Freud in Maloja. Franz Maciejewski

Freud in Maloja - Franz Maciejewski


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      F.M.: Hier sind zwei Fäden miteinander verwoben, die auseinander gehalten werden müssen. Hintergrund ist zunächst die obsessive Beschäftigung Freuds mit dem Moses, wie sie in den beiden Büchern »Der Moses des Michelangelo« und »Der Mann Moses und die monotheistische Religion« ihren Ausdruck gefunden hat. In Briefen, die Freud während der Entstehungszeit dieser Werke schrieb, finden sich Wendungen, die aufhorchen lassen: Moses verfolge ihn unablässig, er plage ihn wie »ein unerlöster Geist«. Aus Formulierungen wie diesen hat Jones den Schluss gezogen, dass Freud unbeherrschte gefühlsmäßige Gründe gehabt haben muss, um sich ein Leben lang mit der mächtigen Gestalt zu beschäftigen, ja, zu identifizieren. Nun hat Freud selber in Briefen an Arnold Zweig und Thomas Mann die Skizze einer angeblichen Josefsfantasie Napoleons zu Papier gebracht. Sie dient ihm als Musterbeispiel einer Lebensführung, dessen verschlungene Wege durch das einigende Band eines Namens (Josef), des Namens eines ursprünglich verhassten Bruders, zusammengehalten werden. Die Berechtigung, dieses analytische Vorbild versuchsweise auf Freud zu übertragen, dürfte sich für Jones aus der Art und Weise ergeben haben, mit der dieser den Geschwisterhass beschreibt. Freud spricht sinngemäß von einer elementaren, unergründlich tiefen Feindseligkeit des kleinen Napoleon gegenüber dem älteren Bruder. Josef zu beseitigen, sich an seine Stelle zu setzen, sei seine stärkste Gefühlsregung gewesen, für die heute die Bezeichnung Todeswunsch angemessen erscheine. Die Lektüre dieser Passagen führt zu einem unwillkürlichen Déjà-vu-Erlebnis: Hat sich Freud nicht mit ganz ähnlichen Worten zu Todeswünschen gegenüber seinem Bruder Julius bekannt? Verbarg sich nicht hinter der Absicht, Julius zu beseitigen, sich an seine Stelle zu setzen, wieder der bevorzugte Liebling der Mutter zu werden, die stärkste Gefühlsregung des kleinen Sigmund?

      Planet Freud: Eine sehr weitgehende »Freud-Fantasie«, die Sie Jones da unterstellen, nicht wahr.

      F.M.: Jedenfalls muss Jones intuitiv sehr sicher gewesen sein, das Richtige getroffen zu haben. Sonst hätte er die Anmerkung gegenüber Anna Freud, die bekanntlich jedes Wort der großen Biographie abgesegnet hat, nicht durchsetzen können. Ich glaube auch, dass Jones die Pointe klar vor Augen stand: Wenn Julius Moses geheißen hat, dann war niemand anderer als dieser unheimliche Bruder das Original hinter der vielschichtigen Figur des Moses des Sigmund Freud.

      Planet Freud: Hat Jones die Sache denn herausbekommen?

      F.M.: Nein. Er wurde nicht fündig, was nicht bedeutet, dass die Fährte falsch und der Fall damit erledigt war.

      Planet Freud: Sie haben also mit Ihrer Recherche die Spurensuche von Jones dann wieder aufgenommen. Richtig?

      F.M.: So kann man das sagen. Das geschah ziemlich genau 50 Jahre danach und unter gänzlich veränderten Bedingungen. Zwei Felder boten sich für eine neue Erforschung an. Auf der einen Seite gab es die Freud Archives, die größte Sammlung von Dokumenten und Papieren zu Freuds Leben und Werk. K. R. Eissler hat sie unter dem Dach der Library of Congress, Washington D.C., aufgebaut und verwaltet. Das Findebuch zur Sammlung weist u.a. diverse Familienpapiere aus (Family Papers, 1851–1978), aber die meisten dieser vielversprechenden Bestände sind aufgrund einer restriktiven Archivpolitik noch auf Jahre gesperrt. Ich habe gleichwohl an den derzeitigen Direktor Harold P. Blum eine Anfrage gerichtet und nachgefragt, ob seiner Kenntnis nach der zweite Name von Julius Freud in den Beständen der Freud Archives irgend dokumentiert ist. Der Bescheid fiel negativ aus [Anhang B].

      Planet Freud: Damit blieb nur noch der Weg in die zugänglichen Archive von Freuds alter Heimat.

