Freud in Maloja. Franz Maciejewski

Freud in Maloja - Franz Maciejewski


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an die Arbeit gemacht. Es war eine beispiellose Herausforderung – und meine letzte Chance.

      Planet Freud: Offensichtlich ist es Ihnen gelungen, sich trotz der Widrigkeiten einen Zugang zu verschaffen. Wie ging das vonstatten?

      F.M.: Ich ging zunächst die Frage der Datierung an: Wann und bei welcher Gelegenheit hat sich Sigmunds Freud’sche Fehlleistung ereignet? Und schon war die erste Überraschung perfekt. Ganz offensichtlich war das Vergessen auf eben jener Reise passiert, die Freud zusammen mit Minna Bernays im Sommer 1898 unternommen hatte und die die beiden ins Engadin führte. Mit einem Schlag, aber völlig unerwartet, befand ich mich auf der Spur, die mich über viele Stationen letztlich nach Maloja fuhren sollte.

      Planet Freud: Sie haben auf der dunklen Seite des Planeten den Anschluss an den Weg der Schwester gefunden.

      F.M.: Ja, aber es hat noch lange gedauert, bis mir die Bedeutung klar wurde. Zunächst blieb der Bruder das Leitmotiv. Ich konnte die mit Unlustgefiihlen verbundene Reminiszenz an Julius als einen Grund in dem vielschichtigen Vorgang des Vergessens von »Mosen« nachweisen. Über Wortbrücken wie »Julier« (einer altrömischen Heerstraße, die vom bündnerischen Chur über den Julierpass und Maloja nach Chiavenna führt) und »Julian« (einer Gestalt aus C. F. Meyers Novelle »Das Leiden eines Knaben«, die Freud vor Reiseantritt gelesen hatte) war der Geist von Julius wiedergekehrt. Er hatte teil an der Reise mit Minna. Wie ich bereits kurz erwähnte, hatte Freud die Geburt des Bruders – des Rivalen um die Liebe der Mutter – einst mit Todeswünschen begleitet und bei dessen tatsächlichem Ableben bleibende Schuldgefühle erworben. Julius verkörperte deshalb die bedrohliche Verklammerung von Liebe und Tod. Ganz offensichtlich war es die erotische Besetzung von Minna, welche über die Kraft verfügte, die Affektlage dieser älteren Schicht wiederzubeleben. In einer weiteren Schicht mischten sich dann die Schuldgefühle wegen der inzestuösen Liebesbeziehung in diesen Komplex hinein.

      Planet Freud: War mit dieser Deutung das Rätsel der »Julius Mosen«-Fehlleistung denn schon gelöst?

      F.M.: Nein, keineswegs. Das war ein langwieriger Prozess, das geduldige Zusammenlegen eines Puzzles. Die meisten Einzelstücke des Materials, das ich fand oder gewann, waren anfänglich völlig ungeordnet. Viele wichtige Schritte entpuppten sich als Zwischenschritte. Auch die Zerlegung des Rätsels in zwei Hälften, die Bruderseite von Julius und die Schwesterseite von Minna, erwies sich als eine solche Etappe. Ich habe das Vergessen von »Julius Mosen« von Anbeginn als Pendant zu einem anderen Fall verstanden, der später berühmt gewordenen »Signorelli«-Fehlleistung. Es gibt da eine überraschende Dopplung, eine Zweiheit der Geschichte. Freud reist mit Minna ins Engadin; auf dieser Reise unterläuft ihm das Vergessen von »Julius Mosen«. Nach seiner Rückkehr bricht Freud zu einer zweiten Reise mit Martha auf, seiner Ehefrau; sie reisen nach Dalmatien. Auf dieser Fahrt vergisst er den Namen des Malers »Luca Signorelli«. Was steckt dahinter? Zugespitzt formuliert: Es geht nicht allein um Schwester Minna, sondern um die beiden Schwestern Martha und Minna – aber in der Rolle von Müttern. Ein Dreieck wird sichtbar: Sigmund im Spannungsverhältnis zwischen seinen beiden Müttern, der guten und der bösen Mutter, der leiblichen Mutter und der Ersatzmutter. Szenisches Verstehen lässt natürlich sofort an die ferne Reise nach Roznau denken, die der kleine Sigmund 1½-jährig an der Seite von Mutter und Kinderfrau unternommen hat, überwältigt von Hass gegen den unerwünschten Dritten, den im Mutterleib heranwachsenden Julius. Dessen nahe Ankunft hat ja die Anwesenheit der Kinderfrau – und damit die »Zwei-Mütter-Kindheit« – überhaupt erst nötig gemacht. »Die Reise nach Roznau« ist gewissermaßen das topographische Urmeter, mit dem wir die Wegstrecken der Liebe und des Hasses, die Freud gegangen ist, immer wieder messen müssen. In diesem Licht entpuppten sich die beiden Reisen, die mit Minna nicht anders als die mit Martha, nach und nach als Reinszenierungen des älteren Vorbilds.

      Planet Freud: Diese Zusammenhänge und Verknüpfungen sind das Ergebnis späterer Arbeit, sagten Sie. Aber wie haben Sie Maloja und das Hotel erlebt, als Sie das erste Mal vor Ort waren?

