Tage der Wahrheit. Sabine Dittrich

Tage der Wahrheit - Sabine Dittrich


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den Häusern heraus. Das schräg neben der Kirche liegende Pfarrhaus war nicht auszumachen, nur ein grünes Knäuel hoher Laubbäume zeigte an, wo sich der dazugehörende Garten befand. Den Roten Ochsen an der Hauptstraße konnte man gut an seinen rotbraunen Ziegeln erkennen. Er stach aus der sonst für diese Gegend typischen schiefergrau-weißen Fachwerkidylle heraus. Das blau gestrichene kleine Gebäude unten am Dorfeingang war der Kindergarten. Blaubärschloss, witziger Name. Die Leiterin, Herrn Lischkas Enkelin, würde er heute Mittag auf der Sitzung treffen. Bisher kannte er nur die Männer und Frauen des vierköpfigen Gemeindekirchenrats näher. Zu Willi Lischka, dem Vorsitzenden, hatte er sofort einen Draht gefunden, obwohl der sein Großvater sein könnte. Überhaupt war die Gemeinde ziemlich überaltert.

      Keiner seiner Kollegen aus dem Kirchenkreis hatte sich nach der 25-Prozent-Stelle in Eichberg gedrängt. Seit etlichen Jahren war nur noch ein Gottesdienst pro Monat gehalten und Beerdigungen, Trauungen oder Taufen unter den Kollegen aufgeteilt worden. Im Vorjahr hatte es fünfzehn Beisetzungen gegeben, aber keine einzige Hochzeit oder Taufe.

      Seit diesem März hatte er alle Amtshandlungen übernommen und wieder jeden Sonntag einen Gottesdienst gehalten. Die Besucherzahl war von sechzehn auf regelmäßig über zwanzig Personen angestiegen. Immerhin, eine Steigerung um mehr als dreißig Prozent. Martin schmunzelte wieder.

      »Ich hoffe, Sie wissen, auf was Sie sich da einlassen«, hatte der Superintendent ihn gewarnt und dabei an seinem weißen Vollbart gezupft, »Eichberg ist ein schwieriges Pflaster. Es gibt so gut wie kein Gemeindeleben mehr. Sie können das nicht mit Ihrer fränkischen Heimat vergleichen. Erwarten Sie nicht zu viel.«

      Genau deshalb hatte er sich ja auf diese Stelle beworben, denn er war nicht Pfarrer geworden, um irgendwo bis zur Rente eine schrumpfende Herde Gemeindeschäflein zu verwalten.

      Außerdem eignete sich das Eichberger Pfarrhaus bestens für seine Pläne. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Mitglieder des Gemeindekirchenrates auf seinen Vorschlag für die Belebung des alten Pfarrhauses so positiv reagieren würden: Sie waren von Anfang an Feuer und Flamme.

      »Jetzt müssen wir nur noch die anderen Eichberger überzeugen. Wie das klappen soll, weiß ich nicht. Danke, dass du mir heute Mittag die richtigen Worte schenken wirst. Ich vertrau dir«, betete er leise. Dann schickte er in Gedanken einen Segenswunsch zu den Eichbergern hinüber.

      Dieser Ort war viel mehr als eine Ansammlung von Gebäuden. Es ging um die Menschen hinter den Mauern. Würde er einen Weg zu ihren Herzen finden? Auch das lag nicht in seiner Hand und war letztlich Chefsache – oder altmodisch ausgedrückt: Gottes Gnade.

      Mit diesen Gedanken kehrte Martin zu seinem dunkelblauen VW-Bus zurück, stieg ein und fuhr ins Tal hinunter.

      Noch eine knappe Stunde bis zum Termin. Martin hatte alle Stühle, die er im Haus finden konnte, in das große Erdgeschosszimmer auf der Gartenseite gestellt. Hoffentlich reichten sie aus.

      Draußen bewegte sich etwas. Er ging ans Fenster. Herr Lischka stand nachdenklich vor dem verwilderten Hochbeet. Martin eilte zu ihm hinaus.

      »Grüß Gott, Herr Lischka. Schön, dass Sie schon da sind.«

      »Guten Tag, Herr Pfarrer. Können Sie mir helfen? Ich möchte gerne das Beet ausmessen, aber meine Arme sind zu kurz.« Er zog ein Bandmaß aus seiner Jackentasche.

      In kurzer Zeit hatten sie miteinander Breite und Länge ermittelt.

      »Gut, passt sehr gut«, nickte der alte Mann und lächelte verschmitzt, »wegen der Kurvenradien. Ich würde nämlich gerne einen persönlichen Beitrag zu unserem Projekt leisten. Vorausgesetzt, Sie wollen hier keine Radieschen anbauen.«

      »Nein, nein, Herr Lischka. Mein Gemüse kaufe ich mir im Supermarkt. Was haben Sie denn vor?«

      »Wenn wir unser Kirchgartenfest veranstalten, brauchen wir Attraktionen, damit viele Leute kommen, richtig?«

      Martin nickte. Darüber hatten sie bei ihrer letzten Versammlung gebrütet: wie sie die Mehrzahl der Eichberger hinter dem Ofen vorlocken könnten, die sonst nichts mit der Kirche am Hut hatten.

