Tage der Wahrheit. Sabine Dittrich
Begleitpersonen. Man muss es aber nicht mitmachen. Du könntest auch auf eigene Faust Prag erkunden, wenn dir das lieber ist.«
Führung durch die Altstadt mit Besichtigung des jüdischen Viertels, Ausflüge nach Theresienstadt und Schloss Štiřin. Empfang im Milíč-Haus.
Weitere Programmpunkte werden nach Wunsch der Gäste zusammengestellt: Schwarzlichttheater, Kafka-Museum, typisch tschechische Kneipe und mehr. Wir sprechen: Deutsch, Tschechisch, Ivrit, Englisch.
Der Veranstalter hieß Cafe Setkání – Verein für kulturelle Begegnung.
Mysteriös. Wie kam Opa denn zu so etwas?
»Und was machst du in Prag, während ich auf Besichtigungstour gehe?«
»Ich treffe mich mit Leuten. Mit alten Freunden aus meiner Jugend. Wir haben auch ein kleines Programm. Zu den Schlössern fahren wir mit euch gemeinsam.«
»Aha. Warum trefft ihr euch ausgerechnet in Prag?«
»Weil wir uns dort auch kennengelernt haben. Es ist eine uralte Geschichte, weißt du. Ich erzähle dir vorher noch alles. Aber – hättest du denn grundsätzlich Lust?«
Sie überlegte. Bei dem Gedanken, dass Opa ohne sie vermutlich auf eigene Faust mit der Bahn – oder schlimmer noch: mit dem Auto – nach Prag fahren könnte, war es ihr nicht wohl. Zu lang, zu gefährlich, zu anstrengend für den alten Herrn.
Und warum eigentlich nicht? Jeden Abend träumte sie sich in ferne Länder – da konnte sie doch schon mal mit einer echten Pragreise anfangen.
»Ich spreche morgen mit Renate, ob ich Urlaub nehmen kann. Momentan ist viel zu tun, du weißt ja.«
Opa Willi strahlte. »Ich glaube, der Tapetenwechsel würde dir richtig guttun.« Er stand auf und widmete sich wieder seiner Gartenbahn.
Ehrlich gesagt, war sie ziemlich neugierig auf »die uralten Geschichten«. Mit wem wollte er sich dort in Prag wohl treffen? Doch ihn jetzt danach auszufragen, würde erfahrungsgemäß nicht klappen. Opa konnte ganz schön kurz angebunden sein, wenn er nicht in Erzählstimmung war. Er untersuchte gerade mit der Taschenlampe den großen Tunnel und schob dann mit einem Handfeger Laub heraus. Offensichtlich hatte wieder ein Igel darin überwintert.
Später ließen sie noch probeweise den roten Schienenbus durch den Garten rattern. Alles funktionierte bestens. Die Mäuse hatten letzten Winter vermutlich schmackhafteres Futter gefunden als Opas Kabel.
4
Der Kleiber rannte eifrig um den Stamm der alten Buche herum, klopfte und pickte hier und da, schien auch etwas im Schnabel zu halten und eilte dann den Stamm hinauf. Aha, da oben hatte er seine Nisthöhle. Aufgeregtes Gezwitscher folgte.
Martin lehnte sich aus dem kleinen Dachgaubenfenster. Wie warm sich die Sonnenstrahlen schon früh morgens auf der Haut anfühlten! Das erinnerte ihn an alte Zeiten. Mit nacktem Oberkörper am Fels kleben und den nächsten Kletterschritt planen. Knackig braun wurde man dabei ganz automatisch. Jetzt betonte Bräune nur die hässlichen weiß-rosa Linien. Narbengewebe mochte UV-Strahlen nicht, also war ab sofort wieder Sonnenschutzfaktor 50 angesagt. Er lenkte seinen Blick wieder in den Garten, weg von seinem rechten Unterarm.
Schön war es hier auf dem Dorf, umgeben von Natur. Wie zu Hause. Nur die Menschen waren ganz anders. Vorsichtiger, misstrauischer, verschlossener. Kein Wunder, wenn man nicht ihren Dialekt sprach und auch noch evangelischer Pfarrer war, also schon von Natur aus verdächtig. Er schmunzelte.
So, Zeit für den Frühsport. Er ließ das Fenster offen und griff sich die rote Flexibar. Regelmäßig zwanzig Minuten Training mit diesem schwingenden Stab hielten einen gut in Form. Besonders den Oberkörper. Er ließ seine Muskeln arbeiten. Kein Vergleich zu früher, aber immerhin.