      F.M.: Maloja hat in seiner exponierten Lage etwas zutiefst Janusköpfiges. Der Ort schaut gelassen zurück auf das alpine Hochtal und blickt in umgekehrter Richtung wie erregt nach Italien, dessen Versprechen sich durch einen jähen Absturz in das wildschöne Val Bregaglia (Bergell) andeutet. Dort der weite Panoramablick entlang des nach Norden fließenden Inn, hier das nervöse Blinzeln nach dem Süden. Der schlagartige Wechsel, den man erlebt, wenn man in 1800 Metern Höhe aus der Sonne in den Schatten tritt und den etwa Segantini auf seinen Bildern evoziert, hat hier seine genaue Stelle. Diesen letzten Außenposten haben sich Freud und Minna als Abschluss ihrer Reise auserkoren, so als hätten sie eine Grenze erreicht und ihr Äußerstes gewagt. Aus den Reisebriefen wissen wir, dass sie ursprünglich planten, nach Chiavenna abzusteigen in Richtung des Comersees. Freud zufolge unterließen sie den Abstecher wegen zu großer Hitze. »Es fehlte uns der Mut«, schreibt er wörtlich. Ich führte damals ein Reisetagebuch und notierte: War das Schweizerhaus ein Hotel (am) Abgrund? Ich schrieb dies, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, Erkundigungen über das Logis der beiden einzuziehen.

      Planet Freud: Wie erklärt sich dieser Mangel an Neugier?

      F.M.: Ich sollte an dieser Stelle nachtragen, dass meine Recherche in jenen Tagen längst Teil eines Buchprojektes geworden war. Ich schrieb, immer vor dem Hintergrund der Freud’schen Mosesfantasie, an einem Buch über das Leben, den Tod und das Nachleben von Julius; ein Buch ...

      Planet Freud: ... das Ende 2006 unter dem Titel »Der Moses des Sigmund Freud« erschienen ist.

      F.M.: Ja. Ein Buch, in dem der Blick auf den »unheimlichen Bruder« – so der Untertitel – vorherrschend blieb. Das ist das eine. Auf der anderen Seite wurde die von Autoren wie Ferenczi, Jung oder Swales nahegelegte Vermutung, Freud und Minna hätten (zumindest zeitweise) eine intime Beziehung unterhalten, für mich durch die Ergebnisse meiner eigenen Arbeit nahezu zur Gewissheit. Die Deutung von Träumen aus jener Zeit, die Analyse von Lektüren und Briefen Freuds, die fortschreitende Auflösung der »Julius Mosen«-Fehlleistung: alles wies in diese Richtung.

      Planet Freud: Das heißt, Sie verspürten keinerlei Notwendigkeit, nach einem unabhängigen Beweis in der Sache zu suchen.

      F.M.: Genau so war es – und so ist es die ganze Zeit der Niederschrift über geblieben. Buchstäblich erst kurz vor der Drucklegung meines Buches – ich hielt die Korrekturfahnen bereits in Händen – beschlich mich das Gefühl, in Maloja etwas Wichtiges vergessen zu haben. Ich hätte aber nicht sagen können was. Wenige Wochen zuvor hatte ich Kontakt mit dem Direktor des Hotels, in dem Freud und Minna Bernays vor mehr als hundert Jahren übernachtet hatten, aufgenommen. Ich dachte, er müsste Interesse an der alten Geschichte haben und wollte ihm ein Exemplar meines Buches zum Geschenk machen. Tatsächlich hatte er bis dahin keine Ahnung davon, dass Sigmund Freud einmal zu Gast im Schweizerhaus gewesen ist. Aber ihn interessierte die Sache sehr, da er für das im darauf folgenden Jahr anstehende 125-jährige Jubiläum des Hauses an einer Chronik arbeitete. Wir vereinbarten ein Treffen vor Ort, das im August 2006 zustande kam. Ich verband diese Reise mit einem Kurzurlaub und reiste mit meiner Familie. Wir wurden als Gäste erwartet, und meine Frau und ich erhielten das Zimmer N° 23, ein Doppelzimmer im alten Stil. Unser Sohn schlief in einem benachbarten Einzelzimmer. Erst am Vormittag des folgenden Tages fand die geplante Unterredung mit den Hotelbesitzern, Herrn und Frau Wintsch, statt. Ich werde nie meine Verblüffung vergessen, als ich bemerkte, dass sie das alte Gästebuch schon dabei hatten. Sie waren einfach neugierig zu erfahren, ob meine Behauptung, Freud sei am 13. August 1898 in »ihrem« Hotel abgestiegen, wirklich stimmte. Ich fand in der großen, in Leder eingebundenen Kladde schnell Jahr und Monat. Auf der betreffenden Seite fuhr ich mit dem Finger die Zeilen runter – und voilà, da war der Eintrag Freuds in der mir vertrauten Handschrift. Nun, den Rest kennen Sie.

Beskrivelse i billedtekst

      Freuds Hoteleintrag (5. Zeile von oben): »Dr Sigm Freud u Frau – Wien«

      Planet Freud: Nicht ganz. Sie konnten aufgrund


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