RESET. Clemens Weis
unter seiner Verantwortung das Handwerk des Schwimmtrainers erlernt. Drei Monate nach Abschluss meiner Studien erhielt ich seinen Job als Landestrainer des Landesschwimmverbandes Salzburg, was bedeutete, dass ich meine Leidenschaft nun Beruf nennen durfte. Fortan stand ich selbst in der ersten Reihe und entwickelte jenen Ehrgeiz, der mir und meinem Schwimmteam auch schnell erste Erfolge auf nationaler Ebene einbrachte.
Gleich in meinem ersten Berufsjahr als Trainer erlebte ich viele überraschende Höhenflüge. So entwickelte ich jene erwachsenen Siegschwimmer weiter, die bereits unter der Leitung meines ehemaligen Mentors sehr erfolgreich gewesen waren – sie schwammen in unserer ersten gemeinsamen Saison zu Rekorden und Meisterschaftstiteln. Die dazugehörige nationale Anerkennung als Trainer folgte noch im selben Jahr, ich war stolz und höchst motiviert zugleich, dachte, es würde immer so weitergehen: ein 25-jähriger Neuling in der Schwimmsportszene, der gleich zu Beginn seiner Tätigkeit den Schlüssel zum sportlichen Erfolg gefunden hat. Ich erlebte den Schwimmsport sehr emotional. Unangenehme Nervosität vor entscheidenden Rennen meiner Sportler, schlaflose Nächte während wichtiger Wettkämpfe, emotionale Freudenausbrüche und spontane Triumphgefühle bei Siegen und Rekorden kanalisierten mein Streben nach Anerkennung und Erfolg.
Der Alltag des Spitzensports jedoch ist nüchtern:
Es gewinnt immer nur einer.
Bereits der Zweite ist der erste Verlierer.
Diese Logik inkludiert, dass Erfolgserlebnisse die Ausnahme bleiben, Niederlagen hingegen ständige Begleiter des Leistungssports sind.
Ich war naiv, die folgenden Jahre entwickelten sich zunehmend zäher. Dem ersten großen Erfolg folgte im zweiten und dritten Trainerjahr Stagnation, so jedenfalls empfand ich es damals. Ich war unreif in der Planung, vorschnell in der Umsetzung und zu wenig gelassen in der Analyse. Und ständig zu ungeduldig. Meine eigenen hohen Ziele, die ich als Sportler begraben hatte müssen und nun als Trainer wiederentdeckte, schienen schneller als erwartet zu verpuffen. Ich fühlte mich gefangen in dem engen Korsett des Leistungssports, das meist nur Niederlagen zulässt und Erfolge viel zu schnell als Selbstverständlichkeit abtut. Alles reduzierte sich wieder auf Gewinnen oder Verlieren. Auf Leisten oder Nachgeben. Auf Anerkennung durch Erfolg oder Abfall in die Bedeutungslosigkeit. Kurzen emotionalen Höhepunkten folgten unvermittelt und rasch sportliche Tiefschläge und lange Trainingsphasen des Leistens, des Trainierens und des Arbeitens um jeden Preis. Für meine erfolgsverwöhnten Sportler und mich war es eine Herausforderung, nach den anfänglichen Erfolgen nun regelmäßig mit Rückschlägen umzugehen. Schon als junger Sportler, aber nun auch als frischer Trainer, war ich nicht geschult, erfahren und gelassen genug, aus offensichtlich schwachen Wettkämpfen meiner Athleten und ergebnisorientierten Niederlagen den emotional richtigen Schluss zu ziehen.
Ich empfand den Leistungssport als ein ständiges Auf und Ab.
Viele Wettkämpfe, viele Trainingslager, viele Stunden Arbeit in der Schwimmhalle. Roswitha litt unter meiner häufigen Abwesenheit. Sie hatte ihr Studium ein Jahr vor mir abgeschlossen und arbeitete nun als AHS-Lehrerin, hatte daher an den Wochenenden frei und viele Wochen Schulferien, die sie meist jedoch allein verbringen musste. Ich war ständig unterwegs. Drei Trainingslehrgänge über mehrere Wochen, jährlich um die 20 Wettkämpfe an den Wochenenden forderten unsere junge Beziehung und setzten mich zusehends unter Druck. Ich schwankte zwischen meinem beruflichen Ehrgeiz, meiner Liebe zu Roswita und vor allem meinem Drang, mehr Zeit mit Roswithas Sohn Lukas zu verbringen.
Mein Lukas. Ich hatte mich in diesen kleinen, bewegten und aktiven Buben mit einem anfangs etwas zu großen Kopf verliebt, als er drei Jahre alt war und ich ihn zum ersten Mal sah. Er konnte nicht stillsitzen. Er war immer unterwegs, und konnte er nicht irgendetwas im Haus oder in unserem Garten bewegen, wurde er rasch jähzornig. Bereits im Vorschulalter konnte er den kompletten Text von „Max und Moritz“ auswendig und sprach bei jeder Wiederholung im Fernsehen den Text vor der Szene ab. Als er fünf Jahre alt war, boxten wir mit Handschuhen, die fast so groß wie sein Kopf waren, ich fiel bei jedem seiner Schläge theatralisch zu Boden, Lukas triumphierte und fühlte sich wie Muhammad Ali. Und ich fühlte mich wie sein zweiter Dad. Ich fand in Lukas fesselnde Unbefangenheit, Neugierde und Zuneigung, die mich sofort vereinnahmten. Und Lukas liebte seinen Clemi, wie es nur ein Kind tun kann, das spürte ich von Anfang an. Ich bemühte mich, ihm all das zu geben, was er durch die schmerzliche Trennung seiner Eltern verloren hatte, ohne ihm seinen leiblichen Papa wegzunehmen. Ich ergänzte genau jenes Loch, das zwangsläufig durch eine Trennung entsteht, und war für ihn intuitiv der richtige Mensch zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Seine Offenheit, mich in sein Leben zu lassen, entwickelte sich zu einem Wert, den ich erst viel später bewusst wahrnehmen konnte. Mein Lukas war fortan auch mein Sohn. Clemens sein zweiter Papa. Dennoch konnte ich die Rolle des liebevollen Partners und Ersatzvaters nicht entsprechend meinen Gefühlen ausleben, ich war rasch gefangen in dem Streben nach beruflichem und sportlichem Erfolg.
Mir fehlte die Weitsicht.
Ich war sehr jung.
Nach unserem ersten, sportlich unerwartet erfolgreichen Jahr trat ein – anfangs noch unterschätzter und belächelter – Konflikt in den Vordergrund, der mich 14 Jahre begleiten sollte. Ein Jahr lang war ich nun Verbandstrainer des Salzburger Landesschwimmverbandes. Auf der einen Seite stand ich – ein junger, ehrgeiziger Mann, der aus dem Schwimmsport kam und am Anfang seines beruflichen Weges stand –, auf der anderen Seite ein regionales Verbandssystem, das von Funktionären geleitet wurde, die mich nicht unterstützen wollten. Wir passten nicht zusammen. Diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um unser gegenseitiges Misstrauen zu entfachen, und endete vor dem Arbeitsgericht. Fortan arbeitete ich an meinem eigenen Weg, an meinem eigenen Schwimmsport. Ich versuchte, jeden Mosaikstein für den Erfolg meiner Sportler und meines Teams zusammenzusammeln und ihn an der richtigen Stelle einzusetzen. Ich arbeitete an mehreren Fronten gleichzeitig, war Trainer, Manager, Administrator, Hobbypsychologe und Pressesprecher in einer Person, tat alles, um mich durchzusetzen.
Der Aufbau unseres Vereins beanspruchte viele meiner Ressourcen. Bis zu zehn Trainingseinheiten pro Woche stand ich zudem in der schwülen Luft der Schwimmhalle. Meine Anweisungen brüllte ich ins Wasser, mit voller Leidenschaft und Energie trieb ich mich und meine Sportler vorwärts. Ich empfand meine körperliche Fitness als Vorteil gegenüber vielen anderen Berufstätigen, als Waffe im Kampf gegen meine Kontrahenten. Sport verbesserte meine Aufnahmefähigkeit und vertrieb die Müdigkeit. Ich verkraftete die vielen Stunden in der Schwimmhalle leichter, darauf war ich stolz. Mein Hobby war mein Beruf. Ich stand 24/7 unter Strom. Unser Verein wuchs jedes Jahr an Größe und Qualität. Unter dem Schirm meines Vereins erlernte ich alle Facetten des Berufslebens, allerdings unter dem ständigen Druck, leisten zu müssen, sportlicher Erfolg war die Rechtfertigung meines Handelns.
Der Streit zwischen meinem Heimatverein und dem Landesschwimmverband intensivierte sich. Der Konflikt raubte Energie. Ich fühlte mich angestachelt und herausgefordert, wollte mich um jeden Preis durchsetzen, dachte an meine beruflichen Ziele, unterschätzte aber die vernichtende Kraft eines jahrelangen Disputs. Die Trainingsgruppen des Verbandes trainierten täglich, häufig auch zweimal am Tag parallel zu meiner Leistungsgruppe, die Nähe der Kontrahenten war auch körperlich spürbar; sie schuf Antipathie. Sie förderte körperliches Unbehagen. Dieses zu kontrollieren, kostete mich mehr Kraft, als mir lieb war. Häufig versagte mir die Stimme, weniger aus Übermüdung, mehr wegen des beklemmenden Drucks, den ich in der Brust verspürte. Ich saß in der Schwimmhalle, schwitzte in der schwülen Luft, brüllte gegen den Widerstand des Lärmpegels einer vollen Halle und gegen die Befehle der anderen Trainer meinen Schützlingen meine Anweisungen entgegen und verspürte die missgünstigen Blicke der Verbandstrainer in meinem Rücken. Ich war nach jedem einzelnen Schwimmtraining so erschöpft, als wäre ich selbst zwei Stunden mein eigenes Programm geschwommen. Hinzu kam, dass mein Kopf dröhnte, mein Hals kratzte, meine Lungen nach Sauerstoff gierten. Die Energie an meinem Arbeitsplatz Schwimmhalle war vergiftet, genauso nahm ich das auch körperlich wahr. Ich war unter Stress, wenn ich die Halle betrat, und verließ sie unter Stress, das wirkte nach. Trotz meiner körperlichen Fitness fühlte ich mich rasch ausgelaugt.
Ich zog jedoch aus diesem zermürbenden Kleinkrieg nicht die notwendigen Konsequenzen, um mich vor dem ständigen Stress zu schützen. Im Gegenteil. Der spürbare