Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs. Pavel Kohout

Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs - Pavel Kohout


Скачать книгу
überholten mich. Die Schwerin-Straße war schon vom Nationalmuseum an von der Polizei gesperrt.

      – Laßt mich durch! schrie ich, laßt mich zu ihr!

      Sie ließen mich. In der Straße lagerte der Staub wie schwarzer Nebel. Der Mittag wurde zur Mitternacht voll Brand und Geschrei. Ich ging am Rundfunkgebäude vorbei – wie durch ein Wunder stand es noch – und taumelte wie ein Blinder in die Mánes-Gasse.

      Ihr Haus war unbeschädigt. Trotzdem trommelte ich verzweifelt an das Tor. Ich vergaß die Klingel völlig. Sie öffnete mir, noch im grauen Wintermantel, so wie sie gerade aus der Schule gekommen war. Sie zitterte, war bleich, unfähig, etwas zu sagen. Ich nahm sie an der Hand und führte sie planlos durch die Küche ins Zimmer. Dort umarmte ich sie.

      – Ich liebe dich! Ich geb’ dich nicht her!

      Was ich seit dem Sommer nicht gewagt hatte, war plötzlich möglich. Wir fielen auf das Bett und küßten uns. Ich streichelte sie, wie ich es immer gewollt hatte, und spürte den starken und rauhen Stoff überhaupt nicht.

      Nach einer Weile eilten ihre Eltern herbei.

      Und erst dann, in der Nacht, erst im Traum begann ich die endlose Reihe der Knöpfe zu öffnen, und ich gebe nicht auf, bevor ich nicht den letzten aufgeknöpft habe.

      Der Kellerraum ist durch Holzlatten geteilt. Jede der zwanzig Familien hat hier ihr Abteil. Wie die übrigen haben auch wir schon im Herbst die Kohle in die Ecke geschaufelt. Wir haben hier einen alten Lehnstuhl von Oma, zwei Stühle und ein Tischchen. Mutter strickt beim Schein einer Kerze. So sehe ich sie seit meiner Kindheit. Als Vater arbeitslos war, mußte sie uns ernähren. Ich half ihr, wenn sie den Kaufmannsdamen in den Nachbarvierteln Pullover verkaufte. Nicht hier. Sie wollte nicht, daß man in ihrer Umgebung wußte, wie es der Bankdirektorstochter, die aus Liebe geheiratet hatte, ergangen war. Bezahlt wurde meistens mit Fleisch, Butter und Zucker. Manchmal weinte Mutter, wenn man sie betrog. Oder wenn man sie von oben herab behandelte. Wenn sie Geld bekam, kaufte sie mir Linzertorte. Wenn der Krieg je enden soll und ich Geld habe, fahre ich mit ihr nach Linz. Linz ist für mich wie ein Paradies.

      Sie sieht mich schreiben und sagt:

      – Verdirb dir nicht die Augen!

      – Du verdirbst sie dir auch!

      – Aber du mußt weiter sehen!

      Hinter den Latten bei den Nachbarn bewegt sich der Schatten meines Vaters. Ich höre Vater flüstern. Ich weiß genau, daß er Herrn Jankovec die Abendmeldungen aus London und Moskau weitersagt. Vater ist der gescheiteste Mensch, den ich kenne. Er spricht sieben Sprachen. Ich werde nie begreifen, wie man ihn zwei Jahre ohne Arbeit lassen konnte. Als ich ihn einmal danach fragte, lächelte er:

      – Man hat entweder Geld oder Überzeugung.

      Er hat sicher alle Bücher gelesen, die es überhaupt gibt. Und er ist mutig. Aber darüber darf ich jetzt selbst hier nicht schreiben. Erst später einmal. Vielleicht.

      Sie kommen geflogen. Der ganze Keller ist jetzt still. Immer näher kommt dieses Summen, das alles durchdringt. Jetzt böllert schon die Flak. Die Fenster klirren. Mutter strickt weiter, aber ich sehe, daß sie anderswohin schaut, in eine schrecklich weite Ferne. Keiner von uns will zeigen, daß er Angst hat. Oder habe nur ich Angst? Ja, ich fürchte mich. Ich sehe immerfort diese lustigen farbigen Sprühkerzen und den schwarzen Nebel nachher. Vielleicht fällt in einer Weile eine Bombe auch auf unser Haus. Auch darum beginne ich dieses Tagebuch.

      Ich werde erst siebzehn Jahre alt. Von allem, was es in der Welt gibt, kenne ich nur Krieg, Hunger und Furcht. Die Menschen haben Ozeane überflogen, den Nordpol erobert, wichtige Arzneien entdeckt, so wundervolle Bücher geschrieben wie den «Cyrano de Bergerac», den «Krieg mit den Molchen», den «Kurier des Zaren». Und ich habe noch nichts, gar nichts zustande gebracht. Nichts als das eine:

      Daß ich A. geliebt, am stärksten geliebt habe, sie geliebt habe, wie es nur möglich ist. Mehr werde ich wohl kaum je können, auch wenn ich wie durch ein Wunder diese Nacht überleben sollte. Und wenn nicht? Wenn nicht, so gräbt vielleicht jemand mein Tagebuch mit den drei beschriebenen Blättern aus, auf denen mein ganzes Leben Platz hat, vielleicht gräbt er es aus, vielleicht findet er dich, vielleicht gibt er es dir.

