Freud in Maloja. Franz Maciejewski

Freud in Maloja - Franz Maciejewski


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vielmehr als Wiedergängerin einer älteren Gestalt des Eros aus den Kindertagen des kleinen Sigmund. Wie die Julierstraße als Teil des altrömischen Wegenetzes über viele Etappen hinweg mit Rom als dem geheimen Mittelpunkt verbunden war, so wird sich zeigen, dass die Wege der Libido, auf denen Freud in Maloja gewandelt ist, in den Spuren seiner unglücklichen Kindheit verlaufen. Gemeint ist der Zwei-Mütter-Komplex, den Freud in seiner Freiberger Zeit erworben hat, als seine Erziehung konkurrierend in den Händen seiner Mutter Amalie und der als Ersatzmutter fungierenden Kinderfrau lag. Vor diesem Hintergrund ist die erotische Annäherung an die beiden Bernays-Schwestern Minna und Martha als Wiederholung einer infantilen Episode zu verstehen. Die Rekonstruktion dieser Tiefenschicht wird das geheime Zentrum der seelischen Heimat Freuds freilegen, Wegenetz und Beziehungsgeflecht in einem, das ihm bei allen späteren Erkundungen – die Umseglung erotischer Kontinente eingeschlossen – als eine Art topographisches Schnittmuster von Liebe und Hass gedient hat. So betrachtet vermag uns das libidinöse Begehren Freuds über alte und anhaltende Triebkonflikte aufzuklären, die den Begründer der Psychoanalyse in deren formativer Phase beherrschten – mit unvermeidlichen Folgen für die Theorie. Die gemeinsame Reise ins Engadin erscheint somit als eine mehrschichtige Zeitreise in die Vergangenheit. Für die Entzifferung ihrer Bedeutung dürfen wir getrost auf die Aufklärungsmetapher der Archäologie zurückgreifen, der sich Freud selber in seinen Werken immer wieder bedient hat:

      »Nehmen Sie an«, schreibt Freud in Zur Ätiologie der Hysterie (1896), »ein reisender Forscher käme in eine wenig bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten, Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und unlesbaren Schriftzeichen sein Interesse erweckte. Er kann sich damit begnügen zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die in der Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was ihnen die Tradition über die Geschichte und Bedeutung jener monumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen und – Weiterreisen. Er kann aber auch anders vorgehen; er kann Hacken, Schaufeln und Spaten mitgebracht haben, die Anwohner für die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken. Lohnt der Erfolg seiner Arbeit, so erläutern die Funde sich selbst. (...) Saxa loquuntur! [Die Steine reden!]«

      Dieses Diktum gilt auch für den Fund von Maloja. Die Minna-Affäre ist nichts als der verworfene Eckstein am Gebäude der Psychoanalyse, das zu großen Teilen aus dem Steinbruch der Freudschen Biographie, dessen verschüttete Teile bis auf den heutigen Tag noch nicht vollständig freigelegt sind, erwachsen ist. In den aufgedeckten Erinnerungsschichten erkennen wir, mit dem schönen Wort von Conrad Ferdinand Meyer, den Menschen Freud »in seinem Widerspruch« – und dahinter »das ausgeklügelt Buch« der Psychoanalyse. Die Bedingungen der Niederschrift dieses Buches besser verstehen und dabei unberücksichtigt Gebliebenes zur Geltung bringen zu können, ist der tiefere Sinn der Unternehmung.

      Die Reise auf mehreren Zeitebenen – Leitfaden des vorliegenden Buches – führt dabei unversehens aus dem Zirkel und Wirbel der Minna-Affäre heraus zu ganz anderen Begegnungen. Wir werden Freud auf Anregung seines Freundes Wilhelm Fließ, eines glühenden Verehrers des zuvor zitierten Schweizer Dichters, auf den Spuren von Jürg Jenatsch (des Graubündner Freiheitshelden, dem C.F. Meyer ein literarisches Denkmal gesetzt hat) reisen sehen und umgekehrt erleben, wie sich die Bahnen von Freud und Giovanni Segantini, dem Genius loci der Engadiner Bergwelt, auf Sichtweite annähern – wenn nicht kreuzen. Überraschende Treffen mit Gestalten der Literatur und Kunst treten aus dem Dunkel einer alten Geschichte ins Helle, um den Leser im Gegenlicht des Schrillen mit Bildern eines noch weithin unbekannten, leisen und nachdenklichen Freud zu konfrontieren.

      Umgekehrt stoßen die Grabungen auf abgesunkene Katakomben und Todeslandschaften, zu denen vor allem eine von der Freud-Biographie kaum gewürdigte Schicht der Freudschen Militärzeit zählt: die Teilnahme am Balkanfeldzug von 1878/79, welcher der Eroberung Bosniens und der Herzegowina durch die Habsburger Monarchie galt. Als Freud 20 Jahre später als Tourist in die Herzegowina zurückkehrt, ereignet sich die berühmt gewordene Signorelli-Episode – das Vergessen des »Namens des großen Malers, der das Weltgericht in Orvieto gemacht hat«. Es wird sich zeigen, dass die alten Kriegserlebnisse in die Signatur jener Fehlleistung Eingang gefunden haben und dass die Affäre Minna der Schlüssel ist, sie dort zu entziffern und zu verstehen.

