Tage der Wahrheit. Sabine Dittrich
ich mit ihm Schluss machen, nachdem ich begriffen hatte, dass er sich wegen mir niemals scheiden lässt. Immer wieder hat er mich rumgekriegt. Wegen diesem blöden Bauchnabelschmetterlingsgefühl.«
»Aber irgendwann hast du ihn ja doch in die Wüste geschickt.«
Sie waren seit Kindertagen befreundet und hatten schon viele Höhen und Tiefen miteinander durchgestanden. Die Monate, bis Ivi diesem schleimigen Kerl endlich den Laufpass gab, zählten definitiv zu den Tiefen.
»Anne, eines habe ich dadurch gelernt: Man muss wissen, was einem guttut und was nicht. Langfristig, meine ich. Entweder erkämpft man sich den EhefrauenStatus oder man geht gleich auf Distanz. Dazwischen gibt es nichts Akzeptables. Das habe ich inzwischen begriffen.«
»Sehe ich genauso.«
»Also denk an mich, wenn Großwildjäger Sven wieder auf der Pirsch ist und leichte Beute wittert. Zum Beispiel dich.«
»Ich glaube nicht, dass er noch so ist. Er hat sich verändert.«
»Für mich wäre das Weltwunder Nummer acht. Du, ich will nicht, dass der Kerl dir wieder weh tut!«
Die Latte war inzwischen auf angenehme Trinktemperatur abgekühlt. Sie nahm einen großen Schluck und ließ den karamelligen Nachgeschmack auf der Zunge zergehen.
»Übrigens – der neue Pfarrer heißt Martin von Stein.«
»Der ist aber nicht aus der Gegend. Von Stein? Klingt nach alter Knacker, oder?«
»Keine Ahnung. Vielleicht sieht man ihn mal bei den Bauarbeiten. Opa Willi hat gemeint, du sollst nur nicht direkt vor dem Tor parken.«
»Was bauen die denn dort?«
»Sie renovieren ein bisschen. Der Pfarrer zieht her.«
»Echt? Nach Eichberg?«
»Mehr weiß ich leider auch nicht.«
Ihre Freundin stand auf.
»Na gut, dann lass uns schauen, was wir mit deinen Haaren machen.«
Sie legte einige Frisurenmagazine und Farbkarten auf den kleinen Tisch zwischen die leeren Latte-Gläser.
Anne blätterte in einem der Magazine.
»Du weißt ja, ein Zopf muss möglich sein. Wegen der Arbeit. Vielleicht so?« Sie zeigte auf ein Schwarz-weiß-Foto im Retro-Stil.
Ivi warf den Kopf in den Nacken und brach in lautes Lachen aus. »Die ewige Sophie Scholl. Da kannst du gleich so wieder heimgehen. Das ist im Grunde deine jetzige Frisur mit extremem Seitenscheitel und etwas Föhnschaum drin.«
Als sie vor Jahren miteinander den Kinofilm über die Weiße Rose gesehen hatten, war Ivi sofort Annes Ähnlichkeit mit der Hauptdarstellerin aufgefallen. Seither neckte Ivi sie ab und zu damit.
»Was ist daran so schlimm, wie Sophie Scholl auszusehen?«
»Nichts, wenn man 1943 lebt – ich stelle mir unter Runderneuerung nur etwas Großartigeres vor: rote Strähnen, Raspelschnitt, Undercut, Platinblond.«
Sie prusteten beide los. Mit platinblondem Raspelschnitt würden ihre Kita-Kinder sie vermutlich gar nicht mehr erkennen.
Schließlich tippte sie mit dem Finger auf ein anderes Frisurenfoto.
»Wie wäre es mit einer Tönung, vielleicht in so einem Kastanienrot? Und ungefähr drei Zentimeter abschneiden?«
»Konstruktive Idee. Allerdings würde ich dir lieber hellere Strähnchen in deiner natürlichen Braunnuance verpassen. Das lässt deinen sanften Bambi-Blick strahlen und macht dich nicht so käsig.«
»Du bist hier die Expertin.«
Ivi war wirklich eine Meisterin ihres Fachs. Zusammen bestaunten sie zwei Stunden später die Runderneuerung im Spiegel.
»Schade, dass dich heute nur noch dein Opa zu sehen bekommt. Wir sollten mal zusammen zu einer Singleparty gehen und dir endlich einen Mann aussuchen«, schlug ihre Freundin kichernd vor.
