Wer braucht schon eine Null. Christine Corbeau

Wer braucht schon eine Null - Christine Corbeau


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Kommilitonen erhielt, in die renommierte Steuerkanzlei seines Onkels einzutreten, war ich gerade ein Jahr alt. Paps sagt, sie hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und erst dann zugesagt, nachdem er ihr zusicherte, seine ohnehin dem Ende entgegenschreitende Sportkarriere zu beenden, um auf mich aufzupassen.

      Ich konnte mich im Prinzip nicht beklagen, denn er kümmerte sich immer liebevoll um mich. Er kochte, wusch und brachte mich ins Bett. Er sang mir Schlaflieder, begleitet von seiner Gitarre. Als ich größer war, brachte er mir bei zu skaten und zu surfen. Mam nutzte den Freiraum, den er ihr gab, um voll in die Finanzwelt einzusteigen. Inzwischen leitet sie die Kanzlei und ist daher hauptsächlich in der Weltgeschichte unterwegs, um ihre internationale Kundschaft zu betreuen.

       Aber du hast sie erwischt. Morgens auf der Terrasse. Als sie dachten, du hättest schon die erste Nacht in der WG verbracht. Da war sie ganz anders.

      Die plötzliche Erinnerung ließ mich zuerst die Stirn runzeln. Dann aber brach sich ein vorsichtiges Lächeln auf meinem Gesicht Bahn. Vielleicht war da ja doch noch eine andere Seite in ihr drin und sie würde sie mir irgendwann einmal zeigen.

      Den Gedanken schob ich zunächst beiseite und widmete mich wieder der Vervollständigung meines Gepäcks. Das Lächeln aber blieb.

      Verdammt, wo bist du?«, fragte Simon halblaut in den Raum hinein, während er sein Handy anstarrte.

      Er hatte nun bereits zum fünften Mal versucht, bei Martha anzurufen, aber jedes Mal war nur der Hinweis zu hören gewesen, dass der Teilnehmer nicht erreichbar wäre. Das war an und für sich schon ungewöhnlich, denn sie hatte ihr Smartphone immer bei sich. Und jetzt, wo sie auch nicht mehr für die Uni zu schuften brauchte, war sie bestimmt auf der Piste, erst recht an einem Freitagabend, wo sie entweder mit den Mitbewohnern der WG oder mit ihrem umfangreichen Freundeskreis etwas unternahm. Aber seine Anrufe gingen einfach nicht durch.

      War Martha womöglich so weit gegangen, ihn zu blockieren? Aber das würde sie dann trotzdem nicht als offline anzeigen, oder doch? Ausgerechnet jetzt war Raoul nicht da. Er kannte sich mit Telekommunikations-Software aus wie kein Zweiter.

      Ein weiteres Mal schalt er sich dafür, sich selbst in Ruhe gewiegt zu haben, dass er ihr nur ein wenig Zeit lassen müsste, um sich zu beruhigen, damit sie wieder etwas zugänglicher für seine Entschuldigung wäre. Über Nacht hatte er sich dafür Zeit gegeben. Im Prinzip hatte daraus wohl nur der Wunsch gesprochen, sich nicht so bald seinen Verfehlungen stellen zu müssen, denn der Schlaf hatte einfach nicht kommen wollen. Nun war es halb vier und er fühlte sich gleichzeitig hellwach und total kaputt. Der aus Mutlosigkeit erwachsene Wunsch, nicht kommunizieren zu müssen, war inzwischen dem dringenden Bedürfnis gewichen, unbedingt Marthas Stimme zu hören. Simon wusste zwar nicht, ob er in der Lage sein würde, ihr von Egita zu berichten, aber das Gefühl, nicht ehrlich mit Martha gewesen zu sein, nagte an ihm.

      Als hätten die kreisenden Gedanken ein Signal an seine Umwelt gesendet, klopfte es in diesem Moment an seiner Zimmertür.

      Das konnte nur sie sein.

      Egita.

      Abgesehen davon, dass außer ihm nur sie sich in der Wohnung aufhielt, erkannte er ihre Silhouette durch den gefrosteten Glaseinsatz der Tür. Und auch sie musste den Lichtschein der Nachttischleuchte durch das Glas bemerkt haben. Also würde es wenig Sinn machen, nicht auf ihr Klopfen zu reagieren.

      »Come in«, sagte Simon und legte das momentan nutzlose Handy beiseite.

      Die Tür schwang auf. Noch bevor er sie sehen konnte, schwebte ihr Duft zu ihm hinüber. Er schloss kurz die Augen. Das würde doch schwieriger werden, als er gedacht hatte, denn sie hatte das Parfum aufgelegt, das auch Martha meistens trug. Das war Simon an der Lettin bereits aufgefallen, als sie sich in der WG zum ersten Mal getroffen hatten. Damals hatte ihm dies ein angenehm heimatliches Gefühl vermittelt, aber inzwischen war es zur wiederholten Herausforderung geworden.