      1. Die Geschichte der Entdeckung

      Ein Interview mit dem britischen Radiosender

      Planet Freud

      Planet Freud: Ihre Entdeckung des Hoteleintrags von Maloja hat unter Freudianern ein mittleres Beben ausgelöst. Uns interessiert an dieser Stelle die Geschichte hinter der Geschichte. Wie sind Sie der Sache auf die Spur gekommen?

      F.M.: Auf Umwegen. Als ich meine Recherche im Oktober 2004 begann, glich sie der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Proust’sche Erzähler erinnert sich an zwei Seiten für Spaziergänge, die sich von Combray aus zu gehen anboten, der Seite von Méséglise und der Seite von Guermantes. Die Wege seien einander so entgegengesetzt gewesen, dass er nicht einmal durch die gleiche Pforte aufbrach, um in die eine oder andere Richtung zu gehen. Und die Vorstellung, über Guermantes nach Méséglise zu gehen oder umgekehrt, sei so absurd gewesen wie die Idee, nach Osten aufzubrechen um nach Westen zu gelangen. Es wäre die Umrundung von Swanns Welt gewesen, die aber nur absichtslos gelingen kann. Ganz ähnlich ist es mir mit der Reise um den Planeten Freud [lacht] ergangen. Ich bin nach Osten gegangen, ohne zu ahnen, dass ich insgeheim nach Westen lief.

      Planet Freud: Und Ihre beiden Wege waren ...

      F.M.: ... die Seite von Freuds Schwester und die Seite von Freuds Bruder. Mit Schwester meine ich natürlich Freuds Schwägerin Minna, seine sister-in-law also »Schwesternach-dem-Gesetz«, wie es im Englischen so treffend heißt. Mit Bruder ist Freuds jüngerer, früh verstorbener Bruder Julius gemeint. Ich bin damals gerade nicht durch das große Tor der Minna-Frage nach der Seite der Schwester aufgebrochen, sondern umgekehrt durch die kleine Pforte der Bruder-Seite. Und von hier ging es wirklich nach Osten, in die alte mährische Heimat der Freuds nämlich, die heute Teil der Tschechischen Republik ist. Ich wollte dort in alten Archiven stöbern.

      Planet Freud: Um mehr über Julius zu erfahren.

      F.M.: Ja. Die kurze aber intensive Begegnung zwischen Sigmund und Julius ist ein faszinierendes Kapitel im Leben Freuds. Übrigens mit einer ungeheuren Nachwirkung. Freud selbst hat bekannt, dass er die Ankunft dieses, wenn ich so sagen darf, »Bruders-nach-der-Geburt« mit bösen Wünschen begleitet hat. Hernach, nach dem tatsächlich eingetretenen Tod (Julius starb mit 8 Monaten), blieben nicht vergehende Schuldgefühle zurück. Freud zählte diese traumatische Episode seiner frühesten Kindheit zum Kernbestand seiner Neurose. So machte er sie unter anderem für zwei Ohnmachtsanfälle, 1909 in Bremen und 1912 in München, verantwortlich. Ich sprach von Freuds Leben. Mich trieb die Frage um, welchen Einfluss der tote Julius auf das Werk des Gründers der Psychoanalyse genommen hatte.

      Planet Freud: Das klingt ein bisschen verwirrend.

      F.M.: Ist es auch. Ich ging nämlich davon aus, dass der Geist von Julius in Freuds Werk unter anderem Namen herumspukte.

      Planet Freud: Wie bitte?

      F.M.: Wie jeder jüdische Knabe, so hatte auch Julius anlässlich seiner Beschneidungsfeier einen zweiten Namen verliehen bekommen. Freuds jüdischen Namen kennen wir, er lautet Schlomo. Der von Julius ist unbekannt. Ich war, um die Sache auf den Punkt zu bringen, auf der Suche nach dem verlorengegangenen jüdischen Namen von Julius. Er schien ein Geheimnis zu bergen, wie schon Ernest Jones vermutet hat.

      Planet Freud: Freuds bulldog.

      F.M.: Jones bekennt in seiner Biographie, nicht nur nach dem zweiten Namen von Julius, sondern nach einem bestimmten Namen gesucht zu haben. Er hat versucht herauszubringen, ob Julius nicht auf Jüdisch Moses geheißen haben könnte. In diesem Fall, so Jones’ kryptische Botschaft, hätte Freuds Identifizierung mit der Gestalt des Moses die tiefere Bedeutung einer Hassreaktion gehabt, wie bei Napoleon gegenüber seinem


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