RESET. Clemens Weis

RESET - Clemens Weis


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anderes als das nächste Training. Zehn Trainingseinheiten in der Woche waren die Regel, in intensiven Vorbereitungszeiten oftmals mehr, selten – zwecks Erholung – auch weniger. Das erste Training früh am Morgen, ich kroch um 5 Uhr aus dem Bett, um 6 Uhr sprang ich ins einsame Wasser des Wiener Stadthallenbades. Meist zwei Stunden lang. Das frühe Aufstehen kostete mich mehr Überwindung, als mir lieb war. Dennoch ließ ich niemals ein Training aus. Um 8 Uhr stieg ich wieder aus dem Wasser und freute mich auf ein ausgiebiges Frühstück. Am späten Nachmittag schuftete ich eine Stunde in der Kraftkammer und wiederum zwei Stunden im Wasser, um ausgelaugt, erschöpft, aber zufrieden um 20.30 Uhr wieder in meinem kleinen Zimmer im 15. Wiener Gemeindebezirk zur Ruhe zu kommen. Mein Zimmer lag in einem katholischen Wohnheim, das von Schulbrüdern geleitet wurde und mir von Anfang an gespenstisch vorkam. Allein in meinem Zimmer sitzend, schaufelte ich mir abends so viele Kalorien, wie ich nur aufnehmen konnte, hinein. An den Abenden lag ich erledigt vor dem Fernseher in einem dauerhaft menschenleeren Gemeinschaftsraum und ließ mich von dem immer gleichen Fernsehangebot berieseln. Außer den etwas eigenartigen Gestalten der Schulbrüder begegnete ich niemandem in diesem seelenleeren Haus in der Nähe des Westbahnhofs. Es roch nach Einsamkeit. Ich sprach kein Wort an diesen Abenden. Vordergründig kümmerte es mich nicht weiter. Ich war mit meinem Sport beschäftigt, das allein füllte meinen Alltag aus.

      Ich kochte selbst, aß allein, hatte einen eintönigen Tagesrhythmus, ging früh schlafen, um in den Morgenstunden halb verschlafen wieder zum Training zu gehen – über den Westbahnhof in die Stadthalle. Das Trainingsbecken befand sich im Keller. Es war dunkel, die Atmosphäre feuchtschwül und anonym. Ich empfand meine Trainingsstätte als bedrückend.

      Alleingelassen mit meinen Träumen in einer fremden Stadt.

      Um 6 Uhr morgens sprechen Menschen nicht – sie wachen auf. Sie ordnen ihre Gedanken und stellen sich auf den anstehenden Tag ein. Ich sprang ins Wasser. Man sah seine Trainingskollegen, grüßte sich, sprach aber nicht miteinander. Nach dem Training hetzten alle Sportler davon. Das Frühstück, die Arbeit, das Studium, der Beruf warteten. Zeit für Kommunikation blieb keine. Ich stand als Einziger in der Dusche, genoss die Wärme des Wassers auf meinen müden Schultern und blieb oft so lange, bis die Haut runzelig und aufgeweicht war. Ich liebte es. Das Duschen jedoch spülte die Einsamkeit auch nicht weg. Nach dem Frühstück fuhr ich zur Universität, war aber zu müde, um den Professoren zuzuhören. Die Vorlesungen in Politik und Geschichte waren anonym, sie konnten die Trägheit meines Geistes nicht vertreiben. Nach einigen Wochen scheiterte mein Versuch, sowohl den Körper als auch meinen Geist gleichermaßen zu fordern. Der Schlaf mit vollem Magen nach einem ausgiebigen Frühstück war weitaus verlockender als das Studium. Ich fuhr fortan nur mehr zum Mittagessen zur Universität, besuchte die Mensa, mied jedoch alle Hörsäle. Die Zeit bis zum Training am frühen Abend vertrieb ich mir mit Musikhören und dem Lesen von Fachbüchern und Journalen über Schwimmsport. Ich wollte meine sportliche Leistung verbessern. Das war der Grund für meinen Aufenthalt in Wien. Der Johnny Walker, den mir Herwig eines Morgens nach einer feuchtfröhlichen gemeinsamen Feier geschenkt hatte, stand unberührt, einsam und staubig auf meinem Fensterbrett. Der Whisky blickte traurig aus dem Fenster. Er hatte nichts zu tun.

      Nie nahm ich mir einen Tag trainingsfrei, auch den Sonntag nutzte ich zur aktiven Regeneration. Gymnastik, Entspannung und oftmals ein ruhiger Lauf sollten meiner besseren Erholung dienen. Das Wasser war mein Element, die Schwimmhalle mein Zuhause – seit meinem achten Lebensjahr. Ich trainierte mehrmals täglich, um mich sportlich zu entwickeln, um mir meinen Kindheitstraum zu erfüllen:

      Ich wollte zu den Olympischen Spielen.

      Dennoch ging mir etwas ab. Ich nahm es nicht wahr, spürte nur sehr oft ein dumpfes Gefühl der Leere während meines monotonen Alltags in mir. Ich vermisste die spielerische Leichtigkeit meiner Trainingsjahre mit Herwig, das Lachen während unserer Wochenenden, den kindlichen Ehrgeiz in der intensiven, aber doch immer freundschaftlichen Austragung unserer Wettkämpfe. Mir fehlte mein Partner, der mich daran erinnerte, dass es jenseits des Leistens auch noch etwas anderes gab. Ich war in Wien, Herwig in Salzburg. Er fehlte mir.

