Tage der Wahrheit. Sabine Dittrich
mit frischem Brot, lecker. Sie rutschte auf die lange Seite der Eckbank. Oma Hildes Platz an der Stirnseite blieb seit letztem Frühjahr leer.
Sie faltete die Hände. Opa Willi betete wie jeden Tag:
»Vater, segne diese Speise. Uns zur Kraft und dir zum Preise. Amen.«
Dann zog er das Brotbrett zu sich, machte andächtig drei Kreuzeszeichen über dem frischen Laib. Erst danach schnitt er einige Scheiben ab.
Sie nahm sich den Kanten, strich Butter darauf und biss hinein.
»Was gab es denn beim Wirt heute zum Mittagessen?«
»Pellkartoffeln mit Quark und Leinöl. Hinterher noch Kaffee und ein kleines Stück Streuselkuchen. Den hatten sie vom Sonntag übrig. War gut.«
Während der nächsten Minuten aßen sie in der Stille. Der Bauernkäse war genau richtig durchgezogen. Innen schön gelb, aber noch nicht überreif.
»Sven Kittel ist mit seiner Familie am Wochenende eingezogen.«
»Ich weiß. Er war heute bei mir. Wegen der Anmeldung.«
Opa Willi schaute kauend zu ihr herüber. Hoffentlich fing er jetzt nicht auch noch an, dieses Thema auszuwalzen. Sie kam ihm zuvor.
»Wie heißt eigentlich nochmal der neue Pfarrer? Ich habe es leider vergessen.«
»Martin von Stein.«
»Von Stein? Ist das ein echter Adliger?«
»Das musst du ihn am besten selbst fragen.«
«Und sag mal: Was gibt es denn im alten Pfarrhaus für Bauarbeiten? Ivi hatte einen Zettel am Auto, dass sie nicht mehr davor parken darf.«
»Sie soll sich nur nicht mehr ausgerechnet vor die Hofeinfahrt stellen. Pfarrer von Stein wird demnächst einziehen. Im Haus sind ein paar Renovierungen notwendig. Es stand ja viele Jahre leer.«
»Hat er eine Familie? Kinder?«
»Nein, er ist ledig.«
Also war vorerst keine Kundschaft für die Kita in Sicht.
»Ist das Pfarrhaus nicht ein bisschen groß für eine einzige Person?«
»Er wird nur im Dachgeschoss wohnen. Das sind drei kleine Zimmer.«
»Und unten bleibt es dann leer?«
»Nein.«
»Wird vermietet?«
»Sozusagen.«
»Ach Opa, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Mädel, mehr darf ich dir nicht verraten. Morgen oder übermorgen wirst du eine Einladung von Lohmann bekommen: nicht öffentliche Gemeinderatsitzung.«
»Warum bin ich dann dabei, wenn sie nicht öffentlich ist?«
»Es betrifft auch deinen Kindergarten. Bitte frag nicht weiter und sprich auch vorerst mit niemandem darüber. Die Eichberger Buschtrommeln sollten besser nicht mit wilden Spekulationen in Gang gesetzt werden.«
»Muss ich mir deshalb Sorgen machen?«
»Nein, im Gegenteil. Du wirst schon sehen. Übrigens kannst du bei der Sitzung gleich den neuen Pfarrer kennenlernen. Ist ein patenter Kerl.«
Immerhin hatte sie es geschafft, Opa Willi an diesem Abend von weiteren Fragen nach Sven Kittel abzulenken. In ihrem Kopf lief jedoch die ganze Zeit ein Hintergrundprogramm von Bildern und Erinnerungen ab.
Sie auf dem Rücksitz von Svens Motorrad, die Arme um seinen Bauch geschlungen, das Gesicht seitlich an seinen Rücken geschmiegt. Fahrtwind, der nach Heu duftete. Ihr geheimes Plätzchen, unten am Teich. Svens warme Hand auf ihrem Rücken unter dem Pullover. Näher, immer näher, bis es nicht mehr näher ging.
Wo war nur die Stopp-Taste?
