Regenschatten. Seraina Kobler
noch von hinten, wie er mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen davonmarschierte. Dann schob sich ein älteres Pärchen mit entschlossenem Gang, der vom Klicken ihrer Wanderstöcke wurde, in die Lücke, die sich zwischen uns aufgetan hatte. Sie trugen beide die gleichen karierten Hemden, Sonnenhüte mit breiter Krempe und verspiegelte Brillen. Ich schämte mich, laut nach David zu rufen. Also biss ich die Zähne zusammen. Doch mit dem größer werdenden Abstand, wuchs die Wut in meinem Bauch.
Der Wind blies Wolken über die schneebedeckten Gipfel. Die Felsen fielen steil ab, nur an einigen Stellen hatten sich ein paar Blümchen festgekrallt. Viel lieber wäre ich dort unten im Gras gelegen, wo der Berg in geschwungene Hügel überging, in wachsende Abschnitte mit berggrünen Wiesen, voll von Arnikasprenkeln. Meine Blase drückte schon wieder. Mach doch, was du willst, sagte ich so leise, dass nur ich es hören konnte. Dann sank ich auf den glatten Stein am Wegrand. Während ich die Augen schloss, bemerkte ich, wie meine Hände den Bauch bedeckten.
David saß mit baumelnden Beinen auf einem Felsen und blickte hinunter auf den Karsee, der die Farbe von Grünspan hatte. Warum hast du nicht gewartet? Im Wissen darum, dass wir hier oben aufeinander angewiesen waren, bemühte ich mich um Haltung. Ich dachte, du willst lieber allein laufen, sagte er und strich mir so ganz nonchalant über den Arm. Ich schüttelte seine Hand weg, suchte mir einen eigenen Felsen und kramte ein paar Nüsse hervor. Ich spürte, wie die Energie langsam wieder zurückkam. Der Plastikflamingo trieb auf dem Wasser, das nicht mehr als ein paar Grad kalt war. Die Besitzer mussten runtergerutscht sein, oder vielleicht war das Gummiboot auch nur vom Wind fortgeweht worden, so dass sie es zurückgelassen hatten. Mich fröstelte ein wenig und ich zog die Jacke an, die einzupacken in der Hitze der Stadt noch eine irrwitzige Handlung dargestellt hatte. Dann goss ich Tee in den Deckel der Thermoskanne, pustete und sah mich erneut um. Etwas weiter links musste sich der Gletscher befinden. Ich hatte mir vorgestellt, wie die spitz zusammenlaufende Zunge daliegt und das Schmelzwasser in das Becken bluten würde, das die früheren Eismassen gebildet hatten. Ein überhitzter Körper, der im Sterben lag. Doch das letzte Toteis war längst unter Schutt und Geröll begraben, kaum mehr auszumachen zwischen den verschiedenen Grautönen. Und dann war da nur dieser verlorene Flamingo im Karsee, der an Palmen, Meer und tropische Früchte erinnerte.
Mittags breitete ich im Schatten eines Felsens das bunt bedruckte Tuch auf den Boden aus, das ich extra für diesen Moment eingepackt hatte. Die Zeit hing hier oben, wie ein Greifvogel am Himmel, der mit weit ausgebreiteten Schwingen von der aufsteigenden Luft getragen wird. Wir aßen kalte Kartoffeln und den Alpkäse, den wir im Ausflugsrestaurant gekauft hatten. Dann saßen wir da, in der Stille. Und es war diese Art von Stille, die manchmal zu den Worten führt, von denen man gar nicht wusste, dass man sie sagen will. Und während ein Teil von mir noch überlegte, ob das jetzt hier der richtige Ort und die richtige Zeit war, um David von der Schwangerschaft zu erzählen, vernahm ich ein leises Rumpeln, das rasch zu einem dumpfen Grollen anschwoll. David sprang auf. Er zeigte auf die gegenüberliegende Bergflanke. Dort hatten sich einige Gesteinsbrocken gelöst. Sie flogen durch die Luft, unterbrochen von kurzen heftigen Aufschlägen, bei denen sie weitere Gesteinsmassen mit sich rissen. Erst Hunderte von Metern weiter unten, wo es wieder flacher wurde, blieben die Brocken in einer Schutthalde liegen. Das Schmelzwasser musste in den Felsen eingedrungen sein, dort, wo nun eine graue Kerbe klaffte. Ich zitterte vor Aufregung. Es beförderte Wärme in den Untergrund, dorthin, wo es eigentlich nie tauen dürfte. Der Berg hatte zu bröckeln begonnen.
Auch den Rest des Aufstiegs ging David voran, doch achtete er jetzt darauf, in meiner Nähe zu bleiben. Als wir bei der Hütte ankamen, ging die Sonne gerade hinter den Gipfeln unter. Rasch aufziehende Wolken legten sich über das letzte Licht. Endlich konnte die im Fels gestaute Hitze in den Himmel entweichen. Nachdem wir unsere Schlafsäcke auf den Stockbetten ausgerollt hatten, traten wir in die Gaststube. Die mit Holz verkleideten Buchten waren gut besetzt, aus den Lautsprechern dudelte Musik und der penetrante Duft von süßlichem Kirschwasser lag in der Luft. Wir quetschten uns in eine freie Ecke, nebenan saß das Pärchen vom Vormittag. Sie blickten von der Vorspeisenplatte auf, die sie sich teilten und grüßten uns, dabei wurde der helle Abdruck um ihre Augen sichtbar, den die Sonnenbrillen hinterlassen hatten. Während ich die Speisekarte studierte, fragte ich mich, ob Aussehen ansteckend sein kann. Und wie David und ich wohl in dreißig Jahren aussehen würden. Vielleicht hätten sich unsere Gesichtszüge ebenfalls angeglichen. Weil wir uns gemeinsam gefreut und gesorgt und dabei unsere mimische Muskulatur auf dieselbe Art und Weise trainiert hätten.