      Meine Leistungen verbesserten sich vor allem im Training, die Wettkampfergebnisse jedoch entsprachen nicht meinen Erwartungen. Nachdem ich ein halbes Jahr lang fünf bis sechs Stunden täglich trainiert hatte, bekam ich zudem Überlastungserscheinungen im Schultergürtel. Zur ständigen körperlichen Müdigkeit kamen nun auch Schmerzen und der Frust, meinen Trainingsplan abändern zu müssen. Eine Pause machen zu müssen. Training, der monotone Tagesablauf, Einsamkeit und der sture Wille, den eigenen ehrgeizigen Vorstellungen nachzulaufen, kulminierten in einem umfassenden Übertraining, dem ich mit noch verbissenerer Arbeit an meinem Körper begegnete. Obwohl meine geschwommenen Zeiten in den nächsten Monaten die besten meiner Laufbahn waren, waren sie dennoch weit davon entfernt, einen Profisportler aus mir zu machen. Ich war nicht nur enttäuscht, ich empfand mich als Verlierer. Als Versager. Ich war jung, ehrgeizig, jedoch hilflos und nun auch noch frustriert. Niemand stand mir zur Seite, hatte einen guten Rat oder einfach nur ein offenes Ohr.

      Ich begann, mir auf die Zunge zu beißen. Zu Beginn nur selten, ab dem Frühjahr 1994 immer häufiger, immer auf dieselbe Stelle. Anfangs ignorierte ich die Wunde an der linken hinteren Zungenseite. Nach Wochen der immer gleichen Leiden fühlte sich der Schmerz zunehmend leichter an, ich gewöhnte mich an ihn. Ich biss weiterhin auf die größer werdende Wunde, die sich nun auch langsam von der Mundoberfläche absonderte. Sie erhob sich als weißes Geschwür, das sich jedoch nur bei genauem Hinsehen als abnormal darstellte. Also schaute ich nicht genauer hin. Ich verbiss mich in der Idee, mir selbst zu beweisen, dass sich die investierte Zeit und meine harte Arbeit auszahlen würden, und trainierte einfach weiter. Die Wettkampfergebnisse am Ende meines Schwimmjahres blieben bescheiden:

      Mein Projekt war gescheitert, mein Wien-Aufenthalt eine Niederlage.

      Ich kehrte nach Salzburg zurück mit der Absicht, nun ernsthaft zu studieren. Sportwissenschaft und Politikwissenschaft. Das rieten mir meine Vernunft und meine Eltern. In mir drinnen jedoch brodelte der gescheiterte Versuch, ein professioneller Sportler zu werden. Aufgeben war nicht meine Sache, war es noch nie gewesen. Auch wenn ich vorgab, nun Student zu sein, blieb ich im Training, arbeitete gemeinsam mit dem damaligen Salzburger Landestrainer weiter an der Verbesserung meiner schwimmspezifischen Fähigkeiten. Just for fun lautete meine Rechtfertigung nach außen, um weiterhin das umfangreiche Schwimmtraining zu absolvieren, in mir drinnen wollte ich aber nach wie vor Profi werden. Die Ergebnisse sprachen eine andere Sprache. Mein Körper verarbeitete all die Belastungen des Hochleistungssports nicht, er war der Summe der Reize nicht gewachsen, litt an dem Druck, den ich mir selbst aufbaute, das gesamte Wien-Projekt hatte Spuren hinterlassen. Doch ich merkte es zu spät.

      Mein Geschwür auf der linken Zungenseite wuchs, es schmerzte zwar kaum, behinderte mich aber zunehmend beim Beißen und Kauen. Zu lange, gute sechs Monate lang, wucherte es bereits in meinem Mund. Es wurde Zeit, es von Experten überprüfen zu lassen. Am 5. Dezember 1994 ging ich deshalb zum ersten Mal in die Ambulanz der Mund-, Gesichts- und Kieferchirurgie des Landeskrankenhauses Salzburg. Die Diagnose konnte ich nicht fassen: ein bösartiger Tumor auf der Zunge! Ein Plattenepithelkarzinom.

      Ich war 19 Jahre alt, hatte noch nie geraucht, mein Leben lang Sport betrieben – und hatte einen Krebs, der üblicherweise Kettenraucher im hohen Alter befällt. Die Ärzte grübelten ungläubig, konnten keine Antworten geben.

      Der Krebs trat in mein Leben.

      Einfach so.

      Ich war mit der Verarbeitung dieser Diagnose überfordert, konnte die Tragweite nicht einschätzen. Was tun? Wie sollte ich mich verhalten? Hatte ich Fehler gemacht? Warum? Schnell realisierte ich, dass das Suchen nach einem Grund nichts brachte – es gab keine Erklärung. Die Beschäftigung mit dem Krebs empfand ich als ausschließlich negativ. Also konzentrierte ich mich auf das Positive. Der Tumor wurde sofort operativ entfernt, sie schnitten mir das Geschwür aus meiner linken Zungenhälfte. Ich blieb nur eine Woche im Krankenhaus. Die Wundschmerzen vergingen rasch, zu Weihnachten 1994 war der Krebs Geschichte. Danach beschloss ich, meinen Leistungssport endgültig zu beenden. Musste ihn beenden – auf Anraten meiner Ärzte und Eltern.

      Zum ersten Mal stellte mich mein Körper vor eine vollendete Tatsache: kein Leistungssport.


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