      Dann erinnere dich von Zeit zu Zeit an den Tag, da zum ersten Mal Bomben auf Prag fielen, erinnere dich und setz mir die Knöpfe deines Wintermantels ins Grab, meine Liebe, meine erste und letzte Liebe!

      7. Januar 1968

      (aus dem Tagebuch des Schriftstellers PK)

      Praha

      Als es sich im Oktober wie ein Lauffeuer herumsprach, Antonín Novotný habe auf der Tagung des Zentralkomitees der KPČ Alexander Dubček einen slowakischen Nationalisten genannt, sagte ich bei uns im Theater:

      – Das ist sein Ende.

      – Dubčeks? fragten die Freunde mit Recht, weil dieselbe Anschuldigung vor fünfzehn Jahren eine Postanweisung für den Galgen war.

      – Nein. Novotnýs. Ich glaube, daß es ihm endlich gelungen ist, in Dubček alle Slowaken zu beleidigen, einschließlich der Mitglieder des ZK.

      Erst im Dezember begannen sie es zu glauben, als Nachrichten eintrafen, das folgende Plenum verlaufe stürmisch – dies, obwohl es beinahe zu den Novotnýs nach Hause einberufen war, ins Ballhaus der Prager Burg. Ich hingegen hörte auf, es zu glauben, als die Sitzung auf ihrem entscheidenden Höhepunkt mit der Begründung unterbrochen wurde, daß auch Kommunisten das Recht hätten, Weihnachtsgeschenke einzukaufen. Das klang viel zu glaubhaft, als daß man hätte erwarten können, daß diese Körperschaft jemals einer Entscheidung fähig wäre, die den Interessen der Partei und des Landes tatsächlich entspräche.

      Die gewöhnlichen ZK-Mitglieder kauften also in Prag Pullover, Schlittschuhe oder Wittingauer Karpfen ein, während der bezahlte Apparat in schwarzen Limousinen durch die verschneite Landschaft raste, um in den Bezirken und Kreisen die Stabilität der Monarchie zu erneuern.

      Die Grundfrage lautete: Sind die Slowaken wirklich so beleidigt, daß sie sich als erste große opponierende Gruppe im ZK mit den progressiven Kräften in den böhmischen Ländern einigen können?

      Noch einmal widerlegte Antonín Novotný selbst diese Hoffnung, als er am Neujahrstag wie gewöhnlich über den Fernsehschirm die enttäuschten Familien besuchte.

      «Ich bin überzeugt, daß dies der Beginn eines großen Prozesses der allseitigen Entfaltung der sozialistischen Gesellschaft ist und daß unser Weg richtig ist!»

      Ich schaltete ihn aus, aber sein Geist irrte höhnisch weiter durch meine Behausung.

      Wenn der Weg des ZK-Plenums weiterhin sein Weg ist, dann ist auch dieser Kreuzweg eine bloße Fiktion, dann wird unsere Krise fortdauern bis zur Katastrophe.

      Die im Januar fortgesetzte Tagung des Plenums war jedoch von der ersten Minute an unvermindert heftig. Obwohl sich Antonín Novotný hartnäckig zur Wehr setzte und sogar durch ein Ultimatum der Generale unterstützt worden sein soll, sahen sich seine Anhänger unerwartet in die Minderheit versetzt. Augenzeugen schwören, daß die Debatte von der Person Novotnýs auf die Unerläßlichkeit einer grundsätzlichen wirtschaftlichen und politischen Reform überging, die einzig und allein dem Sozialismus Sinn und Vertrauen wiederzugeben vermag. Im heutigen Kommuniqué steht dessenungeachtet:

      «Das Plenum des ZK der KPČ hat auf Grund des eigenen Wunsches Antonín Novotnýs gutgeheißen, daß er als Präsident der Republik in der Funktion des Ersten Sekretärs abgelöst wird.»

      Also kein Wort darüber, daß er unter der Verwaltung einer Polizeibürokratie ein Land mit einer tiefverwurzelten sozialistischen und demokratischen Tradition in eine Besserungsanstalt verwandelt hat. Im Gegenteil: im gleichen Atemzug, mit dem «die Gesamtkonzeption unserer auf die Entstehung einer zutiefst demokratischen und hochentwickelten sozialistischen Gesellschaft ausgerichteten Politik» hervorgehoben wird, wird ihm für jene unermüdliche Tätigkeit der Dank ausgesprochen. Dieser Gesellschaft sollen wir nun unter der Führung A. Dubčeks entgegenschreiten, von dem man hört, er habe in der Slowakei


Скачать книгу