      »Ich baue einen Teil meiner Garteneisenbahn auf und lasse ein paar Raritäten aus meiner Sammlung fahren. Wenn ich das im Roten Ochsen unters Volk bringe, kommt das ganze Dorf.«

      »Das ist ja eine tolle Idee!«

      »Bis vor zwei Jahren haben wir jeden Sommer einen Gartenbahn-Fahrtag bei uns zu Hause veranstaltet. Damals konnte meine Frau noch. Das war immer ein schönes Fest für ganz Eichberg und Umgebung.«

      Martin wusste, dass Lischkas Frau vor etwas mehr als einem Jahr gestorben war. Immer, wenn der alte Herr über sie sprach, legte sich ein trauriger Schatten auf sein Gesicht. Jetzt drehte er sich um und zeigte zum Haus.

      »Alles klar da drin für die Schlacht, Herr Pfarrer?«

      »Im Haus schon, aber – ich bin, ehrlich gesagt, ziemlich nervös.«

      »Lassen Sie sich nicht vom Bürgermeister einschüchtern. Der kocht auch nur mit Wasser.«

      Lischka legte ermutigend seine Hand auf Martins Schulter.

      »Also, junger Mann, dann gehen wir es an – mit Gottes Hilfe.«

      Die beiden gingen zurück ins Haus. Kurz darauf trafen nacheinander die anderen Kirchenältesten und Gemeinderäte ein. Zuletzt fuhr Bürgermeister Lohmann mit seinem weißen BMW direkt vor den Eingang. Doch eine Sitzungsteilnehmerin fehlte noch. Wo blieb nur die Kita-Leiterin?

      Die Kirchturmuhr hatte gerade viermal die kleine und einmal die große Glocke geschlagen, da huschte eine junge Frau ins Zimmer und ließ sich auf den letzten freien Stuhl fallen. Jetzt war die Versammlung komplett. Martin setzte sich vorsichtig auf die Fensterbank.

      Nachdem der Bürgermeister alle begrüßt hatte, bat er ihn, sich vorzustellen und sein Anliegen zu erläutern.

      Er bekam einen Kloß im Hals, als sich alle Blicke auf ihn richteten. In seinen Ohren rauschte es. Willi Lischka nickte ihm ermunternd zu. Martin hustete, versuchte mit der linken Fußsohle bewusst den Kontakt zum Boden zu spüren, und fing mit einer kurzen Vorstellung seiner Person und Aufgaben an. Schnell wurde seine Stimme fester.

      »Den anderen Teil meiner Arbeitszeit bin ich für die Diakonie tätig. Vor allem in dem großen Übergangslager der Stadt. Ich habe eine Zusatzausbildung als Psychologischer Seelsorger und betreue sowohl das Personal als auch Flüchtlinge. Sie wissen vielleicht, wie schwierig die Situation im Lager ist. Es ist hoffnungslos überbelegt mit Menschen, die oftmals Schreckliches durchgemacht haben. Vor allem alleinstehende Frauen mit Kindern leiden ohne Ende unter diesen Bedingungen. Unsere Idee ist, einigen dieser Menschen eine Oase der Sicherheit und Erholung zu schenken, damit sie wieder Mut schöpfen und sich auf das Leben in Deutschland vorbereiten können. Deshalb würden wir die Räume im Erdgeschoss gerne renovieren, so dass maximal acht Personen Platz finden. Ich selber werde ins Dachgeschoss ziehen und verantwortlicher Ansprechpartner der Wohngruppe sein.«

      Hier machte er eine Pause. Im Raum war es mehrere Atemzüge lang vollkommen still.

      »Wer finanziert das?« Zwischen Lohmanns Augenbrauen stand eine steile Falte.

      »Der Großteil kommt vom Landratsamt, die Seelsorgestiftung gibt einen festen Betrag dazu, den Rest wollen wir durch Spenden aufbringen und dafür einen Unterstützer-Verein gründen.«

      »Was könnten wir vom Gemeinderat außer der Genehmigung denn noch für Sie tun?«, fragte die einzige Frau im Gremium.

      »Die Kinder sollten den Kindergarten besuchen und möglichst schnell gut Deutsch lernen. Die Mütter natürlich auch. Können Sie uns darin irgendwie unterstützen?«

      Alle sahen zu Willi Lischkas Enkelin hin, die jetzt steif wie ein Stock auf ihrem Stuhl saß und ihn mit halboffenem Mund anstarrte.

      Der Bürgermeister polterte los. Zu der Zornfalte war jetzt noch eine entsprechende Gesichtsfarbe gekommen.

      »Wie stellen Sie sich das vor, Herr Pfarrer? Ich kann doch nicht mein Personal für Ihre Flüchtlinge


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