RESET. Clemens Weis

RESET - Clemens Weis


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ich nun einen Grund für mein Scheitern hatte. Ich hatte nicht versagt. Mein Scheitern hatte einem externen Grund, nicht ich war schuld an meiner Niederlage: Ich hatte Krebs. Kaum löste sich mein Lebenswunsch, Schwimmprofi zu werden, in Luft auf, spürte ich eine öffnende Erleichterung.

      Befreiung.

      Ich bekam wieder Luft.

      Ich spürte, wie der Krebs mich vom Druck des Leistens befreit hatte. Montag bis Donnerstag war ich nun der zielstrebige, gewissenhafte Student, ab Freitag jedoch ein junger Lebemann, der lachte, liebte und genoss. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Zeit. Viel Zeit! Zeit für meine Freunde, für das Studium, Zeit für das Nachtleben. Meine Krebserkrankung beendete im Alter von 19 Jahren meine aktive Schwimmkarriere und meinen Traum vom Profisport, nicht jedoch meinen Drang nach Einzigartigkeit, meine Lust am Leben und Ausprobieren.

      Ich traf Herwig wieder öfter, jedoch nicht mehr in der Schwimmhalle. Wir hatten beide den aktiven Wettkampfsport beendet, spielten wieder Fußball und genossen an den gemeinsamen Wochenenden oft mehr Bier, als uns guttat. Ich war endlich wieder zu Hause. Ich lebte unbekümmert in den Tag hinein, trieb Sport nur nach Lust und Laune und gab mein Geld am Wochenende großzügig in Nachtlokalen aus. Ohne Verpflichtungen auf unseren Schultern, frei von allen Trainingszwängen sangen wir gemeinsam oft bis zum Sonnenaufgang „Those were the best days in my life“ und fühlten uns dabei unsterblich. Ich konnte schlafen, so lange ich wollte, essen, was mir schmeckte, und studieren, wie es mir passte. Jung, unbekümmert und ohne Verantwortung genoss ich die neu gewonnene Freiheit.

      Nach meiner Tumoroperation traten weiterhin Gewebeveränderungen auf der Zunge auf, sogenannte Leukoplakien – eine Vorstufe von bösartigen Tumoren, immer wieder, ein ganzes Jahr lang, bis zum Jänner 1996. Die Ärzte waren ratlos, ich selbst bei den unangenehmen Kontrollterminen verunsichert. Ich schwankte zwischen der Leichtigkeit des Studentenlebens und der ständigen Angst vor meiner Krankheit. Auf Zeiten der Euphorie und der Lebenslust folgten Phasen der Unsicherheit, der Schmerzen und der Hilflosigkeit, die durch fünf weitere Operationen zur Entfernung der Leukoplakien ausgelöst wurden. Die Leukoplakien traten einfach auf. Aus dem Nichts. Niemand fand einen Zusammenhang zwischen den weißlichen Veränderungen und meinem Immunsystem. Also schnitten die Ärzte sie einfach aus der Zunge. Außerdem versuchten sie, die Leukoplakien zu veröden – das Unerwünschte einfach wegzubrennen. Aus dem Blick, aus dem Sinn. Die Ärzte taten genau das, was meiner eigenen Haltung entsprach. Auf die Frage nach dem Warum gab mir niemand eine Antwort.

      Es war einfach so.

      Punkt.

      Die Laserbehandlungen, die diese weißlichen Veränderungen an der Zungenoberfläche wegbrannten, waren extrem schmerzhaft, doch mein Körper funktionierte gut, er regenerierte unglaublich schnell, die Erholung von den traumatischen Eingriffen dauerte nie lange, eine Woche maximal. Doch die ständigen Eingriffe hinterließen Spuren, sowohl in der Mundschleimhaut als auch in meinem Kopf.

      Meine junge Seele war überfordert.

      Und allein.

      Unfähig, die ständigen Rückschläge richtig einzuschätzen, in laufender Sorge um meine Gesundheit, versuchte ich, mich noch mehr auf das Positive in meinem Leben zu konzentrieren. Ich begann, wieder mehr Sport zu treiben. Kein Schwimmtraining, aber die tägliche Einheit Krafttraining, Lauftraining oder Radtraining musste es immer sein. Das Training gab mir ein Gefühl von Stärke. Ich wurde kräftiger, schneller zu Fuß und auch auf dem Rad, widerstandsfähiger in allen Spielsportarten und empfand mich als belastungsresistenter. Meine körperliche Stärke half mir, die Gefahr einer erneuten Krebserkrankung zu vergessen. Zumindest bis zur nächsten Untersuchung.

      Nach meiner sechsten Zungenoperation traf ich eine Entscheidung. Ich konnte nicht alle zwei Monate eine Operation ertragen, auch wenn es jedes Mal nur ein kleiner Eingriff war. Das Gewebe veränderte sich ständig, allein durch die neu entstehenden Narben. Weder die Ärzte noch ich selbst wussten mit Gewissheit, ob all die weißlichen Veränderungen auf meiner Zunge eine Gefahr darstellten.

      Niemand kannte mein Immunsystem.

      Ich auch nicht.