Zum Frühstück, das er sich aus einem geraspelten Apfel, Haferflocken und Joghurt zusammengerührt hatte, dazu eine große Tasse Malzkaffee, setzte er sich an den Esstisch. Gemütlich, die kleine Küche. Der fichtenholzfarbene Block mit Spüle, Kühlschrank und Elektroherd entpuppte sich bei näherer Betrachtung als Spanplattenmöbel aus einer Zeit, in der es in dieser Gegend noch kein IKEA gab.
Wände und Dachschrägen waren seit vorgestern zartgelb gestrichen. Sein Vorgänger hatte ein Faible für Poster mit Bibelsprüchen gehabt und daraus eine Art durchgängige Wandtapete geklebt. Einen Vormittag hatte Martin gebraucht, das Zeug abzuspachteln. Nun tickte über der Kommode nur noch die schöne alte Wanduhr vor sich hin. Der viereckige Esstisch war dunkelbraun lackiert und bot Platz für zwei Personen. Vermutlich gab es deswegen auch nur zwei Stühle. Verschiedene Modelle. Er saß lieber auf dem mit roten Stuhlkissen. Der hatte die optimale Höhe für sein Bein. Von hier fiel der Blick durch das Fenster auf die Straße. Noch nichts los im Dorf um diese Zeit.
Er griff nach dem Smartphone und schickte seiner Schwester ein Foto dieses Wohn-Ensembles per WhatsApp.
Noch eine halbe Stunde Zeit für das Frühstück, bis die Handwerker eintrafen. Er schlug das kleine blaue Büchlein für die geistliche Fitness auf. Mal sehen, was ihm die Bibelstellen der Herrnhuter Losungen für den heutigen Tag zu sagen hatten.
Später, während er gerade Tasse, Schale und Löffel abspülte, piepte sein Smartphone.
Lebst du jetzt im Sperrmüll☺?
Er lachte vor sich hin. Schwesterchen war als Bundestagsabgeordneten-Ehegattin natürlich Besseres gewöhnt.
Nee, Männerwohnheim, tippte er zurück.
Du brauchst endlich ’ne Frau, piepte es postwendend.
Braucht ein Fisch ein Fahrrad?
Definitiv ☺
Schwesterherz hatte das jetzt nicht kapiert. Frauen konnten mit einem Krüppel wie ihm ungefähr so viel anfangen wie ein Fisch mit einem Fahrrad. So sah es aus.
Es klingelte an der Tür. »Pünktlich wie die Handwerker«, murmelte er vor sich hin und stieg vorsichtig die Treppe hinunter.
»Komme gleich«, rief er.
Kurz vor siebzehn Uhr zogen die Installateure wieder ab. Gerade rechtzeitig. Heute war Mittwoch, er hatte eine Verabredung mit der netten Kita-Leiterin.
Martin spazierte langsam die Hauptstraße entlang. Im Friseursalon brannte Licht. Die Chefin mit den langen hellblonden Haaren hatte gerade Kundschaft auf dem Stuhl sitzen. Er winkte ihr zu. Sie lachte und winkte mit der Schere in der Hand zurück.
Haare schneiden war bei ihm demnächst auch wieder fällig. Warum nicht in Ivonnes Lockenladen? Obwohl es bei ihm eher darum ging, die Locken zu eliminieren. Martin grinste. Der türkische Herrenfriseur in der Stadt sagte immer nur: »Maschine? Fünfzehn Millimeter?« und legte dann los. Irgendwie kam man sich dabei vor wie ein Schaf, das geschoren wurde. Vielleicht war das in einem Lockenladen ja anders. Jedenfalls sah Ivonne recht nett aus. Nicht so verschlossen wie die meisten anderen Eichberger.
Das Blaubärschloss schien früher eine alte Dorfschule gewesen zu sein, mit ein oder zwei Klassenzimmern und unter dem Dach einer winzigen Dienstwohnung für den Lehrer. Schön, dass es im Dorf noch einen Kindergarten gab. In den meisten Nachbarorten waren die schon längst ausgestorben. Die Gartentüre quietschte. Durch das große Fenster sah er Anne mit einem Mann im Zimmer stehen. Sie gestikulierte wild mit den Armen.
Er trat ins Haus und stand unschlüssig im Flur herum. Sollte er in den Gruppenraum hineingehen? Die Tür war zu. An der Garderobe saßen drei Kinder.
»Kannst du mir mal helfen?« Ein kleiner blonder Junge hielt ihm die Turnschuhe entgegen.
»Du kannst dich alleine anziehen, Luis«, sagte ein älteres Mädchen mit zwei schwarzen Zöpfen. »Er kann das, er ist nur zu faul.«
»Menno«, jammerte der Kleine und machte sich dann selbst daran, die Schuhe anzuziehen. Der andere Junge stand auf und betrachtete still das Erste-Hilfe-Poster an der Wand.
Martin wartete vor der Gruppenraumtür.
»Da