RESET. Clemens Weis

RESET - Clemens Weis


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mit Lukas erleben durfte, war Hannah für mich mein Rückzugsgebiet vom immer umfangreicher werdenden Berufsalltag. Doch Lukas hatte ich erst im Alter von drei Jahren kennengelernt, mir fehlten seine ersten Lebensjahre. Das holte ich nun mit Hannah nach und genoss gleichzeitig die immer größer werdende Energie des nun pubertierenden Lukas. Er wurde mit jedem Monat geschickter, kräftiger und vielfältiger, wir duellierten uns auf gleicher Höhe beim Tischtennis, spielten Tischfußball und Darts und kämpften wie zwei Gleichaltrige um den Gesamtsieg bei unserem Familientriathlon. Wenn ich zu müde war, um seine Energie zu stillen, ging er in den Keller und spielte oft eine Stunde lang auf seinen Drums, der Rhythmus war im ganzen Haus zu hören, doch anstatt dass es mich nervte, beruhigte es mich, in dem Wissen, dass Lukas seine Energie und gleichzeitig sein musisches Talent ausleben und weiterentwickeln konnte. Ich konnte abschalten – durch die Schläge seiner Drumsticks.

      Ich stand meist früher auf als meine Familie. Roswitha, Lukas und Hannah weckte ich, wenn ich zur Schwimmhalle aufbrach, da wir um 7 Uhr unser erstes Training absolvierten. Um 11 Uhr war ich wieder zu Hause und nutzte die Zeit, in der Roswitha und Lukas in der Schule und Hannah im Kindergarten waren, um die Büroarbeit für den Verein zu erledigen und mich für meine Lehraufträge vorzubereiten. Um 12.30 Uhr verließ ich das Haus wieder, um für die Universität und anschließend für den Verein wieder in der Schwimmhalle zu arbeiten. Oft kam ich erst gegen 20 Uhr nach Hause und war so hungrig, dass ich eine Stunde lang völlig überhastet ein Sandwich nach dem anderen aß, um meinen Energiebedarf zu decken.

      Hinzu kam, dass ich in der Nacht oft aus Sorge um mein berufliches Fortbestehen nicht entspannt schlafen konnte, der Kampf um Fördergelder und Wasserfläche ruhte nie, war aber eine unbedingte Voraussetzung zur Umsetzung meiner ehrgeizigen Ziele. Das komplexe System aus ständiger streitbedingter Existenzbedrohung und der Notwendigkeit einer raschen Weiterentwicklung gönnte mir keine Pause. Ich war weiter unter Dauerstress, übertauchte den inneren Druck mit ausgedehnten Sportaktivitäten. Sie sollten als Pausen dienen, waren aber vor allem körperliche Belastung. Wenn in einer Mittagspause zwischen meinen Vormittags- und Nachmittagstrainings Zeit blieb, füllte ich diese mit einer Ausdauereinheit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, rechnete mir die verbleibende Zeit bis zum nächsten Termin aus, hetzte in den Keller, zog mich hastig um, um in weniger als fünf Minuten fix und fertig auf meinem Rennrad zu sitzen. Oft telefonierte ich freihändig fahrend die ersten Minuten auf dem Rad, um einen Rückruf zu erledigen. Mein Herz pochte schon vor dem ersten Anstieg, jedoch nicht wegen der körperlichen Belastung, sondern weil es den anfallenden Stress bewältigen musste. Die Wettkampfmoral blieb in meinem persönlichen sportlichen Training immer präsent. Nicht als klassischer Zweikampf, sondern als Spiel gegen mich selbst. Es reizte mich, die Wattzahlen an meinem Fahrradergometer nach oben zu drehen, den Gaisberg noch schneller mit dem Rad zu erklimmen als bei meiner bisherigen Bestleistung.

       Immer wollte ich ausprobieren, wie mein Körper auf noch höhere Intensität reagierte: Wann war zu viel zu viel?

      Ein gefährliches Spiel.

      Ich hatte nie gelernt, dass Pausen der Schlüssel zu dauerhaftem Erfolg sind. Ich arbeitete jahrelang auf hoher Drehzahl und mit enormer Intensität, sprang von Termin zu Termin und übersah alle Warnsignale meines Körpers. Er verkraftete zwar die langen Belastungsphasen, vergaß sie aber nicht. Im Glauben an meine eigene Unfehlbarkeit, in der falschen Annahme, durch vermehrten Einsatz auch vermehrten Erfolg zu generieren, ohne dabei meine eigenen Grenzen zu achten, nahm ich nicht wahr, dass dieser Rhythmus über meiner persönlichen Verträglichkeit lag. Schritt für Schritt verlor ich die Kontrolle. Ich saß in der Schwimmhalle, stoppte die Sportler, telefonierte gleichzeitig, um keine Zeit zu verlieren, versuchte zwischendurch, den Sportlern meine Anweisungen verständlich zu machen. Ich vermisste das intensive Beobachten, das ich in meiner Kindheit betrieben hatte, die träumerische Hingabe an den Sport und die erfüllende Beschäftigung mit dem Geschehen. Ich achtete nicht mehr auf meine Umgebung. Ich reflektierte nicht, setzte keine Prioritäten und erledigte nur mehr meinen Alltag. Ich gönnte es mir nicht, die vielen neuen Erfahrungen, die auf mich hereinprasselten, setzen zu lassen. Ich erlebte sie und schob sie gleich wieder zur Seite. Zu schnell kam der nächste Reiz und wartete auf Erledigung. Die Geschwindigkeit meines Alltags überholte mich. Zu dieser beruflichen, körperlichen und psychischen Dauerbelastung kam dann auch noch ein gesundheitlicher Keulenschlag dazu.