      F.M.: So ist es. Die Bedeutung dieser Archive für die Freud-Forschung war durch wichtige Funde bekannt. Eine erste Sichtung von Freudiana hatte längst stattgefunden. So hat Josef Sajner im Staatsarchiv von Troppau (Opava) die »Matrik der Abschriften der Andersgläubigen Freibergs« eingesehen und dort den Geburtseintrag von Sigmund Freud entdeckt. Aber mehr noch, er konnte die Einträge all derjenigen Kinder, die wir aus den beiden Freud-Familien (von Jakob Freud und seinem ältesten Sohn Emanuel) kennen, präsentieren. Nur für Julius fand sich kein Eintrag – was wahrscheinlich macht, dass er nicht in Freiberg geboren wurde. Diese Nachforschungen bezogen sich nicht nur auf Freiberg, den Wohnort der Freuds, sondern nach und nach auch auf benachbarte Orte wie Roznau, einem nahe gelegenen Kurort. Im Zuge dieser erweiterten Suche hat Sajner eine Eintragung im Kurblatt von Roznau entdeckt, die belegt, dass sich »Amalie Freud, Wollhändlersgattin mit dem Kinde Sigmund und dem Dienstmädchen Resi Wittek von Freiberg« unter dem Datum vom 5. Juni 1857 im »Haus Nr. 180« einquartiert hat. Aufgrund dieser Quellenlage und in Kombination mit dem Wissen, dass Amalie Freud bei Kurantritt bereits hochschwanger war (notabene: mit Julius), habe ich an anderer Stelle die These vertreten, Freuds Mutter könnte ihren zweiten Sohn in Roznau zur Welt gebracht haben.

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      Der Marktplatz von Roznau um 1850

      Planet Freud: Womit Roznau zum Dreh- und Angelpunkt der Recherche wurde.

      F.M.: Roznau und andere Orte des Distrikts. Als ich im Oktober 2004 das Staatsarchiv von Troppau aufsuchte, war es in der Tat meine Absicht, die Matrikeln von Roznau nach einem Geburtseintrag von Julius zu überprüfen. Neben einer Bestätigung für die These der Geburt in Roznau, erhoffte ich im günstigen Fall einen Hinweis auf den zweiten Namen von Julius. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Matrikelbestand von Roznau überhaupt keinen Anhang zide (d.h. jüdische Einträge) hatte. Der angenommene Fall: Geburt in einem Kurort (Roznau), der nicht der Heimatort (Freiberg) ist, scheint verwirrend, weil nicht klar ersichtlich ist, welche Stelle (Rabbinat, Gemeinde) für den Geburtseintrag zuständig ist. Roznau schied aus, da es dort keine eigenständige Israelitische Kultusgemeinde (IKG) gab. Nach Lage der Dinge, d.h. nach Einschätzung der kommunalen und religiösen Bedeutung der umliegenden Gemeinden, kamen die Matrikeln von Wallachisch Meseritz, Neutitschein, Vsetin und Weisskirchen in Frage. Alle diese Unterlagen lagern im Staatlichen Zentralarchiv von Prag. Dort habe ich als erstes das Geburtsbuch von Wallachisch Meseritz einsehen können. Ich tat dies mit gestiegener Erwartung, denn laut Katalog sollten die jüdischen Matrikeln mit dem Jahre 1857 beginnen, dem Geburtsjahr von Julius. Leider waren die interessierenden ersten Seiten herausgerissen.

      Planet Freud: Das muss sehr enttäuschend gewesen sein. Wie ging es weiter?

      F.M.: Die Leiterin der 1. Abteilung des Staatlichen Zentralarchivs, Frau Dr. Lena Matusikova, half mir, die anderen erwähnten Matrikelbestände zu überprüfen. Das Ergebnis war ernüchternd: Weder die Kontrollmatrikel der IKG in Neutitschein noch die in Vsetin enthielten irgendeine Angabe zu Julius Freud. Im Bestand der Geburts- und Sterbematrikeln der IKG in Weisskirchen klaffte dagegen für die Jahre 1857/58 eine Lücke. Nach meiner Rückkehr stand ich – was den erhofften Archivfund anbetrifft – mit leeren Händen da.

      Planet Freud: Haben Sie in dieser Situation daran gedacht, das ganze Projekt aufzugeben?

      F.M.: Im Frühjahr 2005 stand ich wirklich nahe davor. Ich kam, um ein Bild von Freud aufzugreifen, mir vor wie eine Tänzerin, die auf einer Zehenspitze balanciert, sprich: mit minimaler Bodenhaftung.

      Planet Freud: Was bewirkte den Umschwung?

      F.M.: Ich wusste von einer wenig beachteten Fehlleistung Freuds aus dem Jahre 1898. Es handelt sich um das Vergessen eines Eigennamens, den ersten Fall dieser Art überhaupt, den Freud erwähnt hat. Ihm war der Name des Dichters, von dem der Andreas Hofer (»Zu Mantua in Banden«) ist, entfallen: »Julius Mosen«. Wie in einem Vexierbild sind in diesem Namen die beiden mutmaßlichen Vornamen von Freuds Bruder versteckt: Julius und Moses. Ich ahnte intuitiv, dass Freud hier das Geheimnis um den jüdischen Namen seines Bruders auf eine vertrackte Art mitgeteilt hatte. Zur Kenntlichkeit entstellt, hätte Walter Benjamin das genannt. Wenn es mir gelingen würde, das Rätsel der Fehlleistung zu lösen, dann könnte ich – so meine Überlegung und Hoffnung – mein Ziel jenseits archivarischer Evidenz doch noch erreichen. Allerdings hatten all die klugen Freud-Forscher die Fehlleistung als nicht-analysierbar beiseite gelegt. Die Ersatznamen, die Freud an Stelle


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