RESET. Clemens Weis
nur Roswitha, Lukas, Hannah und ich, zu einem wunderschön gelegenen Gut in der Nähe des Heimatorts meines Schwiegervaters. Obwohl die Wettervorhersage wechselhaft gelautet hatte, war der Himmel wolkenlos, die Sonne strahlte, als wolle sie uns ein Geschenk machen, während wir unter dem Applaus unserer Freunde mit dem Blick auf die so vertrauten Berge aus der Kutsche stiegen und vor die Kapelle traten, um uns trauen zu lassen. Herwig stand wieder einmal neben mir und bezeugte unsere Trauung. Mein bester Freund spielte auf der Gitarre „Strada del Sole“. Den Text hatte er eigens für uns in „Strada del Weis“ geändert. Seine dieses Mal gekämmten blonden Haare und sein schelmisches Lächeln werde ich nie vergessen.
An diesem einen Tag war jeder Schmerz vergessen. Wir lachten aus reiner Lust am Leben, lauschten den feierlichen Ansprachen unserer Freunde, saßen an der sonnigen Hausmauer, um den Moment zu genießen, schickten Luftballons in die traumhafte Kulisse unserer Bergwelt und stießen auf die Liebe und das Leben an. Es war einmalig. Ich war schmerzfrei, vergaß all den Druck, den Stress, die Operationen und das vermeintliche gesundheitliche Pech für diesen einen Tag. Roswitha war umwerfend schön, der Blumenschmuck in ihrem Haar leuchtete wie eine Blumenwiese, ihr Kleid zeichnete alle Farben unserer Liebe wieder, ich rieche noch heute ihren Duft an jenem Tag. Hannah liebte das Fest, sie sagte mir später, wie dankbar sie sei, dass sie als kleines Kind die Hochzeit ihrer Eltern miterleben durfte.
Ich fühlte mich, als ob ich alles in meinem Leben richtig gemacht hätte.
Albert und seine Frau Waltraud unterstützten unsere junge Familie nach Kräften. Da wir nebeneinander wohnten, waren Lukas und Hannah oft in ihrer Obhut, was vor allem wegen meiner häufigen beruflichen Abwesenheit eine große Hilfe war. Die Schwiegereltern liebten ihre Enkelkinder und umsorgten sie, so gut es ging. Die Nähe zu Albert und Waltraud brachte nur Vorteile – ich empfand das enge Zusammenleben immer als Win-win-Situation. Ich war ein unkomplizierter Mensch, der jedem Streit aus dem Weg ging und der die Rolle des ausgleichenden Pols bei familieninternen Konflikten einnahm. Ich war ein guter Puffer zwischen den teils emotionalen Auseinandersetzungen innerhalb der Großfamilie und selbst selten Verursacher von Streitigkeiten, was vor allem Albert sehr schätzte. Nie kam es zu einem Konflikt zwischen den Schwiegereltern und mir. Albert äußerte keine Kritik, es gab keine Vorwürfe an mich als Familienmitglied, Waltraud kochte an jedem Montag mein Lieblingsessen – das gefiel mir. Die Rolle, die vor allem wir zwei Männer in unserem gemeinsamen Familiensystem innehatten, empfand ich als optimal. Wir verstanden uns. Redeten nicht viel miteinander, aber auf Anhieb hatte Harmonie zwischen uns geherrscht. Eine Männerfreundschaft von Anfang an über eine Generation hinweg, seit ich mich in Roswitha verliebt hatte.
Der Sommer 2006 ging rasch zu Ende, im Herbst war das Wetter kühl und regnerisch. Den Wochen vor und nach meiner Hochzeit trauerte ich umso mehr nach, als ich wieder in die schwüle, sauerstoffarme und in den Wintermonaten immer dunkler werdende Schwimmhalle musste. Die Euphorie wich den immer lästiger werdenden Dauerschmerzen. Mein Beruf verlangte zwei unumstößliche Voraussetzungen – ständige Anwesenheit in der Schwimmhalle und eine kräftige, laute Stimme. Das Dilemma dabei war: Je länger ich mich in der Halle aufhielt, desto mehr Energie und Kraft benötigte ich für die Verständlichkeit meiner Aussprache. Der fehlende Sauerstoff und das feuchte Klima forderten nicht nur körperliche Ressourcen, sondern belasteten auch meine Stimme. Das Schlimmste daran waren die Dauerschmerzen, die bei jedem gesprochenen Wort auftraten. Die Anatomie meiner linken Mundhälfte hätte weniger Druck, weniger Brüllen und mehr Pausen bedurft. Laute Anweisungen, stramme Befehle, emotionale Ausbrüche und motivierende Ansprachen in der Schwimmhalle standen jedoch fast täglich auf meiner Tagesordnung. Wollte ich den Studenten oder meinen Sportlern Übungsinhalte oder Trainingsprogramme verständlich machen, musste ich schreien.
Der Lärmpegel in einer Schwimmhalle fällt nur jenen auf, die sich regelmäßig in einer solchen aufhalten – die Dosis macht das Gift.