      Zwölf Jahre nach seinem unerklärlichen Auftauchen war der Krebs wieder da.

      Am 26. Jänner 2006 wurde ich erneut an der Zunge operiert. In den vergangenen Monaten war das Plattenepithel am Mundboden zu einem weiteren Tumor angewachsen. Große Teile meines linken Mundbodens und der linken Zungenseite mussten entfernt werden.

      Schmerzen

      I kept the right ones out and let the wrong ones in.

      Aerosmith, Amazing

      Roswithas Vater Albert, ein erfahrener Arzt, Unfallchirurg und bereits 67 Jahre alt, fungierte während meiner zweiten Krebserkrankung als mein Leibarzt. Er begleitete mich zu den meisten Arztbesuchen, kannte viele Ärzte in verschiedensten Ambulanzen und sorgte dafür, dass ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes im Universum der Landeskrankenanstalten zu sein. Albert machte Druck, wenn wir zu lange im Warteraum sitzen mussten, fragte kritisch und ungeduldig jeden Arzt nach exakten Diagnosen und Behandlungsstrategien und tat alles, um mir die Sicherheit zu geben, nicht in der undurchsichtigen Welt einer Landeskrankenanstalt gefangen zu sein. Er war mir auch vorher schon in allen gesundheitlichen Krisen immer unmittelbar zur Seite gestanden, nur waren sie nicht derart bedrohlich gewesen. Ich stand nach dem erneuten, völlig unerwarteten und fern von allen Risikofaktoren auftretenden Rezidiv an meiner Zunge unter Schock. Albert dämpfte meine Sorge. Er zeichnete sich als Arzt durch seine Fähigkeit aus, trotz der Schwere der Erkrankung immer den Menschen zu unterstützen, er stellte nie die Krankheit in den Vordergrund. Er blieb immer positiv. Er vermittelte mir gekonnt und empathisch einen Ausweg aus meiner lebensbedrohlichen Situation; er relativierte die Schwere der Krebserkrankung stets so, dass eine vollständige Genesung immer selbstverständlich war. Zumindest für mich.

      Albert wurde zu meinem Glücksbringer.

      Wenn er da war, wurde alles gut. „Wir schaffen es“ aus seinem Mund klang ehrlich, kam von Herzen und half. Ich schätzte seine Anwesenheit, seinen Rat, seinen ärztlichen Optimismus.

      Ein weiterer fünf Zentimeter langer Tumor, der sich in meine linke Zungenhälfte und den linken Mundboden gefressen hatte, wurde entfernt. Zudem entnahmen die Operateure sicherheitshalber großflächig das umliegende Gewebe, auch am Mundboden. Aufgrund des Gewebeverlustes und der Naht zog sich meine verbleibende Zunge nun zu den linken Zähnen hin, der natürliche Platz zwischen Zunge und Zähnen wurde enger. In meinem Mund entstanden Spannung und Druck. Der Tumor forderte seinen Platz und nahm mir mein Gewebe.

      Meine erneute Operation hatte zwei schwerwiegende Folgen für mich. Das Sprechen in der Schwimmhalle fiel mir schwerer als zuvor, und meine Zunge rieb sich nach der Vernarbung nun schmerzhaft an den linken Zähnen. Daraus entstanden immer wiederkehrende Entzündungen.

      Ich hatte Schmerzen.

      Bei jedem Wort.

      Die ständigen Entzündungen schränkten mich nun auch beim Essen ein. Zitronen, Himbeeren, Tomaten, Essig und salzige Speisen verursachten brennende Schmerzen, die häufig stundenlang anhielten. Hastiges Essen und gestresste Nahrungsaufnahme bedingten oft unkontrollierte Zungenbewegungen, sodass ich mir immer wieder in die Zunge biss. Der ständige Kreislauf aus Wiederverletzung und Reizung und dem Versuch, eine Heilung herbeizuführen, bestimmten mein Mundmilieu. Einzige Erholungsphase waren die trainingsfreien Wochen im Sommer, in denen ich die Schwimmhalle mied und in denen sich mein Sprechen auf Zimmerlautstärke reduzierte. Brüllen und druckvolle Befehle waren in diesen Perioden nicht nötig, das beruhigte den Schmerz.

      Ein eindeutiges Zeichen, über das ich jedoch nicht weiter nachdachte.

      Es wird schon werden, lautete meine Devise.

      Für einen unvergesslichen langen Tag in diesen trainingsfreien Wochen wurde es sogar perfekt. Am 19. August 2006, ein halbes Jahr nach meiner


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