Regenschatten. Seraina Kobler
Ich hatte die Wohnung in der Nähe des Zoos einer glücklichen Fügung zu verdanken. Hätte sich der Sohn meiner Vormieterin nicht an jenem Abend im Rivera bei mir an der Bar betrunken, ich säße wohl noch immer in einem überteuerten Provisorium fest, zusammen mit Leuten, die jederzeit bereit waren, den Inhalt meiner im Speicher eingelagerten Umzugskisten für die nächste Line zu verkaufen.
Als ich mit dem Streichen fertig war, roch es nach Neuanfang. Ich schloss die Fensterläden, weil sich die Räume unter dem Dach schnell aufheizten und schlüpfte aus dem alten Bikini, den ich für die Arbeiten getragen hatte. Unter dem heißen Wasserstrahl – ich schaffte es auch bei der größten Hitze nicht, kalt zu duschen – schloss ich die Augen und versuchte, die letzten Reste von Davids Geruch aufzusaugen. Dann griff ich nach dem Stück Seife, das an einer Schnur hing. Als ich einige Spritzer Farbe wegrubbelte, bemerkte ich eine weißlich-gelbe Flüssigkeit, die aus meiner Brustwarze trat. Nicht viel, nur zwei oder drei Tropfen. Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern, wie viele Wochen seit der letzten Blutung vergangen waren.
Ich stieg aus der Badewanne und öffnete die Dachluke, damit der Dampf abziehen konnte. Ohne mich abzutrocknen, stand ich vor dem hohen Spiegel, der an den Rändern vom heißen Dampf beschlagen war. Das Fläschchen mit dem Moor-Lavendel-Pflegeöl wäre fast auf die Fliesen gefallen, als ich es öffnete. Ich atmete tief durch. Konzentrierte mich auf die Stellen, wo mein Gewicht Umrisse auf den Boden presste, fußförmige Inseln der Sicherheit. Dann massierte ich das Öl ein. Schimmerten die sich verästelnden Äderchen um die Brüste dunkler als sonst oder bildete ich mir das nur ein? Bei meiner hellen, fast durchscheinenden Haut war das schwer zu sagen. Bis auf die Rötungen, die von der Dusche kamen und dem gläsernen Blick, der vom Schlafmangel herrührte, konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Gesicht und Arme waren mit unzähligen Sommersprossen besprenkelt. Die widerspenstigen Haare fielen noch in nassen Wellen über die Schultern. Der dichte Schopf war das Erste, was meine Mutter Karlina damals von mir gesehen hatte, als ich nach der Geburt dösend auf ihrem Bauch lag, der zwar leer, aber noch immer geschwollen war. Seit einiger Zeit entdeckte ich Teile von ihrem Körper an meinem. Und dann fragte ich mich, ob mit dem Mutterbauch und den Mutterhüften auch alles andere an mich überginge. Warum mich noch immer ein schlechtes Gewissen überkam, wenn ich an sie dachte, konnte ich mir nach allem, was passiert war, rein rational nicht erklären. Ich fuhr dem Knöchel entlang hinunter über die kräftige Hornhaut bis zu den Zehen.
Meine Füße waren ganz anders als ihre. Klein und zierlich. Manchmal stellte ich mir vor, wie sie den Boden mit dem Himmel verbinden. Dafür brauchte es weder Schwingen noch Flügel. Sondern einfach nur ein Paar Füße.
Im Wartezimmer der Frauenärztin reihten sich stabile Stühle mit ungewöhnlich großen Sitzflächen aneinander. Ich war froh darüber und wählte einen Platz möglichst weit von den anderen Wartenden entfernt. Als ich nach einer der Illustrierten griff, hätte ich beinahe den Krug mit Wasser umgeworfen, der zwischen Plastikbechern und Gesundheitsbroschüren stand. Obwohl ich Worte las, fühlte ich mich außerstande, sie zu etwas zusammenzufügen, das einen Sinn ergab. Die anderen Patientinnen blickten zwischendurch seufzend auf die Uhr oder klopften nervös mit den Füßen an das Stuhlbein, als würde die Zeit so schneller vergehen. Ich tat, als wäre ich in einen Artikel vertieft, bis mein Blick tatsächlich an einer Fotografie hängen blieb. Sie zeigte klares Wasser, in dem sich die uralten Gesichter von zerfurchten Felsen spiegelten.
Der größte unterirdische See der Welt befindet sich unter einer Wüste, bedeckt von unfruchtbarem Sand und liegt sechsundsechzig Meter tief unter der Erdoberfläche in einer Kammer. Sie ist so groß, dass drei Jumbojets in ihr Platz finden würden. Als Forscher sie entdeckten, sahen sie in eine Welt, unberührt vielleicht seit Jahrmillionen. Sie stiegen in Schutzanzüge und stülpten sich Helme über die Köpfe. Dann tauchten sie, so tief sie konnten. Und als sie nicht mehr tiefer konnten, gab es noch immer dunkles, undurchsichtiges Wasser unter ihnen. Ich wünschte mir in diesem Moment inständig, dass der Apparat ebenfalls nichts finden würde, nicht im See unter der Wüste, sondern in meinem Körper. Dass der zweite blassrosa Strich auf dem Plastikstäbchen ein Irrtum war.
