von Murmeltieren, Bernhardiner aus Plüsch, T-Shirts mit Aufdruck und Zuckerwatte in Plastiktüten, als befände man sich in einer dieser Transitzonen am Flughafen. Vor einer Felsplattform, die zu den grauen Hörnern zeigte, hatte sich eine Schlange gebildet. Einer nach dem anderen knipste ein Bild. Immer neue Leute, immer dasselbe Motiv. Als wären sie ohne dieses gar nicht wirklich hier gewesen. Einige hielten ihre Arme hoch, so dass es auf dem Foto aussah, als würden sie die Gipfel halten, dabei rückten sie gefährlich nahe an den Abgrund. David stand noch immer vor dem besetzten Toilettenhäuschen. Unter dem Schal, den er sich als Sonnenschutz um den Kopf gebunden hatte, wehten seine Haare im Wind. Als er mich sah, winkte er hinüber. Dann schob sich eine Gruppe Wanderer zwischen uns, die einen aufblasbaren Flamingo den Abhang hinauf balancierten. Im Tal, in den Städten und auf dem ganzen Kontinent herrschte, seit der Jetstream über Europa zum Erliegen gekommen war, eine Bruthitze. Also, eigentlich war er nicht wirklich zum Erliegen gekommen, nur mäanderte er einfach um uns herum, in den immer gleichen blockierenden Schlingen. Darum konnten sich die Hoch- und Tiefdruckgebiete nicht mehr abwechseln. Und das, was gerade da war, als sich die Winde verabschiedeten, blieb dann da. So ähnlich hatte das jedenfalls ein Forscher im Radio erklärt. Und während überall Dürre herrschte, paddelten sie auf den Seen herum, die der schmelzende Gletscher bei seinem Rückzug hinterlassen hatte.
David kam zurück und trank den Kaffee, der längst schon kalt war. Als ich etwa neun Jahre alt war, sagte er, bin ich mit meinem Vater dieselbe Route gelaufen. Nur dass sie damals mit dem Gletscher noch einfacher zu klettern war. Jedenfalls war ich schrecklich stolz. Es kam mir alles riesig vor.
Das kenne ich, antwortete ich, dieses Gefühl als Kind. Natürlich hat sich schon immer alles verändert. Aber jetzt fühlt es sich an, als hätten wir zuvor in Zeitlupe gelebt. Es knirschte unter den dicken Sohlen unserer Wanderschuhe, als wir den Steinen mit den weiß-rot-weißen Farbstreifen auf einem immer schmaler werdenden Pfad folgten. Und ich wünschte mir, David hätte die gesamte Tragweite meiner Aussage verstehen können.
An diesem Tag pilgerten so viele Leute in Richtung Gipfel, dass sich eine Menschenkette auf dem Pfad bildete. Besonders an den anspruchsvollen Stellen auf dem Geröllfeld hatte