      »Musst tu nicht rreten Engliss. Weißt tu toch, tass ich kann Deitss won meine Oma.« Mit einem leichten Lächeln trat Egita ins Zimmer.

      Unwillkürlich erhöhte sich Simons Herzfrequenz. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass Egita es nicht absichtlich tat, aber der so herrlich altmodisch klingende Akzent in Verbindung mit ihrem Aussehen – einer Mischung aus Barbie und nordischer Elfe – betätigte in seinem Inneren automatisch etwas wie einen Schalter.

      Sie kam näher.

      Zuerst befürchtete Simon, sie würde sich zu ihm aufs Bett setzen.

      Oder hoffte er es vielmehr?

      Aber sie ging daran vorbei und ließ sich auf seinem Drehstuhl vor dem Schreibtisch nieder.

      »Hap ich kesehen, tass tu noch nicht sslafst. Komme won tanzen. War wirrklich scheen. Ssade, tass tu nicht mitkehst.«

      »Ach weißt du, ich mach mir da nicht so viel draus wie du. In Deutschland hab ich eigentlich nie getanzt. Also nicht zu zweit.«

      »Aper auf Festival, hasst tu wirklich kut kemacht. Weißt tu noch letzte Mal?«

      Sofort ging Simon wieder der Abend vor einigen Wochen durch den Kopf. Zusammen mit Raoul und ein paar Kommilitonen war er von Egita mit aufs jährliche Salsa-Festival geschleppt worden. Zu fortgeschrittener Stunde hatte er sich letztendlich sogar von ihr überreden lassen, sich mit ihr auf die Tanzfläche zu begeben. Wahrscheinlich hatten auch die diversen Caipis, die er zu diesem Zeitpunkt schon intus hatte, dazu beigetragen, dass er sich nicht weiterhin geweigert hatte. Und zu seinem Erstaunen hatte er dort herausgefunden, dass er sich gar nicht einmal so dumm beim Tanzen anstellte. Das und sein leicht benebelter Zustand hatten dazu geführt, dass sie danach …

      Ein weiteres Mal brach er das Sinnieren ab, denn seine Erinnerung hörte noch auf dem Heimweg zur WG auf. Alles andere hatte er nur aus Egitas Schilderungen.

      Sie musste ahnen, was in seinem Kopf vorging, denn Egita blickte ihn mit leicht schräg gelegtem Kopf schmunzelnd an.

      »Oh, aper heute hat derr Instructor uns gezeikt einen neien Tanz. Ta macht Frau kanz pestimmte Pewegunk. Nennt sich ‘tarrassinja’. Ssau mal, keht so.«

      Sie erhob sich und fing an, ihren Oberkörper und den Unterleib fließend vor und zurück zu bewegen. Welle um Welle durchlief sie, von den Füßen bis zum Hals, als ob ihr Körper aus Wasser bestünde.

      Simons Augen wurden immer größer und etwas anderes ebenfalls.

      »Sorry«, presste er hervor.

      Er sprang auf, rannte aus dem Zimmer und ins Bad.

      Er brauchte jetzt unbedingt eine Dusche.

      Eine eiskalte.

      Fast hätte ich es geschafft, auf den letzten Metern bis zum Urlaub noch alles zu versauen.

      Nachdem ich alle meine Sachen verstaut und im Flur zurechtgelegt hatte, fühlte ich mich angenehm leicht, geradezu beschwingt.

      What a difference a call makes, dichtete ich in Gedanken den alten Song von Dinah Washington um und schwebte in Richtung Küche – nicht nur, weil ich plötzlich einen Bärenhunger verspürte.

      Dort waren Hannes, Jule und Flori, meine aktuellen Mitbewohner, in eine heiße Diskussion um die siebte Staffel von GOT vertieft. Auch wenn ich zum gemeinsamen Binge-Watching seit Ewigkeiten keine Zeit mehr gehabt hatte, so war ich doch sofort voll dabei, als sie Ed Sheerans Auftritt in der ersten Episode auswerteten. Von dort kamen wir vom Hundertsten ins Tausendste und es war mitten in der Nacht, als ich zufrieden ins Bett sank. Die anderen wussten Bescheid, dass ich am nächsten Morgen verreisen würde. Nur wohin es gehen würde, hatte ich nicht ausdrücklich gesagt. Ich hatte keinen Bock, mir durch eventuelle Nachfragen doch wieder die Laune vermiesen zu lassen.

      Ein Hämmern


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