Die Metallstützen pressten meine Beine weit auseinander. Nachdem die Frauenärztin den Muttermund untersucht hatte, schmierte sie Gel auf die steril verpackte Sonde. Der Stab drückte unangenehm auf meine Blase. Ich sah nicht auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes. Die Ärztin hatte mir davon abgeraten, wenn ich mir nicht sicher sei, ob ich das Kind auch wirklich bekommen wolle. Sie runzelte die Stirn. Drückte einen Knopf. Für einen winzigen Augenblick nur sah ich auf das trichterförmige Bild vor schwarzem Hintergrund. Ich konnte mir wenig vorstellen unter dem, was auf dem Monitor sichtbar wurde. Aber es bewegte sich, es pochte. Während ich mir mit einem Papiertuch die Reste des Gels wegwischte, dachte ich an das Pochen unter meiner Bauchdecke. Die Ärztin blickte in ihre Mappe und fragte nach dem Vater des Kindes. Als ich keine Antwort gab, reichte sie mir die Karte einer Beratungsstelle. Sie schob sich die Brille in die Haare, sah mir in die Augen und sagte, dass das einzig und allein meine Entscheidung sei. Dann kritzelte sie etwas auf ihren Rezeptblock, riss den Zettel ab und reichte ihn mir über den Tisch. Folsäure, sagte sie. Für alle Fälle.
Kurz darauf steuerte ich den Kiosk zuunterst im verwaschenen Hochhaus am Fluss an. Als ich gerade eine Zigarette ansteckte, fielen mir all die Kinderwagen auf, die durch die großen Glastüren in die Einkaufspassage gestoßen wurden. Fahrende Bettchen, vor denen mit Sternen, Tupfen oder Monden bedruckte Tücher hingen, um die schlafenden Säuglinge vor fremden Blicken zu schützen. Ich stellte mir vor, wie sie die kleinen Händchen im milchwarmen Schlaf von sich streckten und sich hinter den noch verquollenen Augenlidern ins Leben träumten.
Lass uns in die Berge fahren, sagte David einige Wochen später mit noch vom Schlaf verklebten Augen. Es war so heiß, dass sich unsere Körper von den Rändern her aufzulösen schienen. Wer konnte, war in die Höhe geflüchtet, wo Wasser aus dem Fels quoll, weg von der aufgeheizten Erdoberfläche in der Stadt, dorthin, wo es weniger versiegelten Asphalt gab, der die Sonnenstrahlen absorbierte und es in der Nacht keine Laken aus dem Gefrierfach brauchte, um ein bisschen schlafen zu können. Durch die geschlossenen Fensterläden fiel Licht, das von den Lamellen zerschnitten wurde. Mit den Fingerspitzen zeichnete ich die Streifen nach, die es auf Davids Körper warf. Über das hervorstehende Schlüsselbein, das ihm etwas Verletzliches verlieh und den Mondstein, der weiss irisierend an einem Bändchen um seinen Hals baumelte. Das er kaum je abnahm, seit er es von seiner Schwester Lena geschenkt bekommen hatte.
Ich stellte mir Lippen vor, die Buchstaben formen, die sich zu dem Satz verbinden: Ich bin schwanger. Doch da war nur dieses flaue Gefühl, das sich zuerst in der Magengegend ausgebreitet hatte und von dort ausgehend meinen ganzen Körper besiedelte. Viel Zeit blieb nicht. Interruptio. Abruptio. Abort. Nach dem Wochenende musste ich mich entscheiden. Eine Konfliktschwangerschaft hatten sie es in der Beratungsstelle des Krankenhauses genannt. Das Gesuch war bereits aufgesetzt, doch an mir nagten Zweifel. Ich lebte in einem der wohlhabendsten Länder der Erde. Viele bekamen mit achtundzwanzig ein Kind. Nicht unbedingt in meinem Freundeskreis, wo man in dem Alter zwischen Techno-Festivals in temporären Wüsten-Städten, schamanischen Ayahuasca-Ritualen in Schwitzhütten und Frischsaft-Detox-Retreats auf Koh Phangan hin und her jettete und gleichzeitig möglichst noch mit einem grünen Start-up die Welt rettete, aber an anderen Orten schon. Eigentlich gab es nur einen richtigen Grund: Das Kind war nicht von David.
Beim Aufstehen wickelte ich mich rasch in ein Tuch, das ich schon am Vorabend wie zufällig neben dem Bett hatte liegen lassen. Ich befürchtete, David könnten die vollen Brüste auffallen. Oder die Wölbung am Bauch, die weiter wuchs, obwohl ich täglich Mahlzeiten ausfallen ließ. Sollte er denken, ich würde mich nackt vor ihm schämen. Dann fischte ich den Rucksack aus dem obersten Fach meines Kleiderschranks und überlegte, was alles mit sollte. Früher liebte ich es, allein durch den Wald zu ziehen. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, eine heilige Halle zu betreten. Es brauchte dafür keinen Sandstein, kein geweihtes Wasser und auch keine Statuetten. Sondern einfach nur hohe Stämme, die sich gerade aneinanderreihen. Weit oben neigten sich die Kronen der Bäume einander zu und die Blätter bildeten ein natürliches Gewölbe, unter dem ich mich aufgehoben fühlte. Aber in den letzten Jahren war ich kaum mehr dazu gekommen. Während der paar Semester, in denen ich Biologie studiert hatte, beschäftigte ich mich zwar durchaus mit verschiedenen Ökosystemen,