Später kuschelte sie sich unter ihre Bettdecke und nahm das oberste Buch von dem Stapel auf ihrem Nachttisch. Lesen half ihr eigentlich immer, um abzuschalten. Sie vertiefte sich in Work and Travel in Australien und Neuseeland. Verschwinden, einfach verschwinden. Mal eine Zeitlang ganz woanders leben und was anderes machen. Äpfel oder Weintrauben pflücken statt verklebte Kindermünder abwischen. Am besten einfach nur am Ende der Welt im warmen Sand sitzen und dem Meeresrauschen zuhören.
Sie war irgendwann in einen tiefen Schlaf hinübergeglitten. Das Licht ging um elf von selbst aus. Opa Willi hatte eine Zeitschaltuhr eingebaut, damit die Lampe nicht mehr die ganze Nacht brannte, wenn sie beim Lesen oder Musikhören einschlief.
Morgens saß Anne auf dem Bettrand. Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Boden. Sie hob es auf und strich sorgfältig die zerknitterten Seiten glatt. Heute war so ein Tag, an dem sie sich am liebsten wieder unter die warme Decke verkriechen würde. Sie war spät dran.
»Los, raff dich endlich auf«, feuerte sie sich an. Schließlich gelang es ihr doch noch, pünktlich aus dem Haus zu gehen.
Drei Kinder standen schon um kurz vor sieben mit einer Oma vor dem Eingang. Ihre Mütter waren längst auf dem Weg in die Arbeit. Sie beneidete diese Frauen nicht. Die jonglierten jeden Tag Beruf, Haushalt und Kinder – das waren in Annes Augen echte Heldinnen des Alltags.
Der Vormittag verging erfreulich schnell. Um kurz nach drei saß sie auf einem Korbstuhl in Ivis Lockenladen.
»Willst du einen Cappuccino oder lieber Latte macchiato caramel?«
Ivi besaß seit neuestem eine Kapsel-Kaffeemaschine, mit der man allerlei Heißgetränke zaubern konnte.
»Eine Latte, bitte.«
»Nehm ich auch. Die schmeckt sündhaft gut. Wenn nur die Kapseln nicht so teuer wären. Überleg mal: eine Packung kostet 5,39 Euro. Um das nach allen Kosten zusätzlich übrig zu haben, muss ich zweimal Waschen und Legen machen. Oder drei Maschinenhaarschnitte.«
»Hast du schon mal überlegt, deine Preise ein wenig zu erhöhen?«
»Geht nicht. Dann verliere ich meine Hausbesuche an die Rasende Schere.« Das war eine mobile Friseurin aus dem Nachbarort, die keinen Salon betrieb und nur auf den Dörfern herumfuhr. Ernsthafte Konkurrenz für Ivi, wenn es mehr auf den Preis als auf die Frisur ankam.
»Also dann: hoch die Gläser. Auf uns.«
Sie nippten vorsichtig, die Latte war höllisch heiß.
»So, und jetzt erzähl mal. Ich bin Svens Angetrauter nämlich noch nicht persönlich begegnet und platze vor Neugier.«
»Sie heißt Jutta und spricht schwäbisch. Hört sich lustig an. Auch wenn sie hochdeutsch redet, klingt der Dialekt deutlich heraus. Ich finde sie auf den ersten Blick ganz sympathisch.«
»Wie sieht sie denn aus?«
»Dunkler Typ, schwarze, kurze Haare, Brille. Jeans, Pulli. Nicht besonders modisch. Sie ist größer als ich und ein wenig … fülliger.«
»Also mit einem Satz: langweilig, aber nett.«
»Sie ist OP-Schwester. Momentan auf Abruf, wenn im Klinikum Personalengpass ist. Die haben ihr eine feste Stelle versprochen, irgendwann, wenn was frei wird.«
»Und wie geht es dir damit, Sven und Jutta im trauten Familienglück zu sehen, Anne?«
Sie konnte sich darauf verlassen, dass Ivi ihre Antwort verstehen und streng vertraulich behandeln würde.
»Gar nicht, Ivi. Irgendwie geht es mir – gar nicht.«
»Wie meinst du das?«
»Die Sache mit Sven ist in meinem Kopf längst abgehakt. Trotzdem muss ich jetzt immer an die alten Zeiten denken. Komischerweise nur an die schönen Momente. Schmetterlinge im Bauch und so. Und wenn er in meine Nähe kommt, dann …«
Sie überlegte, wie dieses seltsame Gefühl zu beschreiben war.
»… wird es dir um den Bauchnabel herum ganz anders?«
»Ja,