Vor David stand bereits ein großes Bier. Ich tat mich noch schwer mit der Auswahl, wie so oft in letzter Zeit. Beim Bäcker konnte ich eine geschlagene Viertelstunde vor der Auslage stehen und darüber nachdenken, ob ich nun eher ein Walnussbrot, die Kürbis-Quinoa-Brötchen oder doch lieber einen halben Brotlaib ohne Hefe aus dem Gärkörbchen nehmen sollte. Während ich dann die gerösteten Kürbiskerne betrachtete, fiel mir ein, dass man ja Quinoa nicht mehr kaufen soll, weil die Bauern in den Anden sich wegen der steigenden Nachfrage von den traditionellen Anbaumethoden abgewendet hatten und das empfindliche Ökosystem des kargen Hochlandes gefährdeten. Das Walnussbrot sah ebenfalls sehr verführerisch aus, doch dann entdeckte ich, dass es Weizenschrot enthielt, was ebenfalls problematisch war. Zwar nicht für die südamerikanische Gebirgskette, aber für meinen Bauch, der sich sonst wütend aufblähte. Blieb also noch das Sauerteigbrot im Körbchen. Und während ich dann schon fast meine Bestellung aufgab, entdeckte ich eine schlanke wohlgeformte Stange Baguette im Regal. Und mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an ihren kräftigen Geschmack dachte, der von dem hohen Anteil an Kruste im Vergleich zur Krume herrührte.
Es war nicht so, dass ich grundsätzlich nicht in der Lage gewesen wäre, Entscheidungen zu treffen. Um mir selbst den Alltag zu erleichtern, hatte ich irgendwann begonnen, die Anzahl der täglichen Optionen zu verkleinern. Also kaufte ich das Sauerteigbrot. Immer gleich. Doch hier auf dem Berg und in Davids Gesellschaft, funktionierte das nicht mehr. Eigentlich aß ich schon länger kein Fleisch mehr. Doch ich entschied, mich einfach treiben zu lassen und bestellte das Murmeltierragout, dazu Gemüse und Weißbrot in Scheiben. David hatte mir von dem Ragout erzählt, mit dem er viele Erinnerungen verband, weil er ebenfalls in den Bergen aufgewachsen war. Wenig später stach ich mit der Gabel in eines der dunklen Fleischstücke auf meinem Teller und schob die Gabel vorsichtig in den Mund. Ich war erstaunt, wie zart es schmeckte, und wie gewöhnlich. Vielleicht wie Hirschpfeffer. Vielleicht auch einfach nur nach Nelken, Lorbeer und all dem, in was es sonst noch im letzten Herbst eingelegt worden war.
Der Abstieg am nächsten Tag ging erstaunlich leicht. Nach der Nacht unter dem offenen Sternenzelt war ich so müde gewesen, dass ich sofort in einen traumlosen Schlaf gefallen war. Wieder kletterten wir über die Geröllfelder und gingen entlang steiler Wände, die sich bereits mit Wärme aufgeladen hatten. Als wir nach dem Mittag die Baumgrenze passierten, hatte ich das Gefühl, nur noch aus einem einzigen gleichmäßigen Rhythmus zu bestehen, regelmäßige tiefe Atemzüge wechselten sich mit trittsicheren Schritten ab. An einem Hang am Waldrand waren wir dann auf das verlassene Steinhaus gestoßen. Schwungvoll drückte David die grünen Holzläden auf und winkte mich her. An der Außenwand des Gebäudes stapelte sich Brennholz, zwischen den Ritzen hatten Spinnen ihre Netze geflochten, in denen Mücken hingen. An einigen Stellen bröckelte die Mauer, doch die verwitterte Holztreppe, die auf einen schmalen Balkon führte, schien stabil zu sein. Also folgte ich ihm. Auf dem Herd stand noch eine Pfanne. Die Wände in der Stube waren mit rohem Holz getäfelt, vielleicht Arve. Es roch, wie Räume riechen, wenn sie lange Zeit von niemandem betreten worden sind. Durch das Fenster, das David geöffnet hatte, fiel Licht und ich sah den aufgewirbelten Staubkörnern zu.
David fragte, ob ich tauschen wollte. Kein Luxus, gewiss. Aber in seiner Schlichtheit ein klares Leben. Ich stellte mir vor, wie man morgens nach dem Aufstehen hinausrufen und nichts anders als sein eigenes Echo hören würde. Vielleicht könnte David hitzebeständige Bäume in den Wäldern pflanzen. Ich sagte ihm, dass ich mir das sehr wohl vorstellen könnte. Berge reihten sich aneinander, soweit der Blick reichte. Es sah von hier oben aus, als wäre die Zivilisation, die ganze restliche Welt, zwischen ihre Falten gefallen und dort verschwunden.
Früher einmal, sagte ich, hatte ich diese Idee von einem eigenen Haus gehabt. Ich weiß nicht mehr genau, wie es aussah. Aber das war auch gar nicht wichtig. Es ging mehr um das Gefühl, das man hatte, wenn man sich in ihm aufhielt.