»Was sagt denn Torsten dazu, wenn du mit mir auf eine Singleparty gehst?«
»Ach, der hätte vollstes Verständnis, dass ich dich endlich unter die Haube bringen muss.«
Ivi war seit zwei Jahren glücklich verheiratet. Mit Torsten Lohmann, dem ältesten Sohn des Bürgermeisters, der von der Art her genau das Gegenteil seines Vaters war.
»Irgendwann läuft mir auch ohne Singleparty einer über den Weg.«
»Hier in Eichberg? Das glaubst du doch selbst nicht. Die sind alle vergeben oder ätzend.«
»Ich finde mein Leben ohne Mann derzeit eigentlich gar nicht so übel.«
Sie meinte das in diesem Moment wirklich ernst.
Die Straßenlampen verbreiteten auf der Heimfahrt schon ihr gelbes, tranfunzeliges Licht. Lohmann hatte auf energiesparende Modelle umstellen lassen. Das kam auf die Dauer billiger für die Gemeinde. Aber die Beleuchtung war schrecklich. Während sie keuchend ihr Rad den Berg hinaufschob, nahm sie sich fest vor, ab sofort an ihrer Kondition zu arbeiten.
Tatsächlich lag eine Ladung zur Gemeinderatssitzung auf der Anrichte. Genau, wie Opa Willi es prophezeit hatte. Ausgerechnet an einem Samstag um dreizehn Uhr im Pfarrhaus. Was für eine blöde Uhrzeit. Das würde knapp werden.
Endlich zog der Frühling ins Land. Fast jeden Tag schien die Sonne. Die wenigen warmen Regenschauer ließen das Grün in der Natur geradezu explodieren. Anne schien es, dass die Menschen viel fröhlicher und umgänglicher waren als während der Wintermonate. Sogar die Kinder quengelten weniger und tobten mit Riesenspaß draußen auf dem Spielplatz. Luis hatte sich in der kurzen Zeit schon prima eingelebt. Auch Max machte jetzt mit. Wenn man ihn ansprach, gab er Antwort. Von selbst sagte er allerdings so gut wie nie etwas. Anne hatte beobachtet, dass er besonders gerne Bilderbücher anschaute. Am liebsten holte er sich in der Mittagsruhe die Bände von Wieso? Weshalb? Warum?.
Nachmittags, als die Kinder im Sandkasten spielten, meinte Renate leise zu ihr: »Stille Wasser sind tief. Wusstest du, dass unser Max lesen kann?«
»Was, mit fünf? Wie hast du das gemerkt?«
»Sina hat es mir verraten. Max hat sie nach den Buchstaben gefragt und sich das Lesen im Grunde selbst beigebracht.«
»Ach du große Schande, der kleine Bursche ist …?«
»Ziemlich intelligent, Anne. Und ein kleines bisschen autistisch veranlagt, wenn du mich fragst.«
»Seine Eltern haben noch nichts gemerkt?«
»Sieht nicht so aus. Sina betrachtet es als ihr Geheimnis, dass ihr Bruder lesen kann. Wir sollten mal einen Test mit Max machen. Wer weiß, was er sonst noch für Fähigkeiten hat. Vielleicht wäre er in der Schule besser aufgehoben. Wenn du einverstanden bist, gehe ich mal die üblichen Bögen mit ihm durch.«
»Gut, ich bin gespannt, was dabei herauskommt.«
»Ich auch.«
Renates langjährige Erfahrung als Kinderpflegerin waren von unschätzbarem Wert. Besonders, wenn ein Kind nicht in die gängigen Normen von Entwicklungskurven und Schulreife einzuordnen war. Das kam in den letzten Jahren ein paarmal vor. Aber diese Kinder hatten sich nicht selbst das Lesen beigebracht, sondern besonderer Förderung bedurft.
2
Martin von Stein parkte den VW-Bus in der Einfahrt eines Feldweges. Von hier aus hatte man die schönste Aussicht auf Eichberg. Er stieg aus, ging ein paar Schritte und lehnte sich dann mit verschränkten Armen an den Stamm eines großen Baumes, der hier einsam auf der Anhöhe stand. Eine wilde Kirsche. In den mit weißen Blüten besetzten Ästen über ihm summte und brummte es leise. Ein wunderbarer blauer Frühlingshimmel spannte sich über den hügeligen Horizont. Vor seinen Füßen steckten leuchtend gelbe Löwenzahnblüten ihre Köpfe aus dem Gras. Pappelstöck nannte man die bei ihm zu Hause. Martin lachte in sich hinein. Dieses Wort kannte hier garantiert