      Da es keinen offensichtlichen Grund für mein Plattenepithelkarzinom gegeben hatte, auch keinen für die ständig auftretenden Leukoplakien, entschieden die Ärzte auf mein Drängen hin, die Veränderungen zu beobachten, anstatt sie zu operieren. Eine gute Entscheidung. Die Leukoplakien traten auch weiterhin auf, veränderten sich ständig in Größe und Form, meistens verschwanden sie wieder, um dann bald an anderer Stelle aufzutauchen. Der Blick in meinen Mund wurde zum Ritual meiner Morgenhygiene. Ebenso am Abend. Es gab unzählige Momente, in denen mir die Angst Streiche spielte: Ich begann zu schwitzen, der Blutdruck und mein Puls stiegen, ich lief alle fünf Minuten zum Spiegel, um meinen Mund zu kontrollieren. Ich schwankte zwischen Panik und Vernunft. Diese Anfälle dauerten oft mehrere Tage. Die Krebserkrankung, abgelegt in einer verschlossenen Gruselkammer meines Kopfes, kroch immer wieder in mein Bewusstsein. Es bedurfte vieler Überzeugung und noch mehr Willenskraft, meiner Angstschübe Herr zu werden.

      Diese Situationen forderten mich.

      Aber sie stärkten mich auch.

      Langsam und beständig schulte ich meine Vernunft und meinen Willen. Ich musste die Panik besiegen. Einen Weg finden, um mit der Bedrohung umzugehen. Darüber zu sprechen, war für mich keine Lösung. Ich schenkte meiner Krankheit, die ich nicht als solche akzeptierte, keine Aufmerksamkeit mehr. Ich hatte immer das Gefühl: Je weniger ich dem Krebs und seinen Bedrohungen Platz biete, desto besser kann ich mich auf meine Stärken konzentrieren. Ich versuchte, den Krebs zu minimalisieren. Er war für mich ein lokales Problem, er hatte keinen Einfluss auf den Rest meines Körpers. Ich wollte ihm sprichwörtlich keinen Raum geben. Monat für Monat wurde ich stärker. Körperlich und seelisch. Meine Gruselkammer öffnete sich immer seltener, sie war da, doch ich nahm den Inhalt nicht mehr heraus. Ab und zu dachte ich noch an die Operationen, an die lähmende Unsicherheit, doch selbst die Kontrolluntersuchungen, die ich alle vier Monate über mich ergehen lassen musste, wurden zur Routine. Sie stressten mich nun weniger als unmittelbar nach meiner Krebsdiagnose.

      Ich vermied das Wort Krebs bewusst. Nie nannte ich das Krebsgeschwür Krebs. Niemand konnte mir erklären, warum mich der Krebs heimgesucht hatte, ich hatte keine Verbindungen zu meiner Krankheit. Der Krebs war auch nicht durchgängig präsent. Er kam aus dem Nichts, ich musste mich eine Zeit lang mit ihm beschäftigen, so lange, bis ich ihn wieder in die Kammer schließen konnte. Er war kein dauerhafter Begleiter, vielmehr ein lästiger Zeitgenosse, der mir immer wieder auf mein Gemüt schlug, ohne durchgehend Schaden anzurichten.

      Nach fünf Jahren – das ist der Zeitraum, nach dem Experten den Krebs als besiegt betrachten – ging ich nicht mehr zur Kontrolluntersuchung. Aufforderungen seitens des Landeskrankenhauses, weiterhin in ärztlicher Betreuung zu bleiben, ignorierte ich. Die Beschäftigung mit diesem Thema tat mir nicht gut. Ich hatte keinen Rückfall, die oberflächlichen Veränderungen auf meiner Zunge nahm ich zur Kenntnis, bevor ich sie schlussendlich ebenfalls ignorierte. Ich fühlte mich körperlich und seelisch so stark wie noch nie; ich beschloss, den Krebs endgültig aus meinem Leben zu streichen. Ich war 23 Jahre jung, rauchte nicht, war sportlich, hatte keine Risikofaktoren und ernährte mich ausgewogen.

      Keine Kontrollen mehr, kein Arzt, kein Krebs – so einfach war das Leben.

      Fortan genoss ich meine Studienzeit in vollen Zügen.

      Ich arbeitete nun auch als Schwimmtrainer und stillte mit dieser Tätigkeit meinen immer noch brennenden Ehrgeiz. Dem Sport blieb ich somit treu, nun auf der anderen Seite des Beckens. Meist basierend auf Erfahrungen aus dem Studium, der eigenen Schwimmkarriere, oft auch durch simples Ausprobieren versuchte ich, meinen eigenen Stil als Trainer zu finden. Ich beging in meinen ersten Trainerjahren viele Fehler, korrigierte jedoch meist alle. Die Erfahrungen, die ich daraus gewinnen und mitnehmen konnte, waren Gold wert. Ich zog mein Wissen aus Eigenerfahrung. Ich bekam eine zweite Chance. Ich arbeitete daran, meine Ziele durch andere wahr werden zu lassen. Ich war derselbe junge Mensch mit denselben ehrgeizigen Zielen, den gleichen Antrieben. Als Athlet hatte ich meine Grenzen erkennen müssen, als Trainer schienen mir alle Möglichkeiten offen. Ich glaubte


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