RESET. Clemens Weis
konnte, reichten nicht aus, um mir Schwimmen als dauerhaftes Ausdauertraining schmackhaft zu machen.
Das Radfahren hingegen brachte mich auch wieder enger mit meinem Bruder Philipp zusammen. Mein kleiner Bruder, der immer im Schatten meines sportlichen Ehrgeizes gestanden hatte, der Schwierigkeiten hatte, mit mir sportlich Schritt zu halten und den ich dies auch immer spüren ließ, begleitete mich nun häufig auf meinen Touren. Ich genoss seine Anwesenheit und stellte fest, dass er ein außerordentlich ausdauernder Radfahrer war. Ich war meinem Bruder in vielerlei Hinsicht dankbar, vor allem für seine Zuneigung meinen Kindern gegenüber. Hannah und Lukas liebten Phips. Er war immer an ihrer Seite, nicht häufig anwesend, aber immer zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle. Onkel Phips war unheimlich großzügig den Kindern gegenüber, vor allem kümmerte er sich ebenso sehr um Lukas wie um sein Patenkind Hannah. Durch unser gemeinsames Radfahren konnte ich ihm etwas Aufmerksamkeit und Zuneigung zurückgeben.
Das Rennradfahren schenkte mir eine neue, bisher nicht gekannte Freiheit. Ich fuhr oft mehrere Stunden aus, meine reduzierten beruflichen Verpflichtungen erlaubten mir auch lange Radtouren. An den Vormittagen, nach dem Frühtraining, erforschte ich mit meinem Rennrad Salzburg und seine Umgebung. Meine Energie schäumte über. Vermindertes Arbeiten, umfangreiches Ausdauertraining und privates Glück – mein Leben fühlte sich perfekt an. Ich begann, alle befahrbaren Wege, Straßen, Anstiege und Abfahrten in der Umgebung der Stadt zu erkunden. Ich liebte die Abwechslung, die mir das Rennradfahren bot, den Geruch des frisch geschnittenen Grases, die Herausforderung der unterschiedlichen Landschaften, und die abwechslungsreichen körperlichen Anstrengungen, die meine Ausfahrten mir boten, tilgten meinen Hunger nach Freiheit. Der ständige Wechsel zwischen den Intensitäten verwischte jede Monotonie, die ich vom Laufen oder Schwimmen her kannte. Ich radelte einfach drauflos, meist auf die umliegenden Berge, es gab keine Vorgaben, nur die Landschaft Salzburgs und mich. Die Umgebung, der Wind und das Wetter steckten mir meine Grenzen ab, sonst niemand und nichts. Heute so, morgen komplett anders, auch wenn die Ausfahrt dieselbe war. Ich kümmerte mich nicht um Geschwindigkeiten, Wattzahlen oder Steigungen, ich fuhr einfach drauflos und nahm alle Herausforderungen dankend an. Ich inhalierte zum ersten Mal in meinem Leben das allumfassende Gefühl der wohltuenden Einsamkeit, die jeder Radfahrer im Laufe seiner stundenlangen Ausfahrten sowohl zu lieben als auch zu hassen beginnt.
In meinem Beruf arbeitete ich mit Menschen und deren sportlicher und persönlicher Weiterentwicklung. In meiner Funktion als Lehrbeauftragter und als Trainer sprang ich in die Rolle der Führungskraft. Ich leitete eine Gruppe, meine Mannschaft und übernahm Verantwortung für mein Team. Das stundenlange einsame Radfahren kompensierte diese Aufgabe meines Berufs. Ich konnte mich treiben lassen, musste nicht sprechen, war nicht für Inhalte zuständig, gehorchte nur den Anforderungen der Natur und meines Körpers.
Radfahren gab meinem Kopf Zeit, sich zu erholen.
Meinen Körper dagegen forderte ich.
Mit Fortdauer der immer längeren, anspruchsvolleren und belastenden Ausfahrten wuchsen auch die Herausforderungen an meinen Körper. Die Anstiege wurden nie leichter, ich wurde aber zusehends schneller. Hatte ich anfangs für eine Tour über das Rossfeld drei Stunden benötigt, war mein Ausflug drei Monate später um 30 Minuten kürzer. Ich wurde leistungsfähiger, mein Körper und mein Stoffwechsel passten sich an die Belastungen an, aus der anfänglichen Erholung wurde ein forderndes Training.
Die Uhr entwickelte sich wieder zum Gradmesser meiner Sporteinheiten, der Trainingsreiz bestimmte in der zweiten Hälfte der Saison 2010/11 meine Ausflüge. Eine komplette Tageshälfte nutzte ich nun für mein Training. Vor der Entdeckung meines Fahrrads hatte ich mich nur 30 bis 60 Minuten täglich belastet; mit dem Fahrrad entwickelten sich daraus mehrere Stunden. Aus sportlichem Erleben auf dem Rennrad wurde sportliches Training am Limit. Der Erlebnisfaktor blieb zwar weiter vorhanden, jedoch befriedigte ich zusätzlich meinen sportlichen Ehrgeiz. Die vollbrachte Leistung spornte mich an und trieb mich vorwärts. Einmal Leistungssportler, immer Leistungssportler.
Ich trainierte, als wäre ich 20 Jahre jünger.
Als Trainer setzte ich meine sportlichen Ziele für mein Team hinunter, niemand konnte von uns etwas Besonderes erwarten, sogar ich war inzwischen erfahren und nüchtern genug und wusste, dass unsere ehrgeizigen Ziele mit halbem Training nicht zu realisieren waren. Die nationalen und regionalen Höhepunkte dieser Saison empfand ich als zu monoton, die immer gleichen Wettkämpfe stillten meinen Hunger nach Erfolg nicht ausreichend. Es fehlten sportliche Höhepunkte, ich vermisste das elektrisierende Adrenalin meiner ersten Trainerjahre. Um das Feuer wiederzufinden, beschloss ich, im Frühjahr des Jahres 2011 selbst wieder bei Wettkämpfen an den Start zu gehen. Ich war 36 Jahre alt und wollte noch einmal das Adrenalin eines Wettkampfes als Leistungssportler erleben, die Ausbelastung körperlich spüren.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ich war ein gelernter Schwimmer, ein begabter Läufer und fuhr seit einigen Jahren regelmäßig mit meinem Rennrad – in meinem Pausenjahr sogar sehr umfangreich –, so fühlte ich mich stark genug, um an Triathlons teilzunehmen. Zu meiner bereits hohen Trainingsintensität gesellte sich die Wettkampfintensität. Ich unterschätzte die Belastungen. Ich trainierte nicht weitsichtig und aufbauend wie ein Leistungssportler, sondern versuchte, meine Leistungen durch kurze, intensive Reize so hoch wie möglich zu schrauben. Mein Wille gierte nach Wettkampfsport, er war wieder einmal der Chef über meine körperlichen Erschöpfungssignale. Den Herausforderungen einer zweistündigen Wettkampfbelastung war ich körperlich schlicht nicht gewachsen. Die Regeneration nach meinen Wettkämpfen, auch wenn ich im Frühjahr 2011 an nur drei Triathlons teilnahm, dauerte sehr lange. Mehr als eine Woche lang fühlte ich mich nach der zweistündigen Wettkampfbelastung als Sportinvalide, leer, müde, verkatert, meine Gelenke schmerzten und meine Lungen brannten, der Körper musste auf Hochtouren arbeiten, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Die Wettkämpfe fühlten sich wie Stiche ins Herz an.
110 Prozent all out.
Erstmals beschlich mich das Gefühl, dass ich mich über meiner körperlichen Grenze bewegte, dass mein Körper meinem Willen nicht nachkam. Hinzu kam, dass ich mit meiner Leistung nicht zufrieden war, ich war zwar meist einer der schnellsten Schwimmer, auch ein guter Radfahrer, jedoch reichte meine läuferische Leistung nicht aus, um mich im Vorderfeld zu platzieren. Während der letzten 30 Minuten litt ich körperlich und war nach dem Wettkampf nicht erfüllt, sondern nur müde und deprimiert. Ich benötigte drei Triathlons, um festzustellen, dass ich mir damit nichts Gutes tat. Danach beschloss ich, das Kapitel Wettkampfsport für mich endgültig zu schließen. Kurz vor dem Kollaps atmete mein Körper auf.
Jedoch nicht lange. Auch das im Leistungszentrum ansässige Sportinstitut der Universität Salzburg musste ein Jahr lang mit seinem Lehrangebot pausieren. Wir entschieden, die Lehrveranstaltungen daher nach der Wiedereröffnung der Schwimmhalle noch vor Semesterbeginn des folgenden Jahres zu blocken. Das hatte zur Folge, dass ich zwei Semester lang keine Lehraufträge durchführen konnte, somit auch keine zusätzlichen Wochenstunden in der Schwimmhalle stand, dafür aber zwei Wochen im September vor Semesterbeginn des Studienjahres 2011/12 sämtliche Stunden der abgelaufenen zwei Semester nachholen musste. Mein „Pausenjahr“ ging abrupt zu Ende, und ich begann die neue Saison mit einem bis dahin noch nicht gekannten zweiwöchigen Intensivblock in der Schwimmhalle. Ich arbeitete in diesem Zeitraum täglich zwölf Stunden in der Halle und musste in dieser Zeit durchgehend sprechen. Laut, druckvoll und nach einem Jahr Pause wieder mit Schmerzen. Nach nur zwei Wochen war ich nicht nur körperlich müde vom umfangreichen Training und den eigenen Wettkämpfen der letzten Monate sowie dem intensiven Arbeitsblock, sondern bereits ausgebrannt. Vor Beginn der neuen Saison.
In den nächsten Monaten stand ich zwar nicht mehr zwölf Stunden in der Schwimmhalle, aber es fühlte sich genauso an. Ich war lustlos, punktuell deprimiert und suchte nach einer Änderung. Mein eigener Sport degradierte wieder zum Lückenfüller, die Pausen zwischen den beiden Trainingseinheiten nutzte ich aber weiterhin, um mich zu bewegen. Die Intensität aus dem vergangenen Jahr behielt ich aufrecht. Im Vergleich zu den Vorjahren veränderte sich mein Bewegen noch mehr von einem freudvollen, langsamen Genießen hin zu einer intensiven kurzen Belastung. Meine hohe Leistungsfähigkeit blieb dadurch erhalten, der Stresspegel