Dem Brüllen folgten Schmerzen. Ohne eine Lösung zu suchen, ignorierte ich nicht nur die Schmerzen, vielmehr forderte ich meinen Körper auf, sich an die neuen Umstände anzupassen, ohne ihm jedoch einen Kompromiss anzubieten. Ich behandelte Körper und Geist nicht als Team, sondern als zwei getrennt voneinander existierende Teile meines Wesens. Mein Körper verlangte nach Aufmerksamkeit, mein Kopf ignorierte dieses Bedürfnis und stellte den Körper vor vollendete Tatsachen: Er hatte sich anzupassen.
Die Folge war, dass der Schmerz mein ständiger Begleiter war. Nur hatte ich keine Antwort parat, wusste einfach nicht, was ich ändern sollte oder wie ich der Schmerzen Herr werden konnte. Mein Kopf antwortete mit Härte. Nach dem Motto: „Der stärkste Muskel in meinem Körper ist der Kopf“, fand ich einen Weg, um die Schmerzen zu ignorieren. Sie waren da, wurden aber zur Selbstverständlichkeit.
Doch das Schicksal schenkte mir unverhofft eine zweite Chance: In der Trainingssaison 2010/11 wurde unsere heimische Trainingsstätte, die Schwimmhalle des Leistungszentrums, umgebaut, es war kein Wassertraining möglich. Wir mussten in verschiedene kleinere Schwimmhallen der Umgebung ausweichen. Da die Anfahrtswege lange und umständlich waren und uns die Trainingsmöglichkeiten in diesen öffentlichen Bädern nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden konnten, lag es auf der Hand, dass unser Team in dieser Saison deutlich weniger trainieren konnte als in den Jahren davor. Wir konzentrierten uns deshalb auf ein umfangreiches Trockentraining. Ein tägliches Schwimmtraining musste ausreichen.
Eine weitere ständige negative Begleiterscheinung meines Jobs fiel nun auch ganz plötzlich weg. Aufgrund der begrenzten Wasserfläche und der damit verbundenen geringen Trainingszeiten arbeitete ich oft allein in einem der lokalen Bäder, die Verbandskollegen waren auf einmal nicht mehr präsent – somit verschwand auch das Unbehagen. Der Dauerstreit um Wasserfläche, Fördergelder und die Beurteilung individueller sportlicher Erfolge rückten ebenso in den Hintergrund wie die persönliche Profilierung. Es war, als würde ein Rucksack voller Steine von meinen Schultern genommen werden – ein ungewohntes Gefühl, erstmals, nach zehn Jahren.
Meinem Körper gefielen die neuen Umstände ebenso wie meiner Familie. Ich wurde langsamer, achtsamer, aufmerksamer, ich nahm wieder mehr von der Faszination meines heranwachsenden Kindes wahr und hörte meiner Frau besser zu. Ich musste weniger brüllen, der gesamte Sport erzeugte weniger Druck. Das bemerkte ich auch beim Sprechen. Es fühlte sich leichter an, ich sprach automatisierter. Meine Schmerzen ließen Woche für Woche nach, es gab Tage, an denen ich meine Operationen im Mund komplett vergessen konnte. Ich dachte zum ersten Mal, die Krebsoperationen und ihre Folgen nicht nur erfolgreich in einem Hinterzimmer meines Gedächtnisses verstaut zu haben, sondern sie vielmehr endlich wegwerfen zu können. Die Schmerzen verschwanden aus meinem Alltag. Auch die lähmenden Erinnerungen und verborgenen Ängste verließen meinen Körper, und in weiterer Folge auch meinen Kopf.
Auch wenn ich diese Zeit als beruflichen Stillstand empfand, feierte mein Körper seine Wiederauferstehung.
Nicht, dass ich achtsamer mit mir und meinem Körper umging, nein, die Umstände ließen einfach nicht denselben Rhythmus, dieselbe Frequenz, dieselbe Intensität der Jahre davor zu. Die Pausen wurden länger. Es tat mir gut. Berufliche Bescheidenheit war angesagt, ich fühlte mich nicht für eine eventuell stagnierende sportliche Entwicklung in dieser Saison verantwortlich, niemand hatte Erwartungen. Als diese reduzierte Saison dann dennoch alle Erwartungen übertraf und wir als Team, vor allem im Nachwuchs, so erfolgreich wie noch nie waren, fand ich zahlreiche Gründe für den Erfolg – nicht jedoch die Tatsache, dass längere Pausen, vermehrte Ruhezeiten und Gelassenheit der Schlüssel zum Erfolg gewesen sein könnten.
Leider befüllte ich die Pausen aber intuitiv – ich wollte sie nutzen.
Ich hatte zu meinem 30. Geburtstag mein erstes Rennrad geschenkt bekommen. Das Radfahren bekam nun eine neue Qualität für mich, es wurde meine Leidenschaft. Bis dahin war ich entweder laufend oder schwimmend als Ausdauersportler unterwegs gewesen. Die Monotonie dieser beiden Fortbewegungsarten schränkte mich in meiner Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der Umgebung ein. Ich lief entweder mit einem Tunnelblick meine immer gleichen Runden oder zählte die Fliesen im Wasser. Von unserem Haus aus joggte ich immer zwischen 30 und 75 Minuten, je nach zeitlicher Möglichkeit. Nach ein paar Jahren fand ich keine neuen Laufstrecken mehr. Schwimmen im Hallenbad war zudem ein No-Go für mich, seit ich hauptberuflicher Trainer war